Griechenland ist abgebrannt

Lösungsvorschlag Die "griechische Krise" ist eine der Wirtschaft. Da hilft es nicht, die griechische Bevölkerung abzustrafen und die Untaten der Eliten der vergangenen 30 Jahre zu rächen.

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"Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle
Bewahrt die kindlich reine Seele!
Ihm dürfen wir nicht rächend nahn,
Er wandelt frei des Lebens Bahn.
Doch wehe, wehe, wer verstohlen
Des Mordes schwere Tat vollbracht,
Wir heften uns an seine Sohlen,
Das furchtbare Geschlecht der Nacht!

Und glaubt er fliehend zu entspringen,
Geflügelt sind wir da, die Schlingen
Ihm werfend um den flüchtgen Fuß,
Dass er zu Boden fallen muss.
So jagen wir ihn ohn Ermatten,
Versöhnen kann uns keine Reu,
Ihn fort und fort bis zu den Schatten,
Und geben ihn auch dort nicht frei."

aus: Friedrich Schiller, der Chor der Eumeniden aus der Ballade "Die Kraniche des Ibykus", 1797

Die griechische Götterwelt zeichnet sich im Gegensatz zu den drei "großen Religionen", dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, dadurch aus, dass sie ihren Gottheiten menschliche Wesensmerkmale verpasst und ihnen zwar Macht über die Menschen aber keine Unfehlbarkeit zuspricht. Und so handeln die griechischen Götter zuweilen auch aus niederen Motiven, stellen einander und den Menschen üble Fallen und benutzen die irdischen Kreaturen als Spielfiguren im Geflecht ihrer Intrigen. Für alle denkbaren Aufgaben im Leben der Götter und der Menschen hatten die alten Griechen ihre Spezialgottheiten, so auch für das Rächen schwerer Verbrechen. Mit dieser Aufgabe waren die Eumeniden betraut (von Homer auch Erinnyen genannt), die mit dem Schwert der Rache Untaten von besonderer Bösartigkeit sühnten. Das übelste Kapitalverbrechen, das man sich seinerzeit vorstellte, war der Mord an von der Gemeinschaft geachteten Persönlichkeiten und nahen Verwandten. Der Sage nach, die Friedrich Schiller zu seiner Ballade inspirierte, war Ibykus ein bekannter Seefahrer und Dichter, der hoch geschätzt wurde und einem Raubmord zum Opfer fiel. Diesen Mord mussten die Eumeniden rächen. Das Gedicht endet mit den Versen (nachdem sich die Mörder durch den Ausruf: "Sieh da, sieh da, Timotheus, / Die Kraniche des Ibykus!" selbst verraten hatten): "Man reißt und schleppt sie vor den Richter, / Die Szene wird zum Tribunal, / Und es gestehn die Bösewichter, / Getroffen von der Rache Strahl!" – Selbstverständlich sind direkte Vergleiche der Verhältnisse im antiken Griechenland mit denen des heutigen nicht zulässig, da die Geschichte der zweieinhalb Jahrtausende, die seither verstrichen sind, inzwischen ganz andere Umgebungsbedingungen schuf. Was aber sehr viele Mythen und Sagen der Antike auch in unseren Tagen "anwendbar" macht, ist die Beschreibung menschlicher Wesensart, des typisch Menschlichen, das sich seither kaum geändert hat und insofern erlaubt, aus bestimmten Ereignissen und Zuständen auf eine zu erwartende Reaktion der Zeitgenossen zu schließen, egal in welcher Epoche sie lebten oder leben. Denn die Mutation, die nachhaltige Änderung genetischer Strukturen, ist eine Schnecke, die in ein paar Jahrtausenden kaum vorankommt. Folglich, wie Hoimar von Ditfurth das beschrieb, fuhrwerken wir mit dem Gehirn des Neandertalers in der Welt der Technik von heute umher – "wir sind, um es einmal so zu formulieren, eigentlich die Neandertaler von morgen".

