In letzter Zeit mehren sich die Zweifel, ob Berlin noch das bessere New York ist (billiger, liberaler)? Oder ist die Stadt schon wieder out? Irgendwo konnte man lesen, dass Sotschi eine wirklich aufregende Gay-Szene hat, und das Berghain nicht mehr das sei, was es mal war, was wiederum im New Yorker dementiert wurde. Aber ist der New Yorker noch, was er einmal war? Das „Kumpelnest 3000“ ist es jedenfalls nicht, soviel steht fest. Den kleinen Club in Berlin-Schöneberg gibt es seit 1887, sorry, seit 1987, die Einrichtung stammt aus dem Puff, der davor drin war, roter Plüsch, Spiegel, enger Tresen. Früher war der Laden fest in der Hand der Westberliner Boheme.
Vergangenen Freitag traf ich mich mit meinem Freund P. nach langer Abstinenz dort wieder. Als wir kamen, war noch nichts los, am Tresen kauerten zwei, die von Musik und Drogen gezeichnet waren. P., der in den Anfangsjahren im Kumpelnest gekellnert hatte, kannte das Paar von früher. Wir hatten eine wichtige Sache zu besprechen, aber irgendwann schreckte ich kurz auf, als junge Menschen hereinstürmten und alberne Bons vorzeigten, mit denen die Barfrau nichts anfangen konnte. Sie kamen von einer Vernissage. Wir vertieften uns wieder in unser Gespräch. Als ich das nächste Mal aufschreckte, war ich von jungen Amerikanern umrundet. Einer schaute mich an, wie ich wohl das Pärchen angeschaut hatte, mit einem sehnsüchtigen, gierigen Blick, der besagte: Du bist hier die Geschichte, deine Aura wärmt mir das Herz, dich saug’ ich eben mal auf.
Wir müssen vom Vampirismus sprechen, wieder einmal. Wer über den ästhetisierenden Blick auf die Stadt diskutieren will, kommt nicht darum herum. Der heilige Text wurde am 3. August 2002 von Mark Siemons in der FAZ veröffentlicht. Seine Thesen zum „Kultur-Vampirismus“ sind so einfach wie schlagend: Für gewisse Menschen ist eine Stadt nur dann faszinierend, wenn sie das Leben aus ihr saugen können. Diese Menschen können Künstler, Redakteure, Hipster, Werbeleute, Kinogänger oder einfach Touristen sein. Ihnen stehen Menschen gegenüber, die ein normales, „authentisches“, mit der Geschichte der Stadt oder der location gleichsam organisch verbundenes Leben führen. Dieses Blutsaugen, sagt Siemons, geht nur so lange gut, bis eine kritische Masse erreicht ist. Wenn in der Neuköllner Eckkneipe nur noch Studenten aus Spanien oder dem Sauerland sitzen, wird es erst für die Avantgarde langweilig, irgendwann für alle Studenten. Die Karawane zieht weiter. Siemons rechnete das ideale Verhältnis auf eins zu zehn um. Ein Vampir auf zehn Echtmenschen.
Es ist evident, dass die Mischung in Berlin „gekippt“ ist. Analog zur Einsicht, dass es nur noch Pop gibt, und kein „Außen“ mehr, nähern wir uns Zuständen, in denen es nur noch Vampire gibt. Aber statt zu jammern, sollten wir wohl lernen, innerhalb dieses Vampirismus zu unterscheiden. Nehmen wir den Abend im Kumpelnest. Mich wärmte nicht nur die Nähe des Pärchens von 1987 in der Ecke, ich wärmte mich auch an der Kumpelnest-Vergangenheit meines Freundes. Mehr noch, ich fragte die sehr junge Bedienung, als P. aufs Klo ging, ob ihr eigentlich klar sei, wer da eben aufs Klo gegangen sei. Es war ihr klar. Nun, dieser Vampirismus ist vermutlich noch viel fragwürdiger als der eines jungen Amerikaners, der halt im Lonely Planet von einem weiteren Berliner „Geheimtipp“ gelesen hat. Mark Siemons ist heute übrigens Kulturkorrespondent in Peking. Dort hat man andere Sorgen.
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