Parteiendämmerung – Chance für Demokratie

Umdenken Neues Personal hilft nicht. Wir müssen für das erodierende Parteiensystem der repräsentativen Demokratie einen demokratischen Ersatz schaffen, sonst obsiegen die Rechten

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Art. 1 [Schutz der Menschenwürde]
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Art. 21 [Parteien]
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und die Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

§ 1 Verfassungsrechtliche Stellung und Aufgaben der Parteien.
(1) Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe.
§ 17 Aufstellung von Wahlbewerbern
Die Aufstellung von Bewerbern für Wahlen zu Volksvertretungen muss in geheimer Abstimmung erfolgen. Die Aufstellung regeln die Wahlgesetze und die Satzungen der Parteien.
§ 18 Grundsätze und Umfang der staatlichen Finanzierung.
(1) Die Parteien erhalten Mittel als Teilfinanzierung der allgemein ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden Tätigkeit. Maßstäbe für die Verteilung der staatlichen Mittel bilden der Erfolg, den eine Partei bei den Wählern bei Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen erzielt, die Summe ihrer Mitglieds- und Mandatsbeiträge sowie der Umfang der von ihnen eingeworbenen Spenden.
Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz)

§ 1 Zusammensetzung des Deutschen Bundestages und Wahlrechtsgrundsätze
(1) Der Deutsche Bundestag besteht vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen aus 598 Abgeordneten. Sie werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl von den wahlberechtigten Deutschen nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt.
(2) Von den Abgeordneten werden 299 nach Kreiswahlvorschlägen und die übrigen nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt.
§ 5 Wahl in Wahlkreisen
In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter gewählt. Gewählt ist der Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt.
§ 6 Wahl nach Landeslisten
(1) Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Stimmen zusammengezählt.
Bundeswahlgesetz

Riesige Aufregung! In Österreich sind die "großen" Parteien bei der Wahl des Bundespräsidenten mit ihren Kandidaten auf den hinteren Plätzen gelandet – nach einem Nationalisten von der FPÖ, einem Unabhängigen, der im Auftrag der Grünen antrat, und einer gänzlich Parteiunabhängigen. Die Kandidaten der ÖVP und der SPÖ erhielten jeder lediglich 11 Prozent der abgegebenen Stimmen, was unter Berücksichtigung der Wahlbeteiligung bedeutet, dass nur je 7,5 Prozent der Wahlberechtigten den Kandidaten einer der beiden "großen" Parteien in die Wiener Hofburg schicken wollten. Nun ist die politische Macht des Präsidenten ähnlich wie in Deutschland weitgehend auf zeremonielle Befugnisse beschränkt und ein Eingriff ins politische Tagesgeschäft ausgeschlossen; doch das Wahlergebnis spiegelt wohl trotzdem die herrschende Stimmung in der Bevölkerung. Bei einer immerhin 68-prozentigen Beteiligung darf dieses Votum als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung eingeschätzt werden. Das Schlimme daran ist, dass 35 Prozent der Stimmen für einen Mann abgegeben wurden, der mit Slogans wie "Aufstehen für Österreich", "Österreich zuerst" oder "der Islam gehört nicht ins Land" chauvinistische Gefühle wecken will und obendrein eine Anti-Europa-Politik predigt, die eine Abschottung Österreichs von seinen europäischen Nachbarn fordert, also etwas anderes ist als die Kritik an der EU. Außerdem ist er Ehrenmitglied einer deutschnationalen(!) Burschenschaft mit dem Wahlspruch "Ehre, Freiheit, Vaterland", was seine reaktionäre Gesinnung verdeutlicht. Doch die mediale Hektik, die sich angesichts des Wahlausgangs ausbreitete, muss als unangebracht bezeichnet werden, da schon während der letzten Jahrzehnte alle Beobachter den Rechtsruck der meisten etablierten Parteien in Europa erkennen konnten und damit zu rechnen hatten, dass es eine große Zahl Menschen gibt, die dann gleich die "Nationalisten" wählen. Auch wenn es also eigentlich nicht überraschen durfte, dass so viele Österreicher sich einen Rechtsradikalen, der noch vor wenigen Monaten praktisch unbekannt war, als Präsidenten und damit als "Aushängeschild" Österreichs wünschen, so ist das dennoch ganz furchtbar.