Das Bild drängt sich auf, wenn wir dieser Tage nach Griechenland blicken und bei der Beurteilung des Krisenmanagements erkennen, wie nah wir der Welt der antiken Götter doch noch stehen – wir haben anscheinend zweieinhalbtausend Jahre nichts dazugelernt. Es fällt auf, dass sich die kaum noch Diskussion zu nennende Auseinandersetzung vorrangig um die Frage dreht, wer die Schuld an der verfahrenen Situation trägt und wer daher abzustrafen ist für sein frevelhaftes Verhalten. Als Strafende haben sich die sogenannten Institutionen – vorher nicht weniger sinnentleert Troika genannt – selbst ins Richteramt gehoben und bestimmen nun den Fortgang des Verfahrens. Das versetzt sie in die komfortable Lage, die Schuld an dem Dilemma (man mag das auch Tragödie nennen) komplett nach Griechenland zu verlegen, was zu dem in unserer Öffentlichkeit entstandenen Eindruck geführt hat, die derzeitig seit gerade einmal fünf Monaten amtierende Regierung trage die Alleinverantwortung. Denn man kann nach dem Regierungswechsel der eigentlichen "Verursacher", der korrupten Eliten, nicht mehr recht habhaft werden, da sie abgewählt wurden und sich im Gestrüpp ihres Korruptionssumpfes versteckt haben. Die hatten aber mehr als 30 Jahre lang Macht und vor allem Pfründe zwischen zwei Cliquen aufgeteilt und die Wirtschaft ins Desaster gestoßen. Aber es gibt für die Verfechter der Vorschläge der "Institutionen" noch einen weiteren "guten" Grund, die Kleptokraten der Epoche nach der Militärdiktatur zu verschonen: Diese Leute wurden nämlich von ihren "Brüdern im Geiste", den anderen europäischen Christ- und Sozialdemokraten, tatkräftig unterstützt, und zwar auf Regierungs- und auf Parteiebene. Untersuchte man jetzt sowohl die Umstände des Beitritts in die EWG (heute EU) im Jahre 1981 als auch diejenigen, die 2001 den Beitritt in die Euro-Zone ermöglichten, würde zum Vorschein kommen, dass die europäischen Partner Griechenlands sehr genau um die Schwächen des griechischen Staatswesens wussten und eine Aufnahme sowohl in die EU als später auch in die Euro-Zone gar nicht zu verantworten war. Heute wird stattdessen mit moralisch gespitztem Zeigefinger darauf verwiesen, dass "die Griechen" (es handelte sich aber lediglich um eine Clique Machthaber, die ihr Volk vor den Beitritten ganz bewusst nicht befragt hatten, da seinerzeit in der Bevölkerung eine eher ablehnende Haltung erkennbar war), bei der Darstellung ihrer Lage "gemogelt" hätten und man deshalb scharf mit ihnen ins Gericht gehen müsse. Eine Ursachenforschung, die diesen Namen verdient, würde jedoch ans Licht bringen, dass eine kaum endende Reihe von Fehlern auf Seiten der EU und auf Seiten der griechischen Regierungen das Unheil "tragisch" unaufhaltsam werden ließ. Doch die eigentlich Hauptverantwortlichen, die nämlich entschieden hatten, dass Griechenland trotzdem – wider besseres Wissen – aufgenommen wurde, waschen ihre schmutzigen Hände in Unschuld ("Wohl dem der frei von Schuld und Fehle / Bewahrt die kindlich reine Seele!").

Die schwersten Vergehen nannte man ursprünglich Kapitalverbrechen, die mit dem Tode bestraft wurden, was über viele Epochen hinweg bedeutete, dass die Delinquenten enthauptet wurden. Aus dem lateinischen capitalis, das Haupt betreffend, entstand nämlich die Bedeutung den Kopf kostend. – Der im wirtschaftlichen Wortsinne benutzte Begriff Kapital hat zwar den gleichen sprachlichen Ursprung, meint aber die summa capitalis, die Hauptsumme, und zwar in Geld ausgedrückt. Der gemeinsame Wortstamm verführt jedoch förmlich zu einer Entsprechung, da eine Missachtung der Regeln des Kapitalismus heute als ein Schwerverbrechen verstanden wird und die rächenden Eumeniden auf den Plan ruft, was den Straftäter eigentlich den Kopf kosten sollte; denn das Vergehen am Gelde ist auch ein Kapitalverbrechen. – Beobachtet man die Art, wie "die Griechen" von den Regierungen und Medien der "Geberländer" behandelt werden, dann entsteht der Eindruck, es sollen Schwerverbrecher ihrer "gerechten Strafe" zugeführt werden, was zwar in verhüllender Form vorgetragen wird, doch dadurch eher noch erniedrigender wirkt. Denn die Bestrafung kommt als Rettung daher, indem die "Geber" den Griechen erklären, sie wollten sie aus der selbst verschuldeten Misere befreien und nur zu ihrem Besten dafür sorgen, dass die nötigen Reformen erfolgen. Art und Umfang der Reformen wiederum werden selbstverständlich von denen festgelegt, die sich in der Rolle des Strafrichters sehen, der die Untaten der Kapitalverbrecher zu sühnen hat. Und entsprechend der antiken Sagenwelt versammelt sich das Volk der Geber Beifall spendend am Ort der Bestrafung in Brüssel – wie in der griechischen Tragödie als Chor auftretend –, wo die "Bösewichter" schließlich ihre Schuld gestehen, "getroffen von der Rache Strahl".

Unter den gegebenen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die derzeitige griechische Regierung einigermaßen hilflos ist und kopflos handelt, hat sie doch ihre Wahl der schlechten Stimmung im Lande zu verdanken, die Ergebnis der sich allmählich durchsetzenden richtigen Feststellung war, eine Clique von Kleptomanen, ja Raubmördern, habe sich alle Vermögenswerte im Lande unter den Nagel gerissen und sei bei ihrem Beutezug von den "europäischen Partnern" unterstützt worden. Dass man den "einfachen Leuten" ein Leben in einer rechtlichen Grauzone zugestand, war aus Sicht der Machthaber nur konsequent, da die eigene Raffgier unter diesen Umständen von den "einfachen Leuten" eher geduldet wird. Das funktionierte über drei Dekaden "gut" und stellt im Grunde eine Art von Bestechung der Bürger dar, die zu Lasten der Gemeinschaft ging – der Staatskasse nämlich. Und die Bevölkerung weiß genau, dass die heute Regierenden dafür nicht verantwortlich sind, weshalb man ihnen eigentlich Zeit zum Nachdenken über die erforderlichen und durchführbaren Schritte zur Korrektur der Verhältnisse gewähren möchte. Andererseits müssen die Griechen beobachten, wie die "Scharfrichter" in Brüssel die neue Regierung in die Haftung nehmen, indem sie ihr die Verantwortung für die Machenschaften der vergangenen dreißig Jahre zuordnen. Das mag im formalen Sinne "rechtens" sein, da jede Regierung die Rechtsnachfolge ihrer Vorgänger antritt, solange sie nicht, wie im Falle einer Revolution, erklärt, sie fühle sich an die Verträge der Vorgänger nicht gebunden. Sie könnte das aber nur im Ganzen tun und nicht etwa in der Weise, dass sie einzelne Rechtsverhältnisse anerkennt, andere aber nicht. Die unter dem Parteisammelsurium Syriza gewählte Regierung des Ministerpräsidenten Tsipras befindet sich seit ihrer Inthronisierung folglich in einem Dilemma, dem sie ohne Hilfe der europäischen "Partner" in EU und Euro-Raum nicht entrinnen kann. Sie soll nämlich (was von den anderen Euro-Ländern, der EU-Bürokratie und dem Internationalen Währungsfonds als "Hilfe" bezeichnet wird) die mit der Vorgängerregierung abgeschlossenen Verträge erfüllen, wobei das "Hilfsangebot" darin bestand, dass man der neuen Regierung fünf Monate Frist gewährte, während der sie die Umsetzung der in den Verträgen festgehaltenen Verpflichtungen bewerkstelligen sollte. Diese "Hilfe" kann aber nur als ein zynisch verpacktes Mittel gesehen werden, der längst beabsichtigten Bestrafung der Griechen den Anschein zu geben, es seien schließlich Tsipras und seine Mannen, die die Katastrophe hervorriefen. Man selbst habe ja alles Mögliche und mehr getan, um Schlimmes zu verhindern. Doch jedem, der sich mit der Lage in Griechenland auseinandersetzte, musste schon im Februar klar sein, dass diese Methode in die Katastrophe führt, da von den Syriza-Leuten etwas verlangt wurde, was zu erfüllen sie gar nicht in der Lage waren. Man sollte sich eines Umstandes stets bewusst sein: Diese "Linken" wurden nur deshalb gewählt, weil sie versprochen hatten, die "Knebelverträge" zu modifizieren und so den Griechen ausreichend Zeit zu verschaffen, sich mit den Reformen für eine andere Lebensweise als die der korrupten Cliquenwirtschaft zu beschäftigen. Von den Syriza-Leuten zu fordern, sie sollten von der zentralen Zielsetzung ihrer Regierung abrücken, heißt, sie vor die Wahl zwischen dem Tod am Strang und dem durch Enthauptung zu stellen; denn entweder jagt sie das Volk davon, oder die Macht der "Geldgeber" zwingt sie in die Knie, wonach es derzeit aussieht.

Wenn die griechische Regierung jetzt versucht, durch einen Volksentscheid feststellen zu lassen, ob sie, sollte sie die Auflagen der "Institutionen" erfüllen müssen, noch das Mandat der Bevölkerung hat, dann ist das nicht ein Ausdruck von Feigheit, wie es in einigen Kommentaren zu hören und zu lesen war (Vornan steht da mal wieder die ohnehin tendenziell chauvinistische Springer-Presse, deren Welt-online Dienst am 27. Juni ihren Ressortleiter Wirtschaft, Finanzen, Immobilien Olaf Gersemann unter der Überschrift "Wie Alexis Tsipras sich als Feigling entlarvt" schreiben ließ: "Der griechische Ministerpräsident will sein Volk über das Sparprogramm der Troika abstimmen lassen. Und ihm damit die Verantwortung zuschieben, die er selbst übernehmen müsste. Das ist unerhört!"), sondern es handelt sich bei dem Referendum um eine Art Vertrauensfrage. Tsipras benötigt, sollte er von seinem Hauptwahlversprechen abrücken, dafür die Zustimmung der Wähler, da diese neue Situation seinem Regierungsauftrag sozusagen die Geschäftsgrundlage entzieht. Das ist in demokratisch organisierten Staaten ein der Lage angemessenes Verfahren, und es wäre verantwortungslos, die griechische Bevölkerung durch einen offensichtlichen Wahlbetrug zu entmündigen! – Den Regierenden in Athen wird von deutschen Politikern und Journalisten auch vorgeworfen, sie stellten sich dem Referendum nur, um so ihre Macht zu erhalten. Diese Position entspricht ziemlich exakt der desjenigen, der im Glashaus sitzt und Steine wirft; denn welcher Parteipolitiker wo immer in der Welt tut nicht alles erdenklich Mögliche, um sich an der Macht zu halten. Da können wir den ja noch "Newcomern" im griechischen parteipolitischen Gerangel sogar viel eher zutrauen, dass sie ihre politischen Ziele und nicht nur den Machterhalt in den Vordergrund ihrer Bestrebungen rücken. Doch auch solche Vorwürfe fügen sich ein in das allgemeine Blasen zur Jagd auf die regierende Syriza, die vom europäischen Establishment von Beginn an als eine Horde von Schmuddelkindern betrachtet wurde und die man schnellstmöglich wieder vom Thron stürzen müsse. Selbstverständlich war zu erwarten, dass die eiligst zusammengewürfelte Koalition in Athen, allein gelassen wie sie sich fand, kein schlüssiges Konzept entwickeln konnte (schon gar nicht binnen fünf Monaten), was einerseits die Forderungen der Geldgeber erfüllte und andererseits eine Lösung für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Griechenlands ermöglicht. Zur Beschreibung dieser Aufgabe bietet sich erneut ein Mythos aus der griechischen Sagenwelt an: Sisyphos, von den Göttern bestraft, muss auf ewig einen Stein den Berg hinauf schleppen, der ihm kurz vor dem Gipfel stets entgleitet und wieder hinunterrollt. Die jetzt fast weinerlich vorgetragenen Bekundungen der EU-Größen in Brüssel, sie seien nur im Sinne des griechischen Volkes unterwegs, und die linkischen Bemühungen, im Kampf um Stimmen für die Annahme der Bedingungen der "Institutionen" in Griechenland mitzumischen, wirken einigermaßen lächerlich; doch es handelt sich um eine verdammt ernste Angelegenheit.

Es wird nämlich allerhöchste Zeit, sich mit der einzig wichtigen Frage im Hinblick auf die "griechische Krise" zu befassen, der nämlich, was kann, ja was muss jetzt geschehen, damit wir nicht erleben, wie uns die schönen europäischen Institutionen ins Chaos stürzen. Auch wenn wir ein vernünftiges Krisenmanagement schon deshalb kaum erwarten dürfen, weil die "Spitzenpolitiker" in Brüssel während der bisherigen Versuche, die Krise zu meistern, grandios gescheitert sind, müssen wir uns dennoch bemühen, wenigstens einen Weckruf zu starten, um die Regierenden in den "Geberländern" wachzurütteln, damit sie nun im Angesicht der Katastrophe möglicherweise doch noch zur Besinnung kommen. Der kurz vor Ablauf der Frist zum Einlenken der Griechen unternommene Versuch, mit ein paar Milliarden Euro das "Hilfspaket" aufzuwerten und es dadurch schmackhafter zu machen, zeugt allerdings weniger von Einsicht als von furchterregender Unkenntnis der Lage; oder er ist Teil des teuflischen Plans, die Schuld der undankbaren Regierung des Herrn Tsipras öffentlich zur Schau zu stellen. Denn dann wird sich niemand daran stoßen, wenn die Eumeniden ihr Schwert der Rache zücken. – Griechenland wurde, muss man immer wieder betonen, im und nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute als Spielball der Mächte in Ost und West behandelt und hat bisher keine Gelegenheit gefunden, einen wirksamen Erholungsplan für seine Wirtschaft umzusetzen. In der ZEITBREMSE weist der Artikel "Griechische Sparpflicht" vom 31. Januar dieses Jahres auf die besondere Lage der Griechen hin. Weil das dort Vorgetragene weiterhin aktuell ist und Beachtung finden sollte, sei hier folgendes daraus zitiert:

"Die Geschichte Griechenlands verlief nach dem Krieg, ganz im Gegensatz zu der in der Bundesrepublik, wenig erquicklich. Der Versuch, eine Demokratie einzuführen, mündete in einen Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten, wobei die Nationalisten von den USA und Großbritannien unterstützt wurden und die Kommunisten von Jugoslawien und der UdSSR. Die Hilfe der UdSSR hielt sich aber in engen Grenzen, weil die Russen einem 1944 zwischen Stalin und Churchill geschlossenen Abkommen Rechnung tragen wollten, das vorsah, Griechenland im Einflussbereich Großbritanniens zu halten. Folgerichtig wurde Griechenland 1952 in die NATO aufgenommen und stand unter besonderer Beobachtung der USA. Die nur sehr oberflächlich wirkende Demokratisierung stärkte die radikalen Parteien und führte schließlich dazu, dass bei Parlamentswahlen 1967 ein Sieg der 'Vereinigung der Demokratischen Linken' zu erwarten war, einer stark von kommunistischen Ideologen unterwanderten Organisation. Das provozierte eine Gruppe von Obristen, mithilfe der CIA einen Militärputsch zu inszenieren, der zu einer Militärdiktatur führte, die bis 1974 die Macht ausübte und mit für Militärs üblicher Brutalität alle oppositionellen Kräfte bekämpfte. Besonders grausam ging man mit denen um, die als 'links' eingestellt galten. Das Regime konnte sich dabei stets der Unterstützung der USA und Westeuropas sicher sein. Allerdings gelang es den Obristen nicht, die Bevölkerung hinter sich zu scharen und die im Untergrund wirkenden Parteien ganz auszuschalten. Ein Aufstand Athener Studenten im Jahre 1973 und der 1974 gescheiterte Versuch, die Insel Zypern vollständig an Griechenland zu binden, sorgten schließlich für den Sturz des Regimes und ermöglichten die Einführung einer neuen parlamentarisch-demokratischen Verfassung. Der Westen strafte Griechenland dann wegen seiner vermeintlichen Linkslastigkeit ab, indem man ihm von 1974 bis 1980 die Mitwirkung in der militärischen Organisation der NATO versagte (allerdings maßgeblich auf Drängen der Türkei). 1981 trat Griechenland der EWG bei und konnte sich wirtschaftlich ein wenig erholen. Allerdings hatte sich bereits seit 1974 ein Netz aus korrumpierten Parteifunktionären herausgebildet, die alle öffentlichen Angelegenheiten ihrem privaten Nutzen unterwarfen und bis heute die vollständige Erholung der Gesellschaft von den Übeln der Kriegs- und Nachkriegszeit verhinderten. Seit dieser Zeit wurde der Verwaltungsapparat stetig aufgeblasen, da man die 'Netzwerker' der beiden staatstragenden Parteien versorgen musste. Außerdem ließ man den 'Wirtschaftsbossen"'großen Freiraum, damit sie das mafiaartige Netz der Parteifunktionäre unterstützten. Dieses System, das ja nicht als Geheimorganisation wirkte, sondern seine Machenschaften ganz offen zur Schau trug, wurde aus 'strategischen' Gründen von seinen Verbündeten in NATO und EU gestützt, was jedem 'einfachen' Griechen, der nur die Brosamen von der Herren Tische auflesen durfte, bekannt war. Eine heute besonders nachteilig wirkende Folge davon ist, dass die griechische Gesellschaft von tiefstem Misstrauen gegenüber allen behördlichen Institutionen geprägt ist und dass sie auf jede Einwirkung von außerhalb Griechenlands fast allergisch abwehrend reagiert. Dafür müssen wir aber volles Verständnis aufbringen, tragen wir doch ein gerüttelt Maß Mitverantwortung auch daran."

Die jüngste Geschichte Griechenlands müssen wir immer "mitdenken", wenn wir der Frage nachgehen, welche Maßnahmen erforderlich sind, damit erfolgreich "reformiert" werden kann, was in der griechischen Gesellschaft über Jahrzehnte schiefgelaufen ist. – Vielleicht hilft es, sich vorzustellen, wie die Eingliederung Griechenlands sowohl in die EU als auch in die europäische Währungsgemeinschaft hätte vorbereitet werden müssen, damit das Land danach eine "Aufnahmeprüfung" bestehen konnte. Denn heute unterscheiden sich die Verhältnisse in Griechenland nur unwesentlich von denen vor 2001, ja man mag sogar davon sprechen, dass Vieles noch schlimmer wurde statt besser. Besonders jetzt, wo alles andere als Schuldzuweisungen von Bedeutung ist, sollten wir, was seinerzeit versäumt wurde, zunächst eine nüchterne Bestandsaufnahme vornehmen, danach die Schwachstellen des Staates Griechenland offenlegen und schließlich überlegen, wie wir helfen können, damit die griechische Wirtschaft wieder zu Kräften kommt. Entscheidend für ein erfolgreiches Eingreifen ist es, anzuerkennen, dass wir übrigen Europäer ein gerüttelt Maß Mitverantwortung tragen und dass Griechenland in der Euro-Zone und im Verbund der EU nicht den erforderlichen Spielraum hat, um den Prozess der Gesundung einzuleiten. Denn der Euro unterstellt das gesamte Finanzwesen den Regeln der EZB, und die EU verlangt die Einhaltung von Rahmenbedingungen, die Griechenland im derzeitigen Zustand seiner Wirtschaft nicht verkraftet. Da sind besonders die Wettbewerbsregeln der EU zu nennen, die die Griechen ungeschützt der geballten Konkurrenz aus dem übrigen Europa aussetzen. Griechenland braucht eine "Verschnaufpause", während der langsam Veränderungen vorgenommen und auch zukünftig denkbare Fehlentwicklungen korrigiert werden können. Das bedeutet, die ersten beiden Schritte, die es zu gehen gilt, sind das Verlassen der Währungsgemeinschaft und der Austritt aus der EU. Wir "nichtgriechischen" Europäer sollten daher Vorschläge erarbeiten, die wir der griechischen Regierung (nach dem Referendum möglicherweise einer anderen) andienen mit der Aufforderung, sie von der Bevölkerung "absegnen" zu lassen. Denn ein ohne Mitwirkung der Bevölkerung in den Hinterzimmern der Geheimdiplomatie ausgekungeltes Projekt wird nicht erfolgreich umzusetzen sein. Wir haben also so zu handeln, als wäre Griechenland kein Mitglied der EU und der Euro-Zone und beantragte die Mitgliedschaft, wofür wir Bedingungen stellen und gleichzeitig unsere Hilfe zum Bestehen der "Aufnahmeprüfung" anbieten. Dazu sind grob skizziert folgende Vorschläge denkbar:

Erstens:
Um eine wirtschaftliche Kräftigung überhaupt zu ermöglichen, muss Griechenland über eine eigene Währung verfügen, die es dem Land gestattet, eigenständige geldpolitische Entscheidungen zu treffen; und es muss von der Last der Schuldentilgung gegenüber den "Gebern" weitgehend befreit sein. Das heißt, mit dem Austritt aus dem Euro-Raum ist zu ermitteln, in welchem Umfang Kredite unter realistischer Annahme ökonomischer Entwicklung zurückgezahlt werden können. Folglich muss der Teil der Schulden, der bei vernünftiger Einschätzung der zukünftigen Überschüsse aus Steuereinnahmen nicht zu tilgen ist, gestrichen werden; die "Geber" müssen diese Summe abschreiben. Für denjenigen Teil der Kredite, die nach aktueller Einschätzung, aber auf längere Fristen gestreckt, zurückgezahlt werden können, muss ein Tilgungsplan erstellt werden, der an die tatsächlich eintretende wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt ist, also stets der zukünftigen Lage angepasst wird. Die Zinsen müssen selbstverständlich möglichst "moderat" gestaltet sein. Da inzwischen ohnehin die Steuerzahler in der Euro-Zone für etwaige Zahlungsausfälle haften, stehen sie vor der Alternative, solch eine Lösung zu akzeptieren oder sämtliche Kredite mit ihren Haushaltsmitteln auszugleichen (für direkt gegebene Darlehen und für Garantieübernahmen), sodass auch aus rein pragmatischen Gründen die Zustimmung zu Umschuldungen und Schuldenschnitt die bessere Entscheidung ist.

Zweitens:
Die Wirtschaftskraft Griechenlands ist auf ein Minimum gesunken, sodass es den Griechen ohne Hilfen von außen nur schwer gelingen kann, sich aus der desolaten Lage zu befreien. Denn Griechenland hat in den 70 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg anders als die meisten Länder Westeuropas kein "Wirtschaftswunder" erlebt, sondern es wurde von den mit ausländischer Unterstützung herrschenden Cliquen gebeutelt und ausgeraubt – Griechenland ist nun abgebrannt, und zwar bis auf die Grundmauern. Es bedarf, um im Bilde zu bleiben, nicht nur einer "Kernsanierung", sondern des Errichtens neuer Fundamente, auf denen dann der Wiederaufbau beginnen kann. Erste dafür zu erfüllende Voraussetzung ist der Austritt aus der EU, da die Regularien des "freien Binnenmarktes" eine selbstständige Entwicklung der griechischen Wirtschaft praktisch verhindern und die Unternehmen dort zunächst die erforderliche Wettbewerbsfähigkeit gewinnen müssen, bevor sie im EU-Raum bestehen können.

Drittens:
Die Mitgliedsstaaten der Euro-Zone und die der EU sollen mit der griechischen Regierung einen Plan erarbeiten, der präzise festlegt, unter welchen Bedingungen Griechenland erneut der EU und der Euro-Zone beitreten kann. In diesem Plan sollen "Meilensteine" bestimmt werden, bei deren Erreichen über etwa notwendige Korrekturen der Pläne oder über etwa notwendige Ergänzungen nachzudenken ist und wo entschieden wird, in welcher Weise auf unvorhergesehene Entwicklung im gesamten Umfeld zu reagieren ist. Denn selbstverständlich wird solch ein Plan mindestens ein, zwei Dekaden umfassen, einen Zeitraum also, währenddessen der Fortgang der "Weltgeschichte" nicht vorherzusehen ist.

Viertens:
Die EU und ihre Mitglieder selbst sollten über den Erlass und die Streckung von Rückzahlungen aus alten Krediten hinaus ein Hilfsangebot vorlegen, das tunlichst folgende wichtige Punkte enthält: Zunächst muss es um jede Art von Beratung im Bereich der Verwaltung von Staat und Wirtschaft gehen, wobei allerdings der Wunsch der Griechen, in welcher Weise sie beraten werden möchten, zu erfüllen ist. Diese Beratung darf auf keinen Fall als Bedingung für materielle Hilfen oder sonstiges Wohlverhalten angeboten werden; denn sonst werden Ressentiments, die sich in den vergangenen Jahren herausgebildet hatten, wieder entfacht und der Erfolg der Hilfen gefährdet. Das "Trauma" der Troika sitzt wie ein Stachel tief im Fleisch des griechischen Volkes. Sodann sind konkrete Aufbauhilfen anzubieten, die sich auf die Gründung und Stabilisierung mittlerer und kleinerer Unternehmen konzentrieren müssen. Diese Hilfen können private Investitionen sein, die von der EU gefördert werden, und zwar solche von Griechen als auch von Ausländern, solange es sich um direkte unternehmerische Aktivitäten handelt und nicht um reine Finanzbeteiligungen. Besonders ist darauf zu achten, dass keine Konzerne gefördert werden und dass nicht griechische Behörden zur Verteilung von Finanzmitteln zwischengeschaltet werden.

Fünftens:
Während Umschuldung und Erlass von Kreditverpflichtungen unverzüglich geregelt werden müssen, damit das tägliche Leben in Griechenland wenigstens halbwegs normal ablaufen kann, sollten die Pläne für die übrigen Hilfen in Ruhe und mit gehöriger Sorgfalt erarbeitet werden, und es sollte vereinbart werden, dass die Umsetzung erst dann beginnt, wenn das "Paket" vollständig geschnürt ist. Dadurch kann erstens sichergestellt werden, dass die notwendige Koordination erfolgt, und es kann zweitens erreicht werden, dass zwar sorgfältig aber auch zügig verhandelt wird. Damit der Bevölkerung in Griechenland, aber auch der in den übrigen EU-Ländern, nachgewiesen wird, dass eine schnelle und wirksame Lösung der Probleme unter realistischer Annahme von Risiken, die nie auszuschließen sind, ehrlich angestrebt wird, sollten alle Verhandlungen öffentlich dokumentiert werden, um den Eindruck von Kungeleien in Hinterzimmern zu vermeiden. All dem ist voranzustellen, dass die Behandlung der "griechischen Krise" sofort von allen Schuldzuweisungen befreit wird und dass sichergestellt ist, die Lage, wie sie sich nun mal ergeben hat, wird ohne Ansehung der Schuldigen behandelt!

Es wird – und im Prinzip nicht zu Unrecht – derzeit dauernd betont, ein zu weitreichendes Entgegenkommen in Griechenland würde Reaktionen in anderen EU-Ländern auslösen, die für den ganzen Euro-Raum und die EU von zerstörerischer Wirkung sein könnten. Das gilt aber nur, solange weiter versucht wird, die verschiedenen Krisen in Europa als Einzelfälle zu betrachten und sie mit Flickwerk einzeln und nicht im Rahmen einer Gesamtneuordnung der Verhältnisse lösen zu wollen. Deshalb sollte das Desaster in Griechenland Anstoß sein, alle europäischen Verträge zu überprüfen und ihnen die Erfahrungen der vergangenen Jahre, besonders seit der sogenannten Finanzkrise von 2008, gegenüberzustellen. Dann mag erkennbar werden, ob und in welchem Maße Änderungen vorzunehmen sind, die den Ausbruch von existenzbedrohenden Krisen möglichst verhindern. Insofern gilt auch, dass die Missstände in Griechenland nur dauerhaft behoben werden können, wenn gleichzeitig die Strukturprobleme der EU und der Euro-Zone gelöst werden. Insbesondere muss entweder die Währung Euro auf eine solide Basis gestellt werden, oder der Euro ist wieder abzuschaffen, was wahrscheinlich die einzig realistische Lösung ist. Ganz sicher müssen wir nicht befürchten, was Frau Merkel wiederholt ins Land posaunte (zuletzt am 29. Juni): "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa." – Es scheitern im Moment nur die Politstrategen in der EU. Und sollte der Euro "scheitern", weil ihm als Deckung die solidarische Haftung aller Steuerzahler im Währungsraum fehlt, dann führt das sicher zu einigen Schwierigkeiten, ganz bestimmt aber nicht zum "Scheitern" Europas. Und im deutschen Bundestag beschwichtigt die Kanzlerin anlässlich einer Debatte am 1. Juli: "Wir können beruhigt abwarten, denn Europa ist stark." So einfach ist das: abwarten und Tee trinken. Beängstigend an Frau Merkels Behauptungen ist jedoch, dass sie mit derart dämlichen Äußerungen zeigt, wie wenig sie ihrer Aufgabe gewachsen ist. Und schlimmer noch: Sie steht damit keineswegs allein im Kreis der "politischen Führer" Europas. – Europa ist es nicht nur wert gestützt zu werden, sondern ein Auseinanderbrechen des in Jahrzehnten mühsam konstruierten Gefüges birgt die Gefahr, dass erneut Unfrieden gestiftet wird und sogar Krieg nicht auszuschließen ist. – Warten wir's ab? – Hoffentlich nicht!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

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