Was sind die 180 Milliarden Euro höheres Steueraufkommen?

Geld Der angekündigte "180-Milliarden-Schluck aus der Pulle" könnte Anstoß geben, dort ein wenig zu bohren, wo der Rohstoff zu orten ist: beim Wesen des Geldes.

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"Die Steuerschätzung bestätigt unseren Kurs und macht Mut für die Zukunft."
"Trotz Corona-Krise ist Deutschland finanziell gut aufgestellt."
"Dieser Einsatz [die Maßnahmen der Regierung zur Stützung der Wirtschaft während der Pandemie] rechnet sich; die Wirtschaft läuft stabil, und die Steuereinnahmen wachsen wieder – und zwar schneller als erwartet."
"Mit Rekordinvestitionen in Digitalisierung, Forschung und Klimaschutz wollen wir den Trend weiter stützen."
(Olaf Scholz, Noch-Bundesfinanzminister am 11.11.2021 nach der Veröffentlichung der Steuerschätzung)

"Wir werden im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse dir nötigen Zukunftsinvestitionen gewährleisten, insbesondere in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie die Infrastruktur, auch um die deutsche Wirtschaft zukunftsfest und nachhaltig aufzustellen und Arbeitsplätze zu sichern."
Zitat aus dem Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP "Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit" vom 24.11.2021

Das Steueraufkommen, also die Summe all der Abgaben, die die Bürgerschaft ihrem Staat entrichtet, wird gewöhnlich als diejenige Summe Geldes verstanden, die einer Regierung zur Deckung ihrer Leistungen bereitstehen soll. Und wenn die Regierenden Maßnahmen beschließen, für deren Umsetzung nicht genügend "Geld im Kasten klingelt", dann kann das Parlament entscheiden, dass hierfür Kredit bei privaten Geldgebern aufgenommen wird; bei Banken oder mittels Ausgabe von Anleihen beispielsweise. Mit solchen Darlehen verschuldet sich der Staat. – Dies ist eine Darstellung der öffentlichen Mittelbeschaffung, deren Richtigkeit so gut wie nirgends infrage gestellt wird.

Sie taugt jedoch bereits dann nicht mehr als Erklärung für das Wesen der "Staatsfinanzen", wenn man sich zu beantworten versucht, woher "das Geld" ursprünglich kommt. – Das Geld unserer Tage wird nämlich "geschöpft", indem eine staatliche Institution im Auftrage der Regierenden und die wiederum im Auftrage der Gemeinschaft erklärt, "bekanntmacht", dass eine Summe Geldes einer bestimmten Währung zur Verfügung gestellt wird, und zwar als reine Buchung auf elektronischem Wege oder gedruckt als Bargeld. Der Staat sagt einfach: Dies ist Geld, und damit existiert es. Neuerdings dürfen auch private Banken Geld schöpfen, jedoch unter Wahrung der gesetzlichen Auflagen. Der für die moderne Art Geld eingesetzte Fachausdruck heißt "Fiat-Money" (von lateinisch "fiat" = es sei bereitgestellt, und englisch "money" = Geld). Außerdem legen gesetzliche Bestimmungen zum Gebrauch des Geldes fest, dass es als staatlich anerkanntes Zahlungsmittel gilt und jeder Nutzer im Währungsraum verpflichtet ist, diese Sorte Geld als Gegenleistung für Waren und Dienste zu akzeptieren. Das bedeutet zweierlei: Erstens hat die Gemeinschaft zu bestimmen (auf dem Umweg über die Staatsführung und mit deren Erlaubnis über die Banken), wie viel Geld "unter die Leute gebracht wird", und zweitens soll sie festlegen, welche Spielregeln beim Umgang mit Geld zu beachten sind. Der Staat produziert dann das Geld oder lässt es produzieren und überwacht seine Nutzung. Ohne Staat gibt es kein Geld, und der Staat ist und bleibt Eigentümer des Geldes. Dies ist keine "Theorie", sondern die konkrete Gestaltung des Geldsystems unserer Tage.

Ohne Staat gibt es kein Geld

Die wichtigste Konsequenz, die es daraus zu ziehen gilt, ist folgende: Privatleute, Unternehmen und Behörden erlangen kein Eigentum am Geld, sondern sie erhalten nur gesetzlich eingerahmte Nutzungsrechte. Alles Geld wird als Kredit ausgereicht; und dieser Kredit muss wie andere Darlehen auch zurückgezahlt werden. Der Staat (die Gemeinschaft über Parlament und Regierung) hat sich aber zur Tilgung seiner Kreditforderungen ein eigenes System zugelegt: Er erhebt Steuern und bestimmt deren Höhe und Fälligkeit. Dieses Verfahren gestattet ihm, Art und Weise der Rückzahlung ohne Zustimmung des Darlehensnehmers (aller Teilnehmer am Wirtschaftsgeschehen) nach seinem Dafürhalten, beziehungsweise gemäß parlamentarischer Beschlüsse festzulegen. Das heißt: In einer Demokratie bestimmt die Gemeinschaft, vertreten durch ihr Parlament, wer, wann, wieviel des Kredites zurückzuzahlen hat. Maßgeblich für die Gestaltung der Rückzahlung sollte nicht der Bedarf an Finanzmitteln der Verwaltung (Regierung und Behörden) sein – obwohl das heute dem "ahnungslosen Staatsvolk" so erklärt wird –, sondern die Überlegung, wie die Menge des Geldes in der Hand von Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und Privatleuten so bemessen werden kann, dass die Summe aller Leistungen in einer Volkswirtschaft der Menge des Geldes im Umlauf in etwa entspricht. Denn idealerweise sollte stets nicht mehr Geld "unterwegs" sein als alle in Geld umgerechneten Leistungen zusammen. Nur dann, wenn das erreicht ist, herrscht "Geldstabilität"; was bedeutet, dass der Wert des Geldes, seine Kaufkraft, auch in Zukunft gleich hoch bleibt – zumindest annähernd. Die Erfüllung der Forderung nach Stabilität des Geldwertes ist deshalb so wichtig, weil nur dadurch zu erreichen ist, dass jeder, der Geld für seine Leistung erhält, dies nicht unmittelbar wieder ausgeben muss, will er vermeiden, dass er für "sein" (von der Gemeinschaft geliehenes) Geld zukünftig eine sehr viel geringere Leistung erhält als aktuell möglich (Anfang der 1920er-Jahre erreichte die Geldentwertung in Deutschland ein Tempo, das alle Arbeitnehmer zwang, sofort nach Empfang ihrer Löhne davon Waren oder Dienste zu kaufen, weil bereits am Nachmittag des gleichen Tages für "ihr Geld" nur noch ein Bruchteil zu bekommen war).

Eine der hieraus zu schließenden Folgen ist, dass der Staat für die Finanzierung seiner "Projekte" nicht etwa darauf angewiesen sein darf, wie hoch die Steuereinnahmen ausfallen, sondern dass er dafür einfach Geld bereitstellt. Allerdings muss er sich seine Aktivitäten von der Gemeinschaft bewilligen lassen, und die Gemeinschaft (bei uns in deren Vertretung das Parlament) hat zu prüfen, ob die staatlichen Vorhaben ihren Bedürfnissen entsprechen, und natürlich auch, ob das dafür auszugebende Geld, der zu gewährende Kredit der Gemeinschaft, angemessen ist. Die Festlegung, welche und wieviel Steuern zu zahlen sind, hat mit den im gleichen Zeitraum für staatliche Aufgaben bereitzustellenden Summen gar nichts zu tun! Die Steuerpflicht muss ausschließlich danach bemessen sein, ob und in welcher Größenordnung zu viel Geld im gesamten Wirtschaftsprozess "unterwegs" ist – und zwar nicht nur als Folge der Ausgaben des Staates, sondern aller wirtschaftlichen Aktivitäten. Die staatlich veranlassten Aktivitäten sind ja lediglich ein Teil der gesamtwirtschaftlichen Leistung (Das kann man an einem groben Zahlenvergleich deutlich machen: In Deutschland betrug die Wirtschaftsleistung des Jahres 2020 etwa 3,9 Billionen Euro; die Staatsausgaben lagen bei etwa 450 Milliarden).

Alles Geld wird als Kredit ausgereicht

Von der Regierung ist deshalb Folgendes zu fordern: Immer, wenn im Parlament beschlossen wurde, bestimmte Vorhaben umzusetzen, muss der Staat dafür das erforderliche Geld "produzieren". Und er hat auch dann Geld bereitzustellen, wenn für das Wachstum der privaten Wirtschaftsleistungen nicht genügend Geld im Umlauf ist. – Etwas ganz Anderes ist zu unternehmen, wenn die Finanzbehörde erkennt, dass die Gesamtmenge Geld im Umlauf höher ist als alle im Wirtschaftsraum erbrachten Leistungen. Dann müssen Steuern erhoben werden, die für einen Ausgleich sorgen, wobei zu fordern ist, dass das "eingesammelte" Geld vernichtet, ausgebucht wird! Denn erst dadurch wird die Menge Geldes im Umlauf reduziert. Dies bedeutet, der Staat ist finanztechnisch sozusagen zweizuteilen: Die eine "Hälfte" hat für die Bereitstellung, für die "Produktion" von entsprechenden Mengen Geld nach Maßgabe der Auflagen zu sorgen, die von den Bürgerinnen und Bürgern erteilt wurden. Und die andere soll darauf achten, dass insgesamt nur so viel Geld in der Volkswirtschaft "unterwegs" ist, wie es für alle erbrachten Leistungen benötigt wird – private und staatliche zusammen. Da nicht fortwährend immer nur mehr Geld produziert werden darf und so die Verschuldung der Bevölkerung – nicht die des Staates – zwangsläufig stetig steigt (was beispielsweise passiert, wenn von Staatswegen oder von Privatbanken anhaltend mehr Geld als erforderlich in Form von Krediten ausgegeben wird), muss der überschießende Teil eingesammelt und vernichtet werden! Zwischen beidem, der Bereitstellung von Geld und der Rückforderung des Kredites mittels Steuern, besteht direkt keine Abhängigkeit! Der Finanzminister und seine Leute müssen Geld stets in dem Umfang bereitstellen, wie es die Gemeinschaft fordert, und sie müssen Steuern erheben in dem Umfang, wie es eine möglicherweise zu hohe Geldmenge im Umlauf verlangt. Man kann sich sogar vorstellen, dass es zwei verschiedene Finanzbehörden gibt: eine, die das Geld "schöpft", und eine andere, die die Rückzahlung der Kredite der Gemeinschaft regelt. – So könnte, ja sollte es sein!

Dies bedeutet, der Staat ist finanztechnisch sozusagen zweizuteilen

Das Ermitteln der Geldmenge in einer Volkswirtschaft, in einem staatsübergreifenden Währungsraum oder sogar global ist allerdings nicht ganz einfach zu gestalten. Doch es gibt inzwischen hinreichend präzise Berechnungsmethoden, die auf Basis von Erhebungen durch moderne Computerprogramme genutzt werden und die für finanzpolitisches Handeln durchaus brauchbare Angaben liefern. Zum allgemeinen Verständnis der Methoden hierfür seien im Folgenden noch ein paar grundlegende Begriffe angesprochen. Dies ist allein deshalb erforderlich, weil selbst in den mit Wirtschaft befassten Medien immer wieder Fachausdrücke auftauchen, die beim Publikum ohne eine korrekte Vorstellung von deren Inhalt zu Verwirrung führen können. Das liegt zum Teil auch daran, dass den Berichterstattern, wenn sie sich zum Thema Geldwesen äußern, manchmal nicht ganz klar zu sein scheint, wovon sie schreiben oder reden.

Die Berechnungen der Geldmenge im Umlauf werden in einer Volkswirtschaft von den Zentralbanken und global vom Internationalen Währungsfonds, einer Sonderorganisation der UNO, vorgenommen und zusammengeführt. Dazu hat man einige Regeln aufgestellt, die aber leider nicht einheitlich angewandt werden, weshalb auch aufgrund solcher rein technischen Mängel keine exakte Bestimmung der Geldmenge im Umlauf möglich ist. Vor dem Hintergrund, dass die Berechnungen ohnehin auf zukünftig zu erwartende Bedingungen abgestimmt sein müssen, darf der Grad an Ungenauigkeit jedoch dann hingenommen werden, wenn sichergestellt bleibt, dass eine ständige Anpassung an neu gewonnene Erkenntnisse erfolgt. Diese Forderung ist im Übrigen, wenn zukünftig Erwartetes "berechnet" wird, an jede Form von Datenerfassung und anschließender Einordnung zu richten – eingedenk der Gewissheit, dass Zukunftsbetrachtungen immer nur Möglichkeiten anbieten und wir uns niemals sicher sein können, dass Erwartetes so eintritt, wie wir uns das vorgestellt hatte.

In der Diskussion um die Geldmenge tauchen sehr häufig die Kürzel M1, M2 und M3 auf (M steht hier für Menge), wobei für die gesamtwirtschaftliche Betrachtung eigentlich nur M3 interessant ist. Denn M1 umfasst lediglich den Bargeldumlauf zuzüglich der täglich fälligen, jederzeit abrufbaren Einlagen auf Bankkonten, während M2 die Summe aus M1 und Einlagen bei Kreditinstituten mit einer Laufzeit von bis zu zwei Jahren sowie Einlagen mit Kündigungsfristen bis zu drei Monaten darstellt. M3 schließlich ist dann M2 plus Geldmarktfonds (Termingelder sowie Schuldscheindarlehen von Banken, Versicherungen, Bausparkassen, Kreditkartenunternehmen, Kapitalanlagegesellschaften, Leasinggesellschaften, Venture Capital Fonds, Hedgefonds und ein paar andere "Exoten"; zusammengefasst als Kapitalsammelstellen bezeichnet) plus einige weitere "Finanzprodukte". – Diese trockene Aufzählung soll lediglich zeigen, dass Geld eben nicht nur ein Bündel Scheine und Guthabenbestätigungen der Banken ist, sondern dass eine große Anzahl Zusagen von Zahlungen die verfügbare Geldmenge maßgeblich ausweiten. Alles Geld, ausgedrückt mit dem Kürzel M3, das in einer Volkswirtschaft, in einem Währungsraum (z. B. Eurozone) oder weltweit "unterwegs" ist, sollte so nah wie möglich dem Geldwert der Menge an Leistungen entsprechen, die in einem Abrechnungszeitraum erbracht wurden. – Das ist die Forderung.

Geld ist eben nicht nur ein Bündel Scheine und Guthabenbestätigungen der Banken

Hierzu ein Zwischenruf: Diese Hinweise umfassen das für die hier betrachteten Zusammenhänge grundsätzlich Wichtige und verzichten auf einige andere ebenfalls zu erfüllende Bedingungen des Geldbegriffs, die jedoch für die angesprochene Problematik unerheblich sind. Auf eine weitere Schwierigkeit, die es zu beachten gilt, wenn die Geldmenge bestimmt werden soll, sei aber doch hingewiesen: Die "wirksame" Menge Geldes im Umlauf ist auch abhängig von der Geschwindigkeit, mit der das Geld "umläuft", also seine Besitzer wechselt. Aber auch diese Hürde lässt sich durch näherungsweise Berechnung überwinden. Die politisch Handelnden verfügen also über die Instrumente, um ein Gleichgewicht zwischen Geld und Leistung hinreichend präzise herzustellen, und könnten die Finanzpolitik daran ausrichten.

In der Realität zeigt sich uns hingegen ein ziemlich erschreckendes, anderes Bild. Der Internationale Währungsfonds hat beispielsweise für das Jahr 2019 weltweit ein Geschäftsvolumen von 17 Billionen US-Dollar ermittelt und im gleichen Zeitraum einen Geldverkehr von 90 Billionen festgestellt. Außerdem veröffentlichte er Folgendes: Weltweit betrug der Wert aller Derivate 900 Billionen(!) US-Dollar – kontinentaleuropäische Billionen, nicht amerikanische. Als Derivate (Kurzform für derivative, "abgeleitete", Finanzinstrumente) bezeichnen die "Experten der Finanzindustrie" höchst kompliziert zusammengeschnürte "Pakete" von Wertpapieren mit unterschiedlich hohen Risiken, die dadurch "verschleiert" werden, dass nicht die tatsächlichen Werte der Wertpapiere oder Güter im Paket angesetzt werden, sondern sogenannte marktübliche Referenzwerte. Die Vertreter des Währungsfonds gehen davon aus, dass im kapitalistisch organisierten Teil der Welt mindestens(!) zwanzigmal so viel Geld unterwegs ist wie der Geldwert aller Leistungen zusammen. – Oder ein anderes Beispiel, woran das Missverhältnis zwischen Geld und Leistung zu erkennen ist: Auf den sogenannten Devisenmärkten wird Geld einer Währung gegen das einer anderen gewechselt; dort wurden 2019 durchschnittlich täglich(!) fast 7 Billionen US-Dollar "gehandelt", während das tägliche Welthandelsvolumen, der Handel mit realen Wirtschaftsleistungen, nur 0,23 Billionen umfasste. – Solche Zahlen zeigen, obwohl ihnen die bereits erwähnte Ungenauigkeit anhaftet, unbestreitbar eines: Das Ziel, ein Gleichgewicht zwischen Geldmenge und Leistung herzustellen, wurde schwindelerregend weit verfehlt. Man kann sich das vielleicht am besten durch diese Annahme verdeutlichen: Sollten die meisten der Geldvermögenden, die "ihr Geld" irgendwo "geparkt" haben und auf Spekulationsgewinne oder Zinsen hoffen, das Geld von dort, wo sie es "angelegt" (besser: abgelegt) haben, zurückfordern und es in der "realen" Wirtschaft einzusetzen versuchen, dann kollabierte das gesamte Finanzsystem! Denn alles Geld ist dann praktisch wertlos, weil die verfügbare Riesensumme zum Ausgleich der Werte in der "realen" arbeitsteilig organisierten Wirtschaft unbrauchbar wird, wie uns während der "galoppierenden Inflation" vor hundert Jahren eindrücklich vorgeführt wurde.

Es gibt ein Missverhältnis zwischen Geld und Leistung

Das heute offenbare Missverhältnis zwischen Geldmenge und Wirtschaftsleistung entstand wesentlich dadurch, dass das einzige Regulativ für den Umfang der Kreditgewährung durch staatliche Institutionen oder Banken, nämlich die Prüfung der Kreditwürdigkeit der Darlehensnehmer, nicht streng genug angewandt wurde; beziehungsweise es wurde außeracht gelassen, dass sehr viele der ausgereichten Darlehen nicht für "ordentliche" Geschäfte verwandt wurden. Von Privaten aufgenommene Kredite sind nämlich nur aus dem Mehrerlös für die von ihnen tatsächlich erbrachten Leistungen zu tilgen. Werden aber dauerhaft und in riesigem Umfang Kredite gewährt, die nur dann, wenn Preissteigerungen durch Spekulation eintreten, zurückgezahlt werden können, dann wird die Gesamtsumme an Geld im Umlauf fortwährend schneller steigen als die Leistungen (denn Spekulation ist keine Wirtschaftsleistung!), und das Geld wird entsprechend entwertet, weil für gleiche Leistungen immer höhere Preise gezahlt werden (siehe Immobilienmarkt). Der einzige Grund, warum bis heute eine vollständige Entwertung noch nicht eintrat – was im Jahre 2008 allerdings beinah passierte –, liegt darin, dass die Vertreter der "Finanzindustrie" und der "Politik" beschlossen haben und auch danach handeln, "dass nicht sein kann, was nicht sein darf!" (Christian Morgenstern), oder, wie die Leute in Hans-Christian Andersens Märchen, nicht erkennen, dass ihr Kaiser – "ihr" Geld – splitterfasernackt umherläuft.

Die Schwierigkeit, für diese Zusammenhänge Verständnis aufzubringen, rührt wahrscheinlich wesentlich daher, dass uns Menschen die Vorstellung von etwas Abstraktem nur im übertragenen Sinne möglich ist; dass wir uns mit Bildern behelfen müssen, die die Bedeutung des Abstrakten lediglich in etwa treffen können, nicht aber mit dem vom Konkreten Losgelösten gleichzusetzen sind. So wird das Geld als eine Menge von "Stücken" dargestellt, um damit näherungsweise eine brauchbare Vorstellung von diesem an sich körperlosen Gebilde zu gewinnen. Im alltäglichen Gebrauch ist Geld dann plötzlich ein Haufen Scheine und Münzen, die man "getrost nach Hause tragen kann". Für jeden einzelnen Nutzer des Geldes genügt solch eine sinngemäße Betrachtung auch; doch sobald gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge beurteilt werden sollen, reicht sie nicht. Deshalb darf nicht darauf verzichtet werden, sich bei der Behandlung von Geldangelegenheiten der Gemeinschaft, also der Einschätzung der Finanzen in einer Volkswirtschaft beispielsweise, stets darüber im Klaren zu sein, dass der Ausdruck Geldmenge lediglich eine Annäherung an ein abstraktes Gebilde ermöglicht, das sich obendrein ständig in Bewegung befindet. Wir verstehen das nicht; aber wir müssen zumindest eine Ahnung davon haben, um über das Abstraktum zu diskutieren, und um zum Umgang damit Entscheidungen zu fällen.

