Die Iden des März finden nicht statt

Rentenreform in Frankreich Die Rentenkämpfe gehen in die Entscheidung. Die Macronie kämpft weiter tapfer gegen das eigene Volk. Dabei hat sie einen wichtigen Verbündeten - die Kohorte der Senatoren. Und die sind mit allen politischen Wassern gewaschen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die erste Schlacht, den Kampf um die Meinung, hatten die smarten Rentenversicherungs-Vertreter der Macronie deutlich nach Punkten verloren. Der intensive Medienbeschuss der Gehirne konnte nicht verhindern, dass über 90 Prozent der aktiven Bevölkerung einfach nicht damit einverstanden sind, 2 Jahre ihres einmaligen Lebens für ein angebliches Defizit zu opfern. Die Franzosen sind diesmal wirklich „réfractaires“ (président Jupiter). Auf dem genuin politischen Feld der Ehre, der Assemblée nationale, konnten die Macronisten zumindest ihr Terrain behaupten. Schließlich hatte ihre Regierung selbst den Claim mit Hilfe eines der undemokratischen Artikels der Verfassung abgesteckt (die noch ganz andere Überraschungen bereit stellt). Mit inszenierten Tumulten und Provokationen konnten sie sogar einen (dünnen) Keil zwischen die Fraktionen der NUPES schieben. Wie erwartet, kam ihnen die Scheinopposition der Lepenisten zuhilfe. Marine Le Pen spielte ihre Rolle souverän, ... wenn sie denn anwesend war. Allerdings kam es nicht zu einer finalen Entscheidung über die Konterreform, was die France insoumise und ihre Verbündeten wiederum als kleinen Sieg interpretieren konnten. Wie auch immer. Von nun an kam es auf den Senat und die Macht der Straße an.

Senatus populi?

Beginnen wir mit den Senatoren, die auf 6 Jahre indirekt von Abgeordneten und Bürgermeistern gewählten "Notabeln". All honorable men and women. Erstere überwiegen deutlich. Das Kräfteverhältnis im Senat sprach von Anfang an für die Macronie, die sich auf die konservative Rechte verlassen konnte. Und letzterer geht die Reform nicht weit genug. Darum brachte sie mit einem Amendement die kapitaliorientierte Variante ein. Die NUPES ihrerseits versuchte durch Anträge, eine Endabstimmung zu verhindern. Allein für die Abstimmung über den berühmten Artikel 7 (Verschiebung des Renteneintrittsalters auf 64) hatte die Linke 1300 Anträge vorgesehen. Umso überraschter waren die Abgeordneten, als sie am Morgen des 8. März entdecken mussten, dass nur noch 200 auf der Tagesordnung standen. Die konservative und zentristische Mehrheit der Senatskommission für Soziales hatte den Artikel 7 so umgeschrieben, dass 1100 Amendements wegfielen. Diese Machination war natürlich „ordnungsgemäß“. Es ging ja nur darum, die "Obstruktion" der Opposition zu verhindern und die Diskussion abzukürzen (der zu diesem Behufe angewandte Art. 38 des Sentatsrèglements war zuvor nie benutzt worden). Die Linke brachte hastig Tausende „Unter-Änderungsanträge“ein, die jedoch von der Mehrheit in der Kommission nicht angenommen wurden. Die Vor- und Hinterzimmerpolitik feierte - wie immer, wenn es frömmt - fröhliche Urständ.Man konnte das erleicherte Aufatmen der Mehrheit im ehrwürdigen Saale hören.

Und dann ging es sehr schnell. Der grüne Senator Daniel Breuiller brachte es auf den Punkt :

Ihr Willen, die Diskussion in ein enges Korsett zu stecken, macht aus den Debatten eine Pantomime. Das Stück ist so schlecht, dass selbst die Schauspieler es vor dem Ende verlassen. So werde ich es auch heute Abend machen.

In der Nacht stimmte die Mehrheit des Senats der Verlängerung des Renteneintrittsalters zu, mit 201 zu 115 Stimmen. Zwei Tage später, am 10. März, hatte der Arbeitsminister Olivier Dussopt (Ex-Sozialist, gegen den eine Ermittlung wegen Vorteilsnahme im Amt läuft) wieder einen starken Auftritt. Er knickte nicht ein, sondern trumpfte auf und verkündete auf seine besondere Art: Auf der Grundlage des Artikels 48-3 der Verfassung und des Artikels 42-9 des Senatsrèglements sind von nun an alle Abänderungsanträge nicht mehr abstimmungsfähig (die bisherigen Abstimmungen sindnatürlich gültig). Das französische Publikum nahm einmal mehr mit Bewunderung oder Dégoût wahr, welch subtiles Machtinstrument die gaullistische Verfassung doch ist. Sie ermöglicht einem präsidialen Monarchen, ein unnötiges, das Leben erschwerendes (ja potentiell sogar abkürzendes) Gesetz gegen den Willen fast der gesamten Bevölkerung durchzusetzen. De Gaulle hätte vielleicht eine Volksbefragung durchgeführt. Er ist ja auch 1969 nach einem gescheiterten Referendum zurückgetreten. Die Frage, ob Macron diese Größe hätte, ist obsolet. Aber er schafft es ja auch so, ohne das Volk zu befragen. Schließlich ist er durch den Wahlsieg 2022 legitimiert. Sagt er. Sagen die Medien. Was kümmert es ihn, dass er den Posten seiner Lebensversicherung Le Pen verdankt.

Der ambitiöse Senator Bruno Retailleau (Les Républicains) zeichnete sich besonders aus. Er verzichtete auf seinen einzigen Abänderungsantrag (über die Régimes spéciaux, darunter nicht das der Senatoren, auf die eine durchschnittliche Pension von 4.400 Euro wartet) und brachte damit 182 Unter-Anträge der Opposition zu Fall. "C'est ça." So ist das, sagte der Sitzungspräsident in Richtung der empörten linken Senatoren. Er lächelte dabei. Zwei Drittel der Senatoren empfanden wohl das, was Heine so beschrieb:

Die süßeste Zufriedenheit zog sich über die Gesichter; man konnte sagen, die ganze Börse lächelte.

Parallel zur Niederschlagung der Revolte im Juni 1832 waren nämlich die Börsenkurse gestiegen.

Um es auch einmal abzukürzen: Die Mehrheit schaffte es, am Samstag, dem 11. März, einige Minuten vor Mitternacht, über das ganze Rentenprojekt abzustimmen. Nicht „Hundertprozent pro“ (wie sind ja keine Diktatur), aber mit 195 zu 112 Stimmen doch sehr deutlich. Vorher hatten die Redner der Opposition noch einmal die antidemokratischen Machenschaften der Zentristen und Konservativen kritisiert.

Die grüne Senatorin Ramonde Poncet konstatierte verbittert, dass man gegen eine Mauer angelaufen sei. Das war keine Debatte. Die Kommunistin Cathy Aporceau-Poly nannte die Kapitalisierung der Rente als wahres Motiv der Reform.

Monsieur le ministre, für Sie gibt es keine Prinzipien. Ihr Projekt gehört zur alten Welt, es ist das Projekt einer Klasse gegen die andere. Indem Sie zum Autoritarismus greifen. driften Sie in den Bonapartismus ab,

Macron habe nicht den Mut, das Volk zu befragen. Die rechten und zentristischen Abgeordneten hörten höflich und zufrieden lächelnd zu. Nein, so plebeiisch wie die LFI-Abgeordneten der Assemblée nationale sind sie nicht, die Damen und Herren Senatoren der Rechten.

A propos Prinzipien. Zu einem guten Drama gehört die Steigerung der Spannung. In der nächsten Woche wird – wahrscheinlich - die parlamentarische Entscheidung fallen. Am Mittwoch, dem 15. März (den Iden) trifft die gemischte paritätische Kommission zusammen, hinter geschlossenen Türen. Die 14 Abgeordneten sind mehrheitlich für die Reform, ein Kompromiss ist also wahrscheinlich. In diesem Fall geht der Text am Donnerstag an den Senat und danach an die NV. Allerdings ist unsicher, ob er dort eine Mehrheit finden wird. 287 Pro-Stimmen werden benötigt. Laut BFMTV-Nachfrage sind sich erst 188 Abgeordnete sicher, für die Macron-Rente zu stimmen. (es haben aber noch nicht alle Deputierten geantwortet). Deshalb könnte die Regierung den Artikel 49.3 anwenden, also das Ende jeder Debatte und die Annahme der Rentenform dekretieren. Damit würde sie jedoch das Risiko eines erfolgreichen Misstrauensantrags eingehen. Macron müsste eine neue Regierung berufen oder gar das Parlament auflösen. Würde in der Kommission kein Kompromiss erreicht, gäbe es eine neue Lesung in der NV, dann im Senat. Sicher ist nur, dass die Debatte zum 26. März Mitternacht beendet sein muss. Ansonsten kann die Regierung die Reform dekretieren. Wenn sie es denn wagen würde. Denn da gibt es noch die Akteure der „Straße“.

La rue

Bisher sind die Streiks und Demonstrationen ein Erfolg. Insgesamt waren mehrere Millionen auf der Straße, alle größeren Branchen beteiligten sich, selbst traditionell reformistische Gewerkschaften unterstützten die Streiks und die Blockaden. Die großen Demonstrationen am Wochenende waren etwas weniger frequentiert („nur“ 200.000 bis 300.000 Demonstranten in Paris). Damit trat sdas einm, was die bürgerlichen Medien stets bei sozialen Bewegungen zu wittern suchen: das „Essoufflement“, die Frage, ob ihnen der Atem ausgeht. Man könnte es auch als Pause interpretieren, denn die nächste Woche könnte „heiß“ werden. Eisenbahner, Energiearbeiter, Müllwerker, Transportarbeiter, ja sogar Lehrer werden das Land stillzulegen suchen. Die Macronie und ihre Medien werden in „Pädagogik“ machen: Wir sind natürlich für das Streikrecht, aber es gibt kein Recht auf Blockaden. Und da ist noch etwas, eher Beunruhigendes. Bei der großen Manifestation vom Samstag griffen die Hüter der Ordnung ungewöhnlich hart durch (Einsatz von Pfeffergas, Schlagstöcken, Fußtritten). uch Pressevertreter traf es - buchstäblich. Ein besonders prächtiges Exemplar der gepanzerten Ordnungshüter reagierte auf den Hinweis, dass er einen Journalisten schlage, mit einem kurzen "Schnauze!" Das alles erinnert an das Vorgehen gegen die Gilets jaunes, deren „Essoufflement“ auch der Brutalität der Polizei zu „verdanken“ war.

Und Macron? Sicher verfolgt er – vom Olympe des Président aus – das Geschehen. Er ist vielleicht sogar zufrieden. Aber fasst er wirklich, was in Frankreich geschieht? Und begreift er, wohin seine Sozialpolitik das Land führt? Was wäre, wenn Le Pen das Duell gegen seinen neoliberalen Nachfolger gewinnt? Aber in einem kann er sicher sein: die Mehrheit der Senatoren versteht ihn. Die Iden des März braucht dieser Caesar nicht zu fürchten. Wahrlich nicht.

Macrons Arbeitsminister Olivier Dussopt ist sich jedenfalls sicher. Im Fernsehen sagte er gestern voraus:

Vor Ende 2023 haben wir die Reform in Gang gesetzt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden