Russenfriedhof

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Alte Friedhöfe können in bestimmten Momenten von stiller Schönheit sein. Dieser gehört dazu. Über hundert Jahre ist er alt und mit mächtigen Platanen bewachsen. Die untergehende Märzsonne bestrahlt einen klaren blauen Himmel. Man könnte meinen, ein Friedhof in der Provence.

Ich gehe durch das mit Flechten übersäte Tor und stehe etwas ratlos vor einer der vielen Abzweigungen. Zwei Männer in Gärtnerkleidung laden Pflanzenreste auf einen Anhängerwagen. Sie sehen mir in meiner Hilflosigkeit zu.

Ich nähere mich ihnen und stelle meine Frage.

"Das Russengrab meinen Sie wohl. Ja sicher, das ist da unten. Wenn'Se - ach kommen'Se doch einfach mit. Ich zeige es Ihnen. Da ist ja auch ein Stein." Der junge Mann, längere blonde Haare, Schnauzer, eilt weitschrittig voran.

"Das Russengrab haben wir vor'n paar Jahren mit Immergrün bepflanzt. Vorher war'n ja Blumen drauf. Die Kriegsgräberfürsorge..." Er zuckt die Schultern und schaut mich mit dem "Wir wissen ja"-Blick an. "Zu teuer. So, da sind wir. Da ist auch der Stein."

Der Gärtner liest vor und zeigt dabei auf die eingemeißelten Zahlen und Buchstaben:

"Hier liegen 1 Deutscher, 3 Holländer, 1 Jugoslawe und 123 Sowjetbürger. 1939-1945".

Ein anonymes Massengrab der frühen fünfziger Jahre. Fünf dicht mit handhohem Grün bepflanzte Rechtecke von etwa acht Quadratmetern, dazwischen kaum begehbare Pfade aus Sand. Am unteren Ende des Friedhofes. Dahinter ein steiler Abhang. Durch die noch laublosen Bäume sieht man die Ruine des stillgelegten Hochofens, für den die hier Begrabenen Sklavenarbeit leisteten.

Der junge Mann verabschiedet sich freundlich.

"Wenn sie mal zum Judenfriedhof wollen, sagen Sie Bescheid. Wir geben Ihnen dann den Schlüssel. Ist besser, wenn der abgeschlossen bleibt."

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