Tages Gericht

Ostharz: Justitia lächelt kalt - ein Roman in Fragmenten

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Gut zwanzig Minuten vor dem Gerichtstermin füllt die hochfrequente Stimme Frau Keysers nervös vibrierend den engen Flurabschnitt, mit einem leicht kratzenden Seufzer fällt die jäh aufgestoßene Glastür zurück in ihren Rahmen, als Frau Keyser die Anwesenheit ihres ehemaligen Chefs bemerkt, sich aber sofort dagegen entscheidet, ihn wahrzunehmen.... an ihren Mann wendet sie sich also, der sie begleitet.... Du musst Dich noch umziehen.... sind wir schon zu spät?

Ihre Klage wird heute vor dem Arbeitsgericht verhandelt.

Schwungvoll öffnet sie die kräftige Holztür, schreckt zurück, denn der Verhandlungsraum ist noch besetzt.... erst wenige Minuten vor dem festgesetzten Termin stößt der Vertreter der Verteidigung zum Beklagten, ein junger Rechtsanwalt, der den Geschäftsführer aus Quedlinburg in einen leeren Besprechungsraum schiebt.... Können Sie das Gehalt jetzt auszahlen? fragt der Anwalt, und der Vertreter der beklagten Firma zuckt nur ratlos mit den Schultern: Nein, es geht leider nicht, wir müssen wieder Raten vereinbaren.....

Ja, zur Verhandlung hat Herr Keyser die Anwaltsrobe angelegt, Satz für Satz wird die Klage erörtert, Zahl um Zahl die Schuld errechnet: Nein, wir bestreiten die Forderung nicht.... Als der Anwalt der Beklagten Anzahl und Höhe der Raten benennt wie mit dem Mandant besprochen, starrt Frau Keyser ungläubig zum Richter.... erwartet er etwa, diese Lächerlichkeit zu akzeptieren?

Sie holt tief Luft, ihre Empörung sucht eine scharfe Waffe.... wenn Sie nicht zahlen können, müssen Sie Insolvenz anmelden! herrscht ihre höchste Stimmlage quer durch den Raum..... ein erregter Disput schließt sich an, ungläubige Wut, die im Laufe der nächsten viertel Stunde zum Groll einer Gläubigerin wider Willen ermüdet.... die Verteidigung ist hart geblieben, die Streckung über sechs Raten ist von der Klägerin hinzunehmen.... ohne ihren Schuldner noch einmal anzusehen, verlässt sie den Saal, die weite Robe ihres Mannes flattert schwarz einige Schritte hinter ihr aus dem Raum.....

An diesem Nachmittag wählt er wieder die Nummer in Wernigerode.... er hat sie vielfach probiert in den letzten Woche, wurde aber stets vertröstet.... heute kommt die Verbindung endlich zustande: Hier spricht Landrat Ärmlich! meldet sich eine verhaltene Stimme..... der säumige Schuldner, der Beklagte nennt jetzt seinen Namen... will selbst eine Forderung vortragen: der Landkreis ist sein Schuldner.

Ihren Namen kenne ich, erwidert der Landrat mit deutlichem Tadel in der Stimme... Sie verfolgen mich seit Wochen mit Ihren Anrufen!

Ich möchte Sie dringend bitte, die Entscheidung Ihrer Amtsleiterin zu überprüfen, bringt der Anrufer jetzt vor, wir haben die Ausführungsplanung abgegeben, aber sie hat uns nur sechzig Prozent bezahlt! Eine Rechnungskürzung in dieser Höhe ist nicht gerechtfertigt!

Es knackt kurz in der Leitung.... hat der Landrat schon aufgelegt?

Frau Bramm hat mir bereits berichtet..... die Pläne von Bauprojekt sind fehlerhaft .... die Höhe unserer Zahlung ist angemessen, sagt Frau Bramm, sie ist vom Fach... Wenn Sie anderer Meinung sind, müssen Sie diese Frage eben juristisch klären....

Ich bitte Sie, Herr Ärmlich, der Bauherr muss uns die Mängel genau benennen, und er muss uns Gelegenheit geben, die Pläne nachzubessern! Wir sind auf Ihren Wunsch eingegangen, den Vertrag zu beenden, wir haben alle Unterlagen an den Bauleiter übergeben, den Frau Bramm genannt hat, inzwischen auch das fehlende Farbkonzept, das sie angeführt hat...

Ich bin kein Jurist, beendet der Landrat das Gespräch kühl, dazu kann ich nichts sagen....

Der Architekt lässt das Telefon sinken, feine graue Linien zeichnet die neue Enttäuschung in sein Gesicht.... nein, nein, er wird nicht klagen, dazu fehlt des Geld, seit Wochen pendelt der Pegelstand des Firmenkontos immer nur knapp über dem Limit, keine Erholung, nur geringfügiger Zufluß..... es reicht für die Bankrate, aber die letzten beiden Mieten sind noch nicht bezahlt, nicht Januar, nicht Februar.

Abends geht der Enttäuschte zum wöchentlichen Stammtisch der Alten Freunde, vertraut noch der Weg über das gescheckte Kopfsteinpflaster der gewundenen Gassen bergauf zum Quedlinburger Schloss, die kühle Märzluft klärt die verknäulten Gedanken, oben füllt der warme Lichtschein den Aurora-Saal..... die Kündigungen in seinem Büro hat niemand vom Verein der Alten Freunde angesprochen, aber die Plätze an seiner Seite bleiben gelegentlich etwas länger frei, wenn er den Weg zum Stammtisch findet....

An diesem Abend ist Besuch aus Magdeburg gekommen, er hat es ganz vergessen, der Wirtschaftsminister des Landes Sachsen-Anhalt gibt sich heute die Ehre..... in fünf Monaten ist Wahltag. Eingeladen haben ihn die Firmenchefs unter den Alten Freunden.... und so schenkt der Minister jedem in der Runde großmütig ein Stückchen landesherrschaftlicher Aufmerksamkeit: Wie hoch der Umsatz....? Wie viele Mitarbeiter....? nickt kurz zur Anerkennung.... Hier sitzen die wichtigsten Arbeitgeber der Region, äußert er seine Freude, Sie und Ihre Unternehmen sind die wichtigsten Garanten für eine wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft....

Nein, einen hohen Gast soll man nicht enttäuschen, man darf nicht fragen, warum der Landrat und seine Amtsleiterin eine Rechnung nicht bezahlen müssen.... Kurz nur flackert der Gedanke auf, aber als sich die Aufmerksamkeit des Ministers in die Richtung des enttäuschten Architekten wendet, findet der schnell ein paar kurze Wendungen, Umbau der Förderkulissen... wechselnde Auftragslage... Neustrukturierung.... und dann laufen Frage und Antwort an den nächsten in der Reihe.... hoffnungsfroh nimmt der Minister jeden weiteren potentiellen Wähler wahr.

Der Architekt lehnt sich zurück, als gehöre er gar nicht mehr dazu, und so ist es wohl auch..... denn wahrscheinlich ist er in dieser Runde der einzige, der bei der ARGE Quedlinburg Alg II zur Grundsicherung beantragt hat. Jeder kennt den mächtigen weißen Bau der ARGE im Neuen Weg, früher wurden dort die Erzeugnisse der Quedlinburger Saatzüchter weltweit verkauft.....

Hier endet der 357. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

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