Kritiker - die "Ausgewählten Schriften" Walter Boehlichs

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Nicht nur die Artisten unter der Zirkuskuppel sind ratlos. Auch auf der immer spärlicher besetzten Galerie schaut man sich ratlos an. Wir beginnen zu ahnen, was Walter Boehlich 199o anläßlich einer Preisempfangsrede Maurice Blanchot zitierend wusste: Die Antwort ist das Unglück der Frage.

Walter Boehlich war mir bisher als scharfer Analytiker der bundesrepublikanischen Verhältnisse bekannt. Die im letzten Jahr erschienenen "Ausgewählten Schriften" (1) lassen uns nun einen neuen, unendlich reicheren Autor kennen lernen. Gleichzeitig werden wir faszinierte Zeugen der politischen Bewusstwerdung eines Intellektuellen im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte.

Boehlich war bescheiden: Zu meinem Leben und Werdegang ist wenig zu sagen, höchstens, dass ich zweimal Glück gehabt habe, schreibt er 1996. Da ist zunächst seine "philologische Lehrzeit" bei dem großen Romanisten Ernst Robert Curtius, dessen Assistent er wird und der ihn weg von der Nationalliteratur und hin zur Weltliteratur führt. Und da ist ein 1955 erscheinender fulminanter Aufsatz zur Proustrezeption in Deutschland, versehen mit einem brillant vergifteten Lob der damaligen neuen Proustausgabe des Suhrkampverlages, worauf ihn der Verleger als Lektor engagiert.

Ein Büchermensch ist Walter Boehlich, der sich in seiner Bücherhöhle wohlfühlt, der aber trotzdem das gute Leben liebt. Literaturwissenschaftler ist er und Lektor, Übersetzer in Praxis und Theorie, großer Kritiker, Historiker, Herausgeber und politischer Autor. Seine Kritiken aus den 50er Jahren sind noch heute frisch und bereichernd, schmerzlich zeigen sie die heutigen Desiderata. Oder hat sich folgendes etwa geändert? Es kommt so gut wie nicht vor, dass bei uns ein Buch angezeigt wird, das nicht entweder deutsch geschrieben oder ins Deutsche übersetzt ist. Deutsche lest deutsch! (Kritik der Kritik, 1955).

Das Spannendste beim Studium der gesammelten Aufsätze ist jedoch zu sehen, wie Boehlich sich permanent radikalisiert - bis ins Outfit. Das Klappenumschlagsfoto zeigt uns den typischen Junggelehrten der 50er Jahre: dunkler Anzug, Fliege, versunken und durch eine dickrandige Brille auf ein Buch schauend, hinter ihm das wohlgeordnete Bücherregal. Spätere Fotos zeigen ihn mit offenem Hemdkragen - meist mit Pfeife und auffallend fragenden Augen, die durch eine fast randlose Brille in die Ferne schauen.

Doch kommt es natürlich auf den Inhalt der Schriften an. Der Band enthält repräsentative Texte, die innerhalb von 13 Themenbereichen chronologisch geordnet und am Ende mit einer kurzen Notiz zu Erscheinungsort und Kontext versehen werden. Das macht die Lektüre manchmal etwas mühselig. Überhaupt hätte ich eine rein chronologische Abfolge vorgezogen. Ein Boehlichleser ist in der Regel zur eigenen Klassifikation befähigt. Wie schreibt Boehlich in einem berühmten Text von - natürlich! - 1968? Können wir keine Kritik haben, deren Scheinautorität sich nicht länger darauf gründet, dass der Kritiker mehr gelesen hat als seine Leser? (Autodafé).

Aber was kritisiert der Kritiker Boehlich? Erstens Literatur und immer wieder Literatur. Boehlich hat einen immensen Horizont: im Sammelband werden neben Proust, de Retz, Becket, Carpentier, Llosa, Marquez ... ich zögere bei der Verbwahl: "rezensiert"?, "interpretiert"?, "kritisiert"? Immer mit ernstem philologischen Anspruch. Und immer unter dem Gebot, das besprochene Werk stets auch im Original gelesen zu haben. Für eine Besprechung, berichten die Herausgeber, hat der polyglotte Boehlich extra Jiddisch gelernt.

Zweitens kritisiert er Tradition und Kanon. Er widmet einen großen Teil seiner Energie der Wiederentdeckung der demokratischen Tradition. Es ist dies buchstäblich der rote Faden in seinem Werk: Gervinus, Jacoby, Benjamin. Damit verbunden ist die auch heute noch lesenswerte Auseinandersetzung mit dem "Kanon", mit der Rolle der Germinstik im Nationalsozialismus. Klassisch ist seine Herausgabe des Berliner Antisemitismusstreits in der Reihe "Insel".

Drittens schärft sich Boehlichs Blick auf die Produktions- und Herrschaftsbeziehungen. Immer wieder weist er auf die Arbeitsbedingungen der Übersetzer und der anderen "freien Mitarbeiter" hin. Nach seinem Weggang von Suhrkamp gehört er zu den Gründern des "Verlags der Autoren".

Viertens sind da die politischen Interventionen Boehlichs. Schon 1948 watscht er den Lukács des Goethebuchs regelrecht ab: Das Thema ist der dialektische Materialismus, nicht die Goethezeit. 1959 aber zeigt er sich begeistert von Bloch: Dies ist Marxismus..., ein Marxismus der Freiheit und Menschenwürde. 1968 erscheint dann im Kursbuch "Autodafé": Die Kritik ist tot. Welche? Die bürgerliche, die herrschende. Sie ist gestorben an sich selbst. Viele lesen damals vollkommen falsch: die Literatur ist tot.

In den folgenden Jahrzehnten schreibt Boehlich als "freier Autor" in Stern, Zeit, Konkret, DVZ und Titanic. Auch in den - wie man damals sagt - audiovisuellen Medien ist er überaus präsent. So nimmt er an der denkwürdigen Fernsehdiskussion über Kafka mit Ernst Fischer und Adorno teil.

Geradezu nostalgisch wird der politisch denkende Leser gerade angesichts der "kleineren" Texte. Die angesprochenen Probleme sind immer noch dieselben. Zum Beispiel die Frage: Was ist antisemitisch? Zwei Beiträge beziehen sich auf Fassbinder, dem J. Fest 1976 vorwirft, aufgrund seiner Kritik (auch) jüdischer Bauspekulanten antisemitisch zu sein. Diese Reaktionen sind absurd, unbillig, völlig irrational, schreibt Boehlich. Fassbinder habe, auf seine Weise sich die Mühe gegeben, ihre (der Spekulation) Personen und Figuren als Werkzeuge des Kapitalismus,als eine andere Art Opfer erscheinen zu lassen. Um dann problemorientiert fortzufahren: Geholfen hat ihnen das nichts. Warum? Er endet mit diesen (nicht nur damals) starken Sätzen: Die Deutschen müssen entdecken, dass Juden berührbar sind, die Juden müssen selbst aus ihrer sie nur scheinbar beschützenden Glasglocke heraustreten, sich berühren lassen...so traumatisiert ihre Erinnerungen an das Volk der Mörder auch immer sein mögen (Konkret 76)

Folgerichtig kritisiert er 1987 in derselben Zeitschrift Broder, der Fried des Antisemitismus zeiht: ein jüdischer Antizionist muss ihm schlimmer erscheinen als ein nichtjüdischer ... Broder will den jüdischen Juden.

Rhetorisch fragt Boehlich 1982 in der Titanic: Heißt gegen Begin zu schreien automatisch, gegen Israel und gegen die Juden zu schreien? Natürlich sei Kritik an der israelischen Regierung legitim, auch wenn man nicht Mitglied einer jüdischen Gemeinde ist ... Auch beinahe jeder Deutsche. Jedenfalls sofern er will, dass Israel bestehen bleibt und dass den Palistensern geholfen werde.

Höchst aktuell sind auch die Texte zu Vereinigung, Walser (den er kritisiert, obwohl er ihn als Autor schätzt) und der berühmten deutschen Leitkultur. Für Freitagleser interessant ist sicherlich, dass Boehlich auch in einer der "Wurzelzeitschriften" des Freitag, der DVZ, schrieb. Die Herausgeber zitieren aus einem recht traurigen Brief: ...vor 30 Jahren hätte ich nirgends anders als im merkur veröffentlichen wollen... die zeit ist mir vergällt durch raddatz, und so immer weiter, bis von den bürgerlichen fast nur noch die süddeutsche übrig geblieben ist. konkret, titanic, die deutsche volkszeitung - daran hätte ich in unseren hamburger jahren nie auch nur gedacht (27.9.81).

Das Leben ist endlich, aber ein Walter Boehlich würde dem Freitag sicher gut zu Gesicht stehen - auch als Kenner des eingangs zitierten Maurice Blanchot. Mit dem Ja der Antwort verlieren wir die Offenheit, den Reichtum und die Möglichkeit. Die Antwort ist das Unglück der Frage (Entretiens infinis).

(1) H. Peitsch/H. Thein (Hrsg.), Walter Boehlich. Die Antwort ist das Unglück der Frage. Ausgewählte Schriften. Frankfurt 2011 (S. Fischer Verlag)

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