"Unsere Politiker" haben offenbar nicht genügend "Ahnung" von dem, was sie im Rahmen ihrer finanzpolitischen Pläne und Aktionen zu beachten haben. Dieses fatale Manko fällt nicht auf, weil die politischen Akteure bei den meisten Ökonomen, den meisten Journalisten und in der Bevölkerung auf "Gleichgesinnte" treffen, sodass ihr Unwissen nicht zur Sprache kommt, eben weil es gar nicht erkannt ist. Das drängt uns aber in eine höchst missliche Lage: Wir bewegen uns in einem explosiven Gemisch, wo ein kleiner Funke reicht, um das ganze System in die Luft zu jagen. Und niemand schaut hin; geschweige denn, dem sich abzeichnenden Desaster wird entgegengewirkt. Wie konnte dieses explosive Gemisch entstehen?

Noch einmal: Geld ist nicht existent, wenn es nicht von "hoher Hand" hergestellt, bereitgestellt wird. Das ist keine Hypothese, sondern die schlichte Darstellung eines Tatbestandes. Und genauso gilt: Geld kann nicht in privates Eigentum übergehen, es wird immer nur als Kredit an die Nutzer verteilt, die es so lange und wiederholt einsetzen dürfen, wie seine Summe die Menge aller wirtschaftlichen Leistungen nicht übersteigt. Den Überschuss muss der "Eigentümer", der Staat, wieder einziehen und vernichten. Das liegt jedoch nicht im Interesse derjenigen Privatleute und Unternehmen, die über sehr viel Geld verfügen, und zwar so viel, dass sie nicht alles, viele sogar das meiste nicht, für den Tausch gegen Leistungen nutzen können. Sie und die professionell mit dem Geldgeschäft Befassten, die Banker und anderen Finanzjongleure, behaupten einfach, Geld sei im Grunde eine Privatangelegenheit, bei der der Staat nur die Rolle des "Nachtwächters" oder des Verkehrspolizisten zu spielen hat. Diese Ansicht wurde überall und ständig wiederholt in die Welt posaunt und hat dazu beigetragen, dass die Regierungen heutzutage auch privaten Institutionen gestatten, Geld zu schöpfen, dass auch sie ohne Gegenwert Kredite vergeben dürfen (Die landläufige Auffassung, Banken benötigten zur Vergabe von Darlehen eine Deckung durch Einlagen von Sparern, ist falsch). Private Institutionen treten damit in Konkurrenz zum Staat auf; aber sie bleiben weiterhin unter dem Schutz der staatlichen Hoheit – wenn's regnet, spannt der Schirme auf. Sie produzieren Geld (das dürfen sie übrigens erst seit etwa fünfzig Jahren) und überantworten es der Pflege der Allgemeinheit, die nämlich für die Werthaltigkeit bürgt, weil sie auch Schuldner für privat geschöpftes Geld ist. Da die privaten Geldinstitute aber nicht, wie sie gern behaupten, Hüter der Währung sind, sondern großzügig Kredit vergeben (übrigens auch widersinniger Weise an Staaten), ohne auf die volkswirtschaftlichen Konsequenzen zu achten, erhöht sich die Geldmenge ständig und viel schneller als das Wirtschaftswachstum. Das ist der Grund für die Geldschwemme in der gesamten kapitalistisch organisierten Welt.