Die Furcht der Führungskräfte in den Parteien vor dem Ruf nach ihrer Ablösung ist nicht ganz unbegründet

Was in Österreich passierte, als den sogenannten Volksparteien die Wähler davonliefen, mag sich dort besonders drastisch gezeigt haben, doch man kann diese Verachtung des Establishments überall in Europa beobachten. Daher scheint es angebracht, einmal nachzuschauen, welche Kräfte die Abwanderung bewirken und ob es sich dabei europaweit um die gleichen handelt. Das Beispiel der österreichischen Präsidentenwahl könnte dazu einige Hinweise geben. Besonders bemerkenswert erscheint folgende, man ist geneigt zu sagen, typische Reaktion der "Spitzenpolitiker" des bisherigen Parteienbetriebes: Sie beginnen eine Personaldebatte innerhalb der Partei mit der Aufforderung, es dürfe jetzt keine Personaldebatte geführt werden. Der Bundesgeschäftsführer der SPÖ, Gerhard Schmid, meinte am Montag nach der Wahl: "Ich glaube, dass Personalentscheidungen hier nicht der richtige Weg sind" – dies, bevor Debatten überhaupt begonnen hatten. Aber inzwischen ist die Diskussion um personelle Konsequenzen aus dem Debakel in vollem Gange, und nur "taktische" Überlegungen um den Ausgang der Stichwahl, bremsten das Personenkarussell zunächst ein wenig. Es geht, wie kaum anders zu erwarten, um solche Parteiposten, die mit der Wahl des Bundespräsidenten eigentlich gar nichts zu tun haben. Wenn beispielsweise ein Parteiführer empfohlen hat, einen von den Gremien seiner Partei aufgestellten Präsidentschaftskandidaten zu wählen, und der verliert bei der Wahl, dann wurde diese Empfehlung vom Wahlvolk, nicht von seinen Parteimitgliedern, eben nicht angenommen, Punkt. Und es sagt zunächst einmal wenig darüber aus, ob dieser Parteiführer der richtige Mann für den Parteivorsitz ist oder ob er gar – wie aktuell im Fall der SPÖ – der richtige Bundeskanzler ist. Das stand bei der Präsidentenwahl nicht zur Debatte. Aber die Furcht der Führungskräfte in den Parteien vor dem Ruf nach ihrer Ablösung ist nicht ganz unbegründet. Sie müssen nämlich nicht nur damit rechnen, dass die bisher bei der Postenvergabe möglicherweise schlecht weggekommenen Parteifunktionäre nun die Chance wittern, selbst Karriere zu machen, sondern der Ruf nach Ablösung, nach Austausch des Personals ist gleichzeitig "systemimmanent". Denn das System ist so aufgebaut, dass politische Richtungsentscheidungen in den Parteiendemokratien Europas fast ausschließlich durch die Wahl von Personen gefällt werden. Die jahrzehntelange Erfahrung hat die Wähler inzwischen so stark programmiert, dass sie in dem Glauben gefangen sind, sie entscheiden über ein politisches Programm, wenn sie einer Person ihre Stimme geben. Welche Person der beste Präsident für Österreich sein könnte, war wahrscheinlich nicht im Zentrum des Wähler-Interesses, vielmehr darf unterstellt werden, dass viele Wähler in Österreich nun einen Nationalisten gewählt haben, weil sie damit eine andere politische Richtung eingeschlagen sehen wollen.

Die Wähler sind nicht auf einem Kurztrip ins Nachbarcamp

In einigen Kommentaren zum Wahlergebnis taucht die Sorge auf, die sogenannten Volksparteien würden womöglich von extremistischen Gruppierungen rechts und links des traditionellen Spektrums abgelöst, was zu "unruhigen" Zeiten führen könne, doch eine ausreichend tiefschürfende Suche nach den Gründen für eine solche Entwicklung unterbleibt. Hinweise darauf, dass die ja tatsächlich vorherrschende Überheblichkeit der Etablierten den "Erdrutsch" ausgelöst habe, dringen bei Weitem nicht tief genug hinein ins Dickicht der politischen Überlegungen breiter Teile der Bevölkerung. Auch die Begründung, die meisten der Wähler des Nationalisten Hofer hätten mit ihrer Stimmabgabe dem Kartell der "Volksparteien" nur einen Denkzettel verpassen wollen und würden bei nächster Gelegenheit wieder "vernünftig" wählen, streift das Problem allenfalls am Rande. Denn die nationalistische FPÖ ist schon seit geraumer Zeit Teil des Parteienspektrums, war bereits einmal Mitglied der Regierung in Wien und regiert zurzeit im Burgenland in Koalition mit einer "Volkspartei", weshalb nicht von einem plötzlichen Einbruch ins Gehege von SPÖ und ÖVP gesprochen werden kann. Es deutet vieles darauf hin, dass die Wahlentscheidung eine zunehmend rechtsgerichtete Strömung in der Gesellschaft ausdrückt, wie sie in den meisten anderen Staaten Europas ebenfalls zu erkennen ist. Wer also meint, man werde mit ein paar personellen Veränderungen einen "Neuanfang" inszenieren können, um so wieder zum gewohnten politischen Geschäftsgebaren zurückkehren zu können, der übersieht folgendes: Die Wähler sind nicht auf einem Kurztrip ins Nachbarcamp, sondern es handelt sich für viele möglicherweise um einen Abschied vom "bewährten" System des Proporzes innerhalb einer fest etablierten Funktionärskaste. Dadurch konnten Politiker bisher sicherstellen, dass die wichtigsten und die einträglichsten Posten stets zu etwa gleichen Teilen in den Reihen des Kartells ÖVP/SPÖ verblieben.

Es handelt sich für viele möglicherweise um einen Abschied vom "bewährten" System des Proporzes innerhalb einer fest etablierten Funktionärskaste

Vergleicht man das Wahlgeschehen in Österreich mit den Verhältnissen in den anderen europäischen Staaten, dann wird man zu dem Ergebnis gelangen, dass sie im Grunde identisch sind. Vielleicht hat sich im verbliebenen kleinen Rest der Habsburger Monarchie eher als anderswo in Europa eine nationalistische Partei häuslich eingerichtet, wobei Franzosen und Holländer den Österreichern dicht an den Versen hängen. Doch die Tendenz, dass ein Potenzial von etwa 15 Prozent der Wahlberechtigten "völkischen" Parteien ihr Mandat erteilen, ist in der gesamten EU zu erkennen. In Deutschland glaubt man zwar, man könne der rechten Gefahr durch ein Verbot der NPD entgegentreten; deren parlamentarischer Stern ist aber längst hinter dem der AfD verblasst, die sich erheblich besser darauf versteht, ihre Stimmen aus dem Trüben zu fischen. Insofern ist die AfD auch deutlich gefährlicher einzuschätzen als die NPD. Doch das ohnehin nicht sehr farbenreiche sogenannte Parteienspektrum ändert sich nicht so sehr wegen der eingesprenkelten braunen Flecken, sondern es erscheint aufgrund der Erosion der "Volksparteien" insgesamt verblasst. In Deutschland lässt sich diese Blässe an folgendem Phänomen erkennen: Anders als zu Glanzzeiten der "Volksparteien" während der Epoche der Bonner Republik gewinnt nicht länger die CDU etwa in dem Maße hinzu, wie die SPD verliert oder umgekehrt, sondern beide haben – nur ein wenig unterschiedlich stark – Einbußen zu verkraften, die sie in Berlin bereits seit mehr als einer Dekade zwingen, durch eine „große Koalition“ ein Kartell zu bilden. Und in manchen deutschen Bundesländern reicht es nicht einmal mehr zur Regierungsbildung, wenn sich CDU und SPD zusammentun; ja selbst Dreiparteien-Koalitionen bringen wie in Sachsen-Anhalt zuweilen nur noch knappe Mehrheiten zustande. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, warum die etablierten Parteien so deutlich Federn lassen müssen und warum neue Parteien fast aus dem Stand den Sprung in die Parlamente schaffen (anders als seinerzeit die Grünen, die aus einer langjährigen "außerparlamentarischen Opposition" sich zunächst zur Partei formierten und allmählich in die Parlamente "einsickerten").

Oberflächlich betrachtet erscheinen die Verluste der "Volksparteien" als Kehrwert der Zugewinne kleinerer Gruppierungen, was im Hinblick auf die Vielfalt in den Parlamenten sogar wünschenswert sein mag. Denn so könnte der Filz unter den Funktionären der "Etablierten" vielleicht aufgelöst werden; und frischer Wind hat noch selten geschadet. Daraus ließe sich schließen, wir müssten nur zu verhindern suchen, dass rechtsradikale Elemente zu stark an Einfluss gewinnen. Es gelte also, die "Gemeinschaft der Demokraten" zu beschwören und die Nationalisten in engem Schulterschluss zu bekämpfen, sie auf jeden Fall von einer Regierungsbeteiligung fernzuhalten.

Sein Hinweis auf die Aufklärung kann allerdings nur als unfreiwillige Satire verstanden werden

Betrachtet man die Szene jedoch mit etwas schärferem Blick, dann weisen folgende Beobachtungen darauf hin, welche Bedingungen den Zustimmungsschwund der "Volksparteien" verursachen: Parteien, die zunächst nur vorgeben, mit ihnen werde alles besser, da man die Wünsche der Bevölkerung aufnehme und sich von den "Etablierten" absetze, bekommen immer stärkeren Zulauf. Doch dies geschieht leider ohne Prüfung der "Sachvorträge" solcher Parteien, wie derzeit am Beispiel der AfD gut zu beobachten ist. Die rechten Parteistrategen erklären lediglich, man müsse sich gegen das Establishment wehren, ohne hinzuzufügen, dass auch sie eigentlich nur anstreben, "ordentliches Mitglied" dieses Systems zu werden, um schließlich Alleinherrschaft zu erlangen. Und statt eines Programms mit politischen Zielen werden Stimmungen bedient und geschürt, die helfen sollen, solche Wähler zu gewinnen, die einfach nur "mies gelaunt sind". Ein Beispiel dafür lieferte der Parteitag der AfD in Stuttgart am Wochenende zum 1. Mai: Die Delegierten verabschiedeten die Erklärung "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" und begründeten diese Feststellung damit, dass eine "Aufklärung im Islam nicht realistisch und nicht wünschenswert" sei. Ein Delegierter sagte wörtlich: "Wenn wir gegen die Islamisierung des Abendlandes sind, dürfen wir nicht für die Verwestlichung des Islam eintreten", und er erntete tosenden Beifall. Sein Hinweis auf die Aufklärung kann allerdings nur als unfreiwillige Satire verstanden werden; denn wer solchen Schwachsinn ablässt, für den dürfte Aufklärung "nicht realistisch und nicht wünschenswert" sein. Um welches Problem soll es hier eigentlich gehen und wie soll das politisch gelöst werden? Es sind also nicht etwa die "besseren Ideen" dieser kleinen oder der neuen Parteien, die für deren Stimmengewinne sorgen, so dass die Vermutung sehr nahe liegt, es ist zunächst einmal die Abwendung vieler Leute von den traditionellen Parteien, die mit ihren Kartellen eine eigene von der Gesellschaft getrennte Welt errichtet haben und ihren Wählern lange Zeit die kalte Schulter zeigten. Nicht die besondere Attraktivität der "Newcomer" sorgt für "Wählerwanderungen", sondern das Gefühl, man müsse woanders hin, weil man sich am gewohnten Ort nicht mehr richtig aufgehoben fühlt.

Daraus entwickelte sich die Gewissheit, es gehöre zur "Bürgerpflicht" eines jeden Demokraten, auf jeden Fall irgendeiner Partei seine Stimme zu geben

Um zu verstehen, was hinter der ein wenig schizophren wirkenden Haltung der "Wechselwähler" steckt, die im Grunde ein Übel durch ein noch größeres ersetzen, muss man in Betracht ziehen, was sich während der Epoche der Bonner Bundesrepublik tief ins politische System eingeschliffen hatte. Da machte sich in der Bevölkerung eine Überzeugung breit, die eine Art "Arbeitsteilung" entstehen ließ, und zwar Folgende: Das Gros der Bürger im Staate sorgt für das Bruttosozialprodukt, und die Parteien erledigen die Politik. Zur Mitwirkung an den demokratischen Prozessen genügt es, alle paar Jahre eine bestimmte Partei zu wählen, die ihre Funktionäre als Repräsentanten der Wähler in Parlamente und Regierungen schickt, wo die dann die umfangreichen Angelegenheiten des Gemeinwesens regeln und für alle Bürger verbindliche Gesetze schaffen sollen und dabei nicht bei den Wählern rückfragen, sondern ihrem Gewissen verantwortlich sind beziehungsweise via Fraktionszwang dem Diktat ihrer Partei. Daraus entwickelte sich die Gewissheit, es gehöre zur "Bürgerpflicht" eines jeden Demokraten, auf jeden Fall irgendeiner Partei seine Stimme zu geben; mit der Konsequenz, dass man seinen Unmut gegenüber bestehenden Machtverhältnissen nur formulieren zu können meint, indem man eine andere Partei wählt. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass unter den nach rechts „gewanderten Wählern“ viele sind, die nicht erstrangig einer anderen Partei an die Macht verhelfen wollen, sondern auch solche, die durch ihre Wahl eine Ablehnung der etablierten Parteien ausdrücken wollen, weshalb sie lieber denen zulaufen, die behaupten, bei ihnen sei alles ganz anders, besser. Im Übrigen gehört auch eine Reihe "Nichtwähler" zu denen, denen "die ganze Richtung" nicht gefällt, obwohl den "Nichtwählern" ja meist vorgeworfen wird, sie entzögen sich ihrer "staatsbürgerlichen Pflicht", oder gar, sie seien einfach zu bequem. Die vielen bunten Graphiken, die uns nach jeder Wahl präsentiert werden, berücksichtigen aber nicht, dass viel dafür spricht dass bei der "Wählerwanderung" die Kritik am System der Parteiendemokratie eine große Rolle spielt und dass die Macht der Gewohnheit viele Leute immer noch bewegt, auch ihre grundsätzlichen Bedenken durch die Wahl einer Partei zu artikulieren, dabei nicht bedenkend, dass sie das abgelehnte System gar nicht treffen.

Das Gros der Bürger im Staate sorgt für das Bruttosozialprodukt, und die Parteien erledigen die Politik

Viele Wahlberechtigte wagen nicht, aus dem Trott der Wahlpflicht auszubrechen, und viele geben, wenn manchmal auch murrend, weiter derjenigen Partei ihre Stimmen, die sie "schon immer" gewählt haben. Doch selbst deren Geduld ist endlich; und sobald es allzu offenbar wird, was die Parteifunktionäre mit ihrem Mandat anstellen, kehren auch "Stammwähler" den "Volksparteien" oder auch kleineren "etablierten" Parteien den Rücken zu. Da eine solche Entscheidung aber zunächst nur von wenigen und nur allmählich von immer mehr "Stammwählern" gefällt wird, verläuft der Erosionsprozess der etablierten Parteien ganz langsam – jedenfalls solange ihn nicht besondere Ereignisse beschleunigen. Den Parteifunktionären fällt daher gar nicht auf, dass sie selbst die Ursache für den Abwanderungstrend sind, was sie dazu verführt, anzunehmen, es seien nur einige wenige Korrekturen und natürlich Personalwechsel nötig, um die Wähler zurückzuholen. Diese unangemessene Reaktion lässt sich derzeit in Deutschland gut erkennen, wenn man sich ansieht, wie die "Volksparteien" genauso wie die inzwischen "etablierten" Grünen, aber auch die Linken und die Reste der FDP mit der AfD umgehen: Die soll als Schmuddelkind aus der Parteienfamilie verbannt werden. Statt sich selbstkritisch mit den Ursachen des Zulaufs auseinanderzusetzen, den solche "Schmuddelparteien" erhalten, grenzt man nicht nur die unerwünschten Parteien aus, sondern mit ihnen deren Wähler. Als Folge der Verbannung aus der "Gemeinschaft der Demokraten" zeigt sich meistens aber nicht etwa, dass die "schmuddeligen" Parteien in Schwierigkeiten geraten, sondern sie gewinnen sogar Stimmen hinzu, da sich noch mehr Bürger von den "Etablierten" wenden, vor allem aus Verärgerung über deren Arroganz. Sie lesen die Denkzettel nicht.

Dabei spielt es keine Rolle, ob die Erinnerung trügt

Es fällt auf, dass die Mehrheit derjenigen, die sich von den etablierten Parteien trennen, fast immer nach rechts schwenkt. Das ist jedoch folgerichtig, weil menschlich; denn im Zustand eines wenig ergründeten Unwohlseins neigen sehr viele Menschen dazu, sich vergangenen, vermeintlich besseren Zeiten zuzuwenden und sich deren Verhältnisse zurückzuwünschen, unter denen sie Geborgenheit erwarten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Erinnerung trügt und ob die Beschreibungen der "guten alten Zeiten" womöglich das Produkt reiner Propaganda sind. Es scheint vielmehr ein im Wesen der Menschen angelegter Reflex zu sein, der sie anregt, im Zustand der Verunsicherung eine rückwärtsgewandte Haltung einzunehmen. Dieser Reflex erklärt auch die Beliebtheit des Konservativen, der "Bewahrung des Guten", die dazu verführt, bedingungslos auf Bestehendem zu beharren, und zwar unabhängig davon, ob es für zukünftig erwartete Verhältnisse noch hinreichend ist. Während die Bewahrung von etwas Gutem, so es sich fürderhin als gut herausstellt, tatsächlich aber eine Selbstverständlichkeit darstellt und eigentlich keiner besonderen Erwähnung bedarf, sollte politisches Streben ausschließlich auf Weiterentwicklung für die Zukunft gerichtet sein; und heutiges Handeln sollte daran gemessen werden, ob es den Herausforderungen zukünftig erwarteter Umgebungsbedingungen entspricht – und nicht ob es die Tradition wahrt. Deshalb ist eine konservative politische Grundhaltung tendenziell irreführend, und Parteien, die sich die "konservativen Werte" auf die Fahnen geschrieben haben, müssten ihr Dasein an den Rändern des "Parteienspektrums" fristen. Das Fatale jedoch ist, dass diese Verunsicherung von den Nationalisten vereinnahmt wird, die einen "XXL-Konservativismus" predigen, während es ihnen in Wahrheit um die Installation eines autoritären Regierungssystems geht. So erleben wir, dass Nationalisten demokratisch gewählt werden, deren Bestreben die Abschaffung der Demokratie ist (Beschneidung von Grundrechten wie etwa Religionsfreiheit oder Asylrecht). Das fällt sehr vielen Leuten nicht auf, weil sie annehmen, die Wahlfreiheit in der Demokratie schütze vor jenen, die mit Demokratie nichts am Hut haben. Aber auch die NSDAP ist seinerzeit gewählt worden und hat sich dann im Parlament „Mehrheiten verschafft“.

Der Erfolg dieser "Unternehmen" äußert sich im Gewinn von Mandaten und Posten

Da die Abkehr von den "Volksparteien" in ganz Europa festzustellen ist und da in den meisten westeuropäischen Staaten in etwa die gleichen politischen Strukturen anzutreffen sind (mit einer Ausnahme: die Schweiz), liegt es nahe, zu unterstellen, die Tendenz zur Abwahl der Etablierten könnte sich als Folge eines Mangels im System herausstellen; und es sei zu erwarten, dass überall und gleichermaßen dieselben Gründe für diese "Auffälligkeit" verantwortlich sind. Wer danach sucht, wird schnell fündig werden: In der gesamten EU lässt sich politischer Einfluss nur auf dem Umweg über eine Partei ausüben; oder: die Parteien verfügen über ein Monopol bei politischen Entscheidungen. Der Status von Parteien wird europaweit in der Regel durch ein spezielles Gesetz bestimmt – in Deutschland durch das "Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz)" –, womit sie als eine besondere Form des Vereins definiert sind und wodurch ihnen gestattet wird, als eine Körperschaft eigenen Rechts aufzutreten. Der Paragraph 2 des deutschen Parteiengesetzes beginnt so: "Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder auf längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen ..." – Diese eher idealistische Bestimmung vermittelt den Eindruck, es handele sich um ehrenamtlich betriebene Organisationen, die sich aus dem Zusammenschluss Gleichgesinnter bilden. Die "Parteienwirklichkeit" konfrontiert uns aber mit straff geführten "Unternehmen", in denen berufsmäßig tätige Mitarbeiter und Manager wirken. Der Erfolg dieser "Unternehmen" äußert sich zwar nicht in geldwertem Gewinn, aber im Gewinn von Mandaten und Posten und auch im Anteil einer Partei an den Wählerstimmen, der darüber bestimmt, wie viel Geld aus Steuermitteln(!) ihr zusteht ("Parteiengesetz. Vierter Abschnitt. Staatliche Finanzierung"). Die Mitwirkung "an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag" tritt dadurch zwangsläufig an nachgeordnete Stelle. Da aber die Zahl der Mandate von Wahlen abhängt, ist es als systembedingt hinzunehmen, dass die Parteifunktionäre ausschließlich danach trachten, möglichst viele Wähler hinter sich zu scharen. Die Frage: womit? bleibt ohne Bedeutung, und politische Willensbildung kann hierbei nur hinderlich sein!

Politische Willensbildung kann hierbei nur hinderlich sein!

Häufig und meist von denen, die mit dem herrschenden System der "Arbeitsteilung" sehr zufrieden sind, die also wenig oder gar keinen Anlass für grundsätzliches Umdenken erkennen, wird den Kritikern der Parteiendemokratie vorgeworfen, sie dürften ja, wollten sie eigene Vorstellungen verwirklichen, in eine Partei eintreten oder eine eigene Partei gründen und dort auf den politischen Entscheidungsprozess Einfluss nehmen. Dieser Weg ist aber aus dem den Parteien innewohnenden Ordnungsprinzip gar nicht gangbar, wie die folgenden Bedingungen belegen. Erstens: Die Parteien wurden so konzipiert (festgelegt per Gesetz und Satzung), dass sie nicht als rein ehrenamtliche Betriebe, sondern als von Angestellten geleitete Apparate ähnlich den Behörden zu führen sind. Deshalb sind Parteimitglieder, die nicht als Angestellte oder (bezahlte) Mandatsträger in Parlamenten mitwirken, automatisch an den Rand gedrückt, schon allein, weil ihnen nur ihre Freizeit zur Verfügung steht, während die "Hauptamtlichen" einen "Ganztagsjob" absolvieren, von dem ihr persönliches Auskommen abhängt. Zweitens: Die Parteimitglieder, die sich auf dem "Karriereweg" nach oben bewegen wollen, müssen sich den innerparteilichen Bedingungen stellen und stets beachten, dass ihre "Aufwärtsbewegung" von der Zustimmung der Gremien auf der jeweils erreichten Sprosse der Parteileiter genauso wie vom Wohlwollen der höhergestellten Funktionäre (quasi von deren Vorgesetzten) abhängt. Die "Oberen" wiederum erwarten von den "Nachrückern", dass sie helfen, die Vorgaben der Führung durchzusetzen. Dadurch entsteht eine "Ausrichtung", die den Weg der durch demokratische Verfassung bestimmten Willensbildung von der Basis zur Spitze umkehrt und eine klassische Führungsstruktur von oben nach unten etabliert. Drittens: Der Grundsatz, dass tatsächlich stets nur Personen zur Wahl stehen (auch bei Abgabe der sogenannten Zweitstimme, wo eine Partei angekreuzt wird, hinter der sich aber eine Liste mit Kandidaten verbirgt, die vorher von den Parteigremien aufgestellt wurde) und dass es um die Vergabe von Posten geht, führt zwangsläufig dazu, bei Wahlen die Personen hervorzuheben. Viertens: Wer in einer Partei Karriere machen möchte, der muss sich von ganz unten in der Ortsgruppe auf der sogenannten Ochsentour "hochdienen", muss also innerparteilich Disziplin üben, und zwar stets und viele Jahre lang. Daraus wird die glatte "Stromlinienform" der meisten Parteifunktionäre geschnitzt, und es wird verhindert, dass sich überhaupt eine "kreative" Mitwirkung bilden kann. – Zu folgern ist, Politik, die Regelung der Angelegenheit der Gemeinschaft, wird dem Diktat von Parteifunktionären überlassen, die sich dieser Aufgabe aber gar nicht stellen, genau besehen nicht einmal stellen können.

Sie wurden und werden nach Publikumswirksamkeit wie Showmaster und nach parteiinternen Gesichtspunkten ins Amt berufen

Schließlich sind Spitzenkandidaten diejenigen, die dieses Karrierespiel besonders gut beherrschen, aber diesen Managern des politischen Geschäfts fehlt die Kompetenz, die außerordentlich schwierigen Probleme des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels – lokal, regional und global – zu lösen. Denn sie konnten sich in Zeiten des politischen Schönwetters auf das Verwalten der herrschenden Zustände beschränken und wurden und werden nach Publikumswirksamkeit wie Showmaster und nach parteiinternen Gesichtspunkten ins Amt berufen – fachlicher Kompetenz wird kaum Beachtung geschenkt.

Die hier angesprochenen Zusammenhänge sollten, betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt der "Wählerwanderung", zu folgender Erkenntnis führen: Die tief verwurzelte Gewohnheit daran, dass nur Parteien politische Entscheidungen fällen und in Parlamenten und Regierungen durchsetzen dürfen, verhindert es, nach der Richtigkeit dieser Annahme zu fragen, und damit auch Überlegungen dazu anzustellen, wie eine andere Struktur aussehen könnte. Doch das verbreitete Unwohlsein, das sich in der Bevölkerung erkennen lässt, deutet zumindest auf eine Ahnung einer stetig wachsenden Zahl von Leuten hin, die die "Arbeitsteilung" zwischen Bevölkerung und Parteien doch nicht richtig zu finden scheinen. Es fehlt allerdings noch an dem Mut, sich den Wurzeln des Übels zu nähern und das Parteiensystem an sich infrage zu stellen. Allerdings gilt auch dies: Sollte der Mut dazu nicht recht bald aufgebracht werden und es zu einer öffentlichen Diskussion über die Rolle der Parteien kommen, dann besteht die akute Gefahr, dass den Nationalisten abermals eine "Machtergreifung" gelingt, dass sie wie seinerzeit die Nazis "auf demokratischen Wege" in Parlamente und Regierungen stürmen. Warum diese Möglichkeit bisher so wenig Beachtung findet, liegt ebenfalls an der im Grunde sehr bequemen "Arbeitsteilung", die es den Bürgern gestattet, ohne Bedenken ihren Geschäften nachzugehen und sich ihrem privaten Angelegenheiten zuzuwenden, während das politische Wirken per Kreuz auf dem Stimmzettel "delegiert" werden kann an hauptamtliche Politikmanager. Daraus ist die Gewissheit entstanden, dass die Demokratie ihre Existenzberechtigung allein durch die Tatsache des Abhaltens von Wahlen nachzuweisen habe.

Um wirklich "Volksherrschaft" zu gewährleisten, bedarf es der tätigen Mitwirkung möglichst vieler Bürger an der "politischen Willensbildung"

Doch um wirklich "Volksherrschaft" zu gewährleisten, was ja eigentlich heißt, dass nicht einige Wenige herrschen, bedarf es der tätigen Mitwirkung möglichst vieler Bürger an der "politischen Willensbildung". Das "Wahlvolk" davon zu überzeugen, ist Schwerstarbeit gleichzusetzen; denn es muss die hemmende Wirkung gleich mehrerer Bedingungen überwunden werden. Zunächst gilt es, möglichst viele Bürger davon zu überzeugen, dass die "Arbeitsteilung" zwischen Volk und Politikern ein Trugschluss war, der tatsächlich als undemokratisch zu bezeichnen ist. Sodann ist die Bereitschaft zu entwickeln, sich für die Angelegenheiten des Gemeinwesens zu interessieren und sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Und schließlich ist eine Erörterung von Ideen gefragt, wie eine "wirkliche" Demokratie zu gestalten sei. Das alles setzt aber noch eine ganz wichtige Überzeugung voraus, die nämlich, dass Demokratie, echte Demokratie, die einzig denkbare Form ist, wie menschliches Zusammenleben organisiert werden kann. Unter Berücksichtigung der nie dagewesenen Bevölkerungsdichte auf unserem Globus und der daraus abzuleitenden Notwendigkeit weltweiter Kooperation auf Basis von Gleichberechtigung – um den erforderlichen Frieden zu erlangen und zu sichern – lässt sich eine andere als eine demokratische Daseinsgestaltung nämlich gar nicht denken. Wir müssen deshalb einsehen, dass die Fortsetzung der Parteienherrschaft, als die sich unsere "realexistierende" Demokratie entpuppt hat, in eine Sackgasse führen wird, aus der es am Ende kein Entrinnen gibt. Deshalb bleibt nur der mühsame Weg der Überzeugungsarbeit mit dem Ziel, eine "kritische Masse" Mitstreiter zu finden, die den "Kernspaltungsprozess" in der Gesellschaft auszulösen vermag.

Die Zeit drängt; denn wir erleben bereits eine sich beschleunigende Erosion des bisher alles Politische beherrschenden Parteiensystems. Die Vorwahlen in den USA, wo sowohl auf der einen Seite Herr Trump als auch auf der anderen Herr Sanders die Zustimmung ihres "Wahlvolks" wesentlich aus der Ablehnung des Establishments speisen, deuten übrigens in die gleiche Richtung. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass die "Parteiendämmerung" längst einsetzte, während es nur Wenigen "dämmert", dass schleunigst ein demokratischer Ersatz dafür geschaffen werden muss. Gelingt das nicht, ist zu befürchten, dass die geistig Trägen den fanatischen Nationalisten die Steigbügel halten. Abzuwarten, bis den Parteifunktionären vielleicht doch noch klar wird, dass es eigentlich an ihnen ist (denen, die "auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen" sollen), sich Gedanken über die zukünftige Gestaltung unseres Gemeinwesens zu machen, dürfte grob fahrlässig sein. Die Rattenfänger sind bereits in den Straßen und sammeln ihre Gefolgschaft.

Der eitrag erschien auch im Blog:https://zeitbremse.wordpress.com

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Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

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