Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verfehlte bei der Präsidentenwahl knapp die 50 Prozent-Mehrheit und muss sich am 28. Mai einer Stichwahl stellen. Seine Regierungspartei AKP sackte um sieben Prozentpunkte ab. Dass in den Reihen der Opposition dennoch Enttäuschung und Resignation herrscht, liegt an dem Optimismus vor der Wahl, die schon zwei Jahrzehnte dauernde Regentschaft Erdoğans beenden und einen grundlegenden Politikwechsel herbeiführen zu können. In den meisten Wahlumfragen lag der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu vorn, Präsident Erdoğan schien sein Kredit verspielt zu haben.
Mehr noch: Die innenpolitische Situation hätte für den Regierungsblock ungünstiger nicht sein können. Die türkische Wirtschaft schwächelte, der anhaltende Währungsverfall hatte die Energiepreise angefeuert, die Inflation lag bei 50 Prozent, die Arbeitslosigkeit war zweistellig und der Wohlstandsverlust war in allen Schichten spürbar. Zudem hatte das verheerende Erdbeben vom Februar unermessliches Leid gebracht, Wohnsiedlungen zerstört und Hunderttausende über Nacht zu Obdachlosen gemacht. Das staatliche Katastrophenmanagement war alles andere effektiv.
Trotz dieser wirtschaftlichen Misere und Führungsschwäche der Regierung konnte sich die Opposition für ihren Spitzenkandidaten Kılıçdaroğlu keine günstige Ausgangslage für die Stichwahl schaffen. Was sind die Gründe dafür?
Die Opposition war nicht glaubhaft genug
Erdoğan setzte auf eine Doppelstrategie: Er verwies auf bereits realisierte Infrastrukturprojekte und kündigte weitere Großprojekte an. Gleichzeitig attackiert er die Opposition – diese würde im Falle eines Wahlsiegs die vitalen nationalen Interessen verraten, religiöse Befindlichkeiten breiter Bevölkerungsschichten missachten und die Terrorbekämpfung aussetzen. Erdoğans Beleidigungen, Diffamierungen und Manipulationen haben in den Wahlkampfgefechten verfangen.
Der Oppositionsblock wiederum konnte nicht glaubhaft machen, im Falle eines Regierungswechsels Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten. Verstimmungen und Differenzen zwischen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu und Meral Akşener, der Vorsitzenden der Guten Partei, haben Zweifel hinsichtlich der Geschlossenheit des Wahlbündnisses aufkommen lassen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kılıçdaroğlu im zweiten Wahlgang Erdoğan schlägt. Das erfordert jedoch ein sehr hohes Maß an Mobilisierung, Einigkeit und Geschick – fraglich ist nur, ob die Opposition noch die Kraft dazu hat. Entscheidend wird sein, inwieweit die konservativ-islamischen Juniorparteien der Allianz der Nation beim zweiten Gang mitziehen – schließlich haben sie mit dem Einzug ins Parlament ihr Ziel erreicht.
Recep Tayyip Erdoğan
Kemal Kılıçdaroğlu müsste die Wähler von Muharrem İnce und Sinan Oğan im ersten Wahlgang und Nichtwähler überzeugen. Die konservativ-nationalistischen Wähler Zentralanatoliens könnte er nur mit einer nationalistischen Rhetorik ansprechen, womit er kurdische Wähler abschrecken würde.
Erdoğan befindet sich in einer privilegierten Position. Die Mehrheit für seine Regierungsallianz im Parlament wird er zu seinem Vorteil nutzen.
Ein Sieg für Erdoğan ist wahrscheinlich, könnte sich jedoch als ein Pyrrhussieg erweisen. Es ist zu befürchten, dass das Land vollends in die Autokratie abgleitet und der entfachte Nationalismus das Verhältnis zum Westen weiter belastet. Das wiederum würde ausländische Investoren und Anleger abschrecken, auf die Erdoğan angewiesen ist, um die Wirtschaft auf Kurs zu bringen und das Erdbebengebiet wieder aufzubauen. Denn die türkische Wirtschaft liegt am Boden, die Devisenreserven sind nahezu aufgebraucht, die Staatsausgaben sind enorm ausgeweitet. Kehrt er zu einer orthodoxen Wirtschaftspolitik mit strikter Haushaltsdisziplin und Zinserhöhung zurück, wird er möglicherweise sein Klientelnetzwerk und Anhängerschaft verlieren. Der Türkei stehen turbulente Zeiten bevor.
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