Der Ukraine-Krieg hat sich dreimal gewandelt – 2022 kennzeichnete ihn eine verhältnismäßig stark pendelnde Frontlinie, 2023 wurde er zunehmend aus gesicherten Stellungen heraus geführt und erinnerte an die Grabenkämpfe des Ersten Weltkrieges in Frankreich. 2024 ist es mit einer fast eingefrorenen Frontlinie vorbei, weil russische Verbände in eine schleichende Offensive übergehen und die Front langsam, aber stetig eindrücken. Das gilt für Robotyne im Oblast Saporischschja ebenso wie für das Gebiet westlich von Awdijiwka, wo der ukrainische Widerstand Meter um Meter seiner Defensivlinie zwischen Berdychi und Tonenke verliert. Im Norden von Bachmut könnte es um die Stadt Tschassiw Jar am Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanal zur nächste
sten größeren Schlacht kommen.Die ukrainische Armee leidet massiv unter der russischen Übermacht bei schwerer Artillerie und dem rasant wachsenden Einsatz von Lenkbomben der Typen FAB-500 bis FAB-1500, die durch ein Zusammenspiel von Sprengkraft und Treffsicherheit selbst tief einbetonierte Stellungen vernichten können. Zuletzt meldeten sowohl ukrainische wie auch russische Quellen, dass der Einsatz von FAB-3.000 bevorstehen könnte, deren potenzielle Zerstörungskraft von einigen Militärexperten mit „kleineren“ taktischen Kernwaffen verglichen wird.Dazu macht sich der Personalmangel für die ukrainischen Kräfte bemerkbar, weil es kaum noch Freiwillige gibt und eine verpflichtende Rekrutierung angesichts hoher Verluste auf wachsenden Widerstand in der Bevölkerung trifft. Ein Gesetz zur Mobilmachung ist nach wie vor nicht verabschiedet. Keine Partei im Parlament will die Verantwortung für das aus militärischer Sicht überlebenswichtige, aber in gesellschaftlicher Hinsicht extrem ungeliebte Dekret übernehmen. Umstände wie diese versetzen die Armee derzeit womöglich in ihre kritischste Phase seit Kriegsbeginn, zum Ausdruck gebracht durch eine um 180 Grad gewendete Rhetorik. Vom „baldigen Kollaps der russischen Truppen“ ist so wenig die Rede wie von „einer ukrainischen Frühjahrsoffensive“. Fast schon grotesk wirken einstige Ankündigungen ukrainischer Offizieller, dass man „noch im Sommer auf der Krim-Promenade Kaffee trinken“ werde – gemeint war der Sommer 2023. Stattdessen werden wegen möglicher russischer Offensiven Verteidigungsanlagen mit Bunkern, Panzersperren, Minenfeldern und tief gestaffelten Schützengräben weit abseits der aktuellen Frontlinie bei Charkiw, Sumy, Odessa sowie an der Grenze zu Belarus ausgebaut.Das hat eine Debatte in Russland wie in der NATO zur Folge, die sich auf eine „europäische Intervention“ in der Ukraine bezieht, seit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Truppeneinsatz erwogen hat. Mittlerweile wird keine Option mehr ausgeschlossen, solange dadurch eine Totaleskalation zwischen dem Westen und Russland vermieden wird. Im französischen Fernsehen wurden Einsatzszenarien für eigene oder europäische Truppen diskutiert, die eine direkte Konfrontation mit russischen Verbänden ausschließen, aber ukrainischen Truppen maximal unter die Arme greifen.Strategische Optionen der UkraineDie drei sich herausschälenden Varianten sind eine Stationierung in der Zentral- und Westukraine, um bei der Logistik und Raketenabwehr zu helfen. Dadurch würde es möglich, im Hinterland gebundenes ukrainisches Militär an die Front zu schicken. Zum Zweiten wird an eine Stationierung europäischer Soldaten an der weißrussischen Grenze gedacht, um den Norden abzusichern und bis zu 140.000 ukrainische Soldaten für den Osten freizusetzen. Schließlich firmiert als „pessimistischstes Szenario“ eine Dislozierung französisch-europäischer Truppen entlang des Dnjepr, sollten Städte wie Odessa oder Kiew in Gefahr geraten.All diese Intentionen implizieren, dass die einzige strategische Option für die Ukraine derzeit allein eine tiefe Defensive ist, um das russische Offensivmomentum zu überstehen und zugleich mit westlicher Unterstützung mittelfristig neue Kräfte im Hinterland zu konzentrieren. Hoffnungen auf ein schnelles Kriegsende sind damit heute trügerischer denn je. Kiew hat bei der gescheiterten Sommeroffensive 2023 eigene Ressourcen, einen Großteil des westlichen Waffentransfers und teilweise die kampfstärksten Einheiten verpulvert. Diese Kapazitäten nur ansatzweise zurückzugewinnen, kann Jahre dauern. Der Kreml sieht sich auch aus diesem Grund auf lange Sicht militärisch klar im Vorteil und erwägt es erst gar nicht, auf ein Einfrieren der Front hinzuarbeiten. Demnach kämen Gefechte in neuen Kampfgebieten ebenso in Betracht wie verschärfte Drohnen- und Raketenangriffe auf die gegnerische Infrastruktur. Zudem zeichnet sich eine zweite Mobilmachung ab, wozu es bereits einen Erlass von Wladimir Putin gibt.Das würde in der russischen Gesellschaft zwar hohe Wellen schlagen, aber angesichts der Kriegslage und der medialen Wiedergabe leichterfallen als im September 2022. Nicht auszuschließen, dass der russischen Regierung der grausame Anschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau mit 150 Toten als Vorwand für eine Eskalation in der Ukraine dient. Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hat die Verantwortung für die Attacke übernommen, dennoch äußeren verschiedene russische Offizielle nach wie vor, dass der ukrainische Geheimdienst direkt oder indirekt mit den IS-Terroristen in Kontakt gestanden habe. Doch ergäbe sich aus dem Attentat vom 22. März wohl nicht die einzige Begründung für mehr Angriffswucht. Die unbefriedigende Sicherheitslage in der Grenzregion zwischen dem russischen Belgorod und dem ukrainischen Charkiw ließe sich ebenfalls geltend machen. Täglich kommt es dort zu schweren Gefechten und gegenseitigem Beschuss über die Grenze hinweg. Mehrfach rückten ukrainische Verbände am Boden auf russisches Territorium vor. Raketen und Drohnen dringen mittlerweile bis ins Stadtzentrum von Belgorod vor, sodass die Zahl ziviler Opfer in der Stadt und ihrer Umgebung steigt. