Moos-Kunst-Rasen. Abdera an der Ruhr.

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Verhüte der Himmel, dass man euch zumuten sollte, die Abderiten zu lesen, wünscht uns Martin Christoph Wieland zu Beginn seiner "Geschichte der Abderiten", in denen er die "Stückchen" der Bewohner der Stadt Abdera beschreibt: Ihr Fehler lag bloß in den Mitteln, wodurch sie dem Übel steuern wollten.

Verhüte der Himmel, dass man euch zumuten sollte, in Abdera zu leben. Wo der Ort liegt? Abdera findet man - malerisch an einem Stausee gelegen - am Ufer der Ruhr, von wo aus das Städtchen sich zu einem Berg emporwindet, der nach einem berühmten Industriepionier benannt ist. Und dort liegt - in der Nähe des gleichnamigen Aussichtsturms (der einmal im Jahr geöffnet ist) das legendäre "Waldstadion". Hört sich vielversprechend an. Das Problem ist nur, dass die erste Mannschaft des FC Abdera seit Jahrzehnten in der Kreisklasse vor sich hin dümpelte, bis man endlich erkannte: ein Kunstrasenplatz muss her. Den hat die Nachbarstadt, und den haben auch viele Bundesligavereine. Also: Kunstrasen im Waldstadion!

Und so nahm im November dieses Jahres die Begehung des Terrains durch die Stadtväter und -mütter ihren geordneten Lauf. Zufrieden schritten sie den Aschenplatz ab, als plötzlich der Blick eines Begehers auf die den Platz umstehenden Bäume fiel. "Schatten!" rief er. "Oh nein!" schluchzte die andere. "Schatten auf dem Kunstrasen bedeutet Moos. Moos nistet sich im Kunstrasen ein. Das bedeutet Beschädigung des Kunstrasens!" erklärte der dritte. "Beschädigung bedeutet Erneuern. Erneuern bedeutet mehr Kosten!" konstatierte die vierte. "Also noch mehr Geld, das wir nicht haben!" brummte der erste, ein alter Sozialdemokrat.

Was tun? Nichts war für die Abderiten an der Ruhr einfacher: die Bäume werden einfach abgesägt. "Nicht schlimm!" beruhigten die Entscheider die anderen Abderiten. "Die neunzig Buchen und Eichen sind sowieso erst hundert Jahre alt." Ein anderer ergänzte: "Und rein forstökonomisch" - er genoss die bewundernden Blicke - "wären die Bäume sowieso in zwanzig oder dreißig Jahren fällig gewesen." Und da die Abderiten sehr entscheidungsfreudig sind, wenn ein Problem zu lösen ist, waren die deutschen Buchen und Eichen, die so manchen Sieger gesehen hatten, im Nu verschwunden. Der künftige Kunstrasen war so zu sagen moosfrei gemacht. Dass Abdera nicht in Schwaben ist, dass es also keine Revolution oder gar eine Vermittlung gegeben hat, muss nicht erwähnt werden. "Wir schaffen Nachhaltigkeit durch Kahlschlag. Dass soll uns mal einer nachmachen!" hörte man sie sagen. Ja, stolz sind sie.

Und so kamen sie. Der Kahlschlag und der Kunstrasen ohne Moos. Jahre später spielte der FC Abdera immer noch in der Kreisklasse, allerdings auf einem anderen Platz. Ohne die Bäume war es im Waldstadion zu windig geworden. Der Kunstrasen ohne Moos wurde wieder abgetragen. Aber dafür wollte man in Zeiten knapper Finanzen Windräder bauen, wofür noch weitere dreihundert Bäume weichen mussten. Eine vierspurige Zufahrtstraße wurde gebaut. Die Räder wurden errichtet, allerdings nicht in Betrieb genommen. Die Grün-Gelb-Linke Regierung hatte nämlich 2017 beschlossen, die Laufzeit der Atomkraftwerke um weitere zwanzig Jahre zu verlängern. Die Stadtväter Abderas an der Ruhr sahen ihre Chance gekommen. Sie boten der Regierung an, die aus der Nazizeit stammenden Bunker unter dem nach dem Industriepionier benannten Turm als Endlager zu benutzen. Seitdem herrscht himmlische Ruhe. Das Kreischen der Baumsägen muss man auch nicht mehr hören. Nie wieder.

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