Geld kann nicht in privates Eigentum übergehen

Wie gesagt: von diesen Zusammenhängen haben "unsere Politiker" offenbar keine Ahnung. Und sie führen ihre Gefolgschaft – fast alle Bürgerinnen und Bürger in ihrem Machtbereich – wie die Lemminge ins Meer, alle dicht nebeneinander und hintereinander her. Und in dem Gedränge fällt auch kaum jemandem auf, welchen Unsinn unser aktueller Finanzminister und wohl bald Bundeskanzler verbreitet, wenn er in die ihm entgegengestreckten Mikrophone bläst: "Die Steuerschätzung bestätigt unseren Kurs und macht Mut für die Zukunft." Mal abgesehen davon, dass dieser Satz schon sprachlich gruselig wirkt, ist er als Mitteilung eine Zumutung. Denn zunächst einmal werden hier Steuern fälschlicherweise als "Einkommen" des Staates dargestellt, was sie nicht sind; und weiter wird eine Schätzung zur zukünftigen Lage der Wirtschaft vorgenommen, die dem Prinzip des Kaffeesatzlesens recht naherückt. Wir konnten im Zusammenhang mit den Folgen der Corona-Epidemie ja gerade feststellen, welchen Wert derart langfristige Prognosen haben, und müssen uns vor dem Hintergrund der weltweit brodelnden Kriegsgefahr klarmachen, dass Hochrechnungen wie die Steuerschätzung für die kommenden Jahre praktisch wertlos sind. Ist jedoch etwa zu vermuten, mit dem Ausruf des Finanzministers soll der Öffentlichkeit eine Beruhigungspille, ein Antidepressivum, verabreicht werden, dann haben wir das als eine üble Täuschung zu verstehen. Und einer von denen, die sowas predigen, wird wahrscheinlich mindestens vier Jahre lang die Richtlinien der deutschen Politik bestimmen. Das ist höchst gefährlich, weil die realen Verhältnisse sich ja nicht ändern, wenn man sie mit einer Geste der Selbstzufriedenheit wegzuwischen versucht. Da hilft auch nicht, dass die große Mehrheit der Bevölkerung die Mär vom Eintreffen einer Steuerflut zu glauben scheint.

Weil das Geldwesen, so wie es jetzt organisiert ist, ein "Eigenleben" führt, das der Kontrolle durch die Öffentlichkeit entzogen wurde, sich ständig ausweitet und in Lichtgeschwindigkeit um den Globus wabert, ist entweder mit einem Kollaps zu rechnen, oder wir schaffen es doch noch rechtzeitig, den "Leviathan Finanzindustrie", das sagenumwobene Seeungeheuer, zu erlegen. Allerdings haben wir eines hinzunehmen: Die Verhältnisse lassen sich nicht mehr mittels kleiner Stellmotoren korrigieren, dafür sind die Einflüsse der "Systemrelevanten" zu gewaltig. Vielmehr zwingt uns die Lage, jetzt endlich einmal dem herrschenden System an der Wurzel zu Leibe zu rücken. Das wird aber selbst unter Einsatz gewaltiger Kraft nicht auf direktem Wege gelingen, da die die Beharrlichkeit, die dem von "alters her" Überkommenen ungeprüft Bestandserhalt verschafft, in der Gesellschaft und unter den "Experten" zutiefst und fest verankert ist. – Zugegeben, die Kraft der herrschenden Zustände verführt zur Resignation; doch solange wenigstens eine Möglichkeit zu erkennen ist – vielleicht nur als Morgenschimmer am Horizont –, mag es sich lohnen, über Schritte nachzudenken, die aus der misslichen Lage herausführen.

Das ist höchst gefährlich, weil die realen Verhältnisse sich ja nicht ändern, wenn man sie mit einer Geste der Selbstzufriedenheit wegzuwischen versucht

Es fehlt zunächst einmal an der Bereitschaft der "Menschen draußen im Lande", den selbstgewissen Politfunktionären das Feuerholz unter dem Stuhl zu entzünden. Denn erst dann werden sie bereit sein, sich den Aufgaben zuzuwenden, für deren Erledigung sie gewählt wurden. Dass sie dies noch nicht für nötig halten, lässt sich an ihren Äußerungen zur Bildung einer Regierungskoalition ablesen – und zwar sowohl an denen der womöglich Koalitionäre als auch an denen der wahrscheinlich zukünftigen Oppositionellen. Da geistern Sprüche durchs Land wie die Forderung nach einer "Schuldenbremse", der "schwarzen Null", oder Versprechen wie die, Steuererhöhungen kämen nicht in Frage. Außerdem soll kräftig "investiert" werden in Bildung, Digitalisierung und (neuerdings) Gesundheit, ohne dass konkrete Angaben dazu gemacht werden – und nicht zu vergessen die "Elektromobilität". Um die "Finanzierung" der Vorhaben zu sichern, wird der "180-Millarden-Schluck" aus der Steuerpulle gleich mehrfach genommen. Uns liegt ein wortreicher aber gedankenarmer Text der Koalitionsvereinbarung vor, der jedoch kaum zu grundsätzlicher Kritik Anlass geben wird, da sich die Bevölkerung an das stets wiederkehrende Ritual der Regierungsbildung bereits gewöhnt hat und es hinnimmt wie einen nassen und kalten November jedes Jahr. Man kann auch nicht guten Gewissens empfehlen, den Koalitionsvertrag zu lesen.

Wir werden deshalb leider darauf warten müssen, bis die Schwächen der herrschenden Geldvorstellung, des Glaubens an dessen unüberwindliche Macht, offengelegt sind, und zwar für möglichst Viele sichtbar. Erst dann wird sich Widerstand formieren können, der dem Mythos den Garaus verpasst. Hierfür lässt sich ein Schimmer am Morgenhimmel aber bereits ausmachen; denn die vielen Unbilden unserer Tage: die Zerstörung der Umwelt, die klimatischen Veränderungen, der Raubbau an natürlichen Rohstoffen oder die anschwellenden Völkerwanderungen, sind alle eng verbunden mit der Gewalt, die von den Geldmächtigen ausgeht. Daher ist anzunehmen, dass der inzwischen weltweit erkennbare Unmut, besonders der Vertreter der jüngeren und jüngsten Generation, über die Gleichgültigkeit der machtausübenden Institutionen nicht nur anwachsen, sondern auch auf das Feld der Finanzen überschwappen wird. Die Frage nach den Ursachen wird sich in den Vordergrund drängen, und die Suche nach den sie verbindenden Kräften wird zwangsläufig helfen, dem Geld auf die Schliche zu kommen. Das verspricht zwar, ein lang andauernder und von Rückschlägen gezeichneter Prozess zu werden; aber es wird der einzige sein, der wenigstens Aussicht auf Erfolg zeigt. Geduld aufzubringen, wo im Zeichen der lichtgeschwinden Verbreitung von Daten und unter dem Joch des Zwangs zur schnellen Reaktion alles auf Be- statt auf Entschleunigung deutet, ist jedoch eine unabdingbare Forderung, die wir zu erfüllen haben, wollen wir die Chance auf eine Wende zum Besseren wahren.

Mit dieser Vorgabe im Gepäck, können wir das Theater der Politschausteller unserer Tage getrost durchwinken; denn deren Ansichten sind den Überlieferungen aus vergangenen Epochen entsprungen und können auch in moderierter Form keinen Anstoß für eine positive Entwicklung in die Zukunft sein. So dürfen wir den Spruch des Bald-Kanzlers, die Steuerschätzung mit ihrem 180-Milliarden-Schluck mache "Mut für die Zukunft", und Deutschland sei "finanziell gut aufgestellt", getrost ins Feld der Realsatire verbannen. So, wie wir als Antwort auf den Wortschwall im Koalitionsvertrag "Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit" sagen können: Diesen Supermarktkatalog von unverbindlichen Angeboten (solange der Vorrat reicht) sollten wir der Firma Amazon zur Erledigung übertragen – und den Versandhändlern gleichzeitig vorschlagen, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Die sorgen dann für eine Anlieferung frei Haus. Schlimmer als jetzt zu befürchten, würde es dann wahrscheinlich nicht kommen. Solange wir diese Strukturen des politischen Establishments noch ertragen müssen, ist es die zweckmäßigste Reaktion, sie gar nicht ernst zu nehmen. – Und, Hand aufs Herz: Es ist unerheblich, wer von den Politfunktionären an die Fleischtöpfe des Regierens gelangt; sie sind alle nicht auf der Höhe der Probleme angelangt. Wir müssen versuchen, den Aufklärungsprozess in Gang zu halten und den Jüngeren in unserer Gesellschaft die Chance geben, Widerstand zu leisten.

Der Beitrag erschien auch im Blog Zeitbremse.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

zeitbremse

Mein zentrales Thema: die direkte Demokratie, dazu: "Die Pyramide auf den Kopf stellen", Norderstedt 2008.

zeitbremse

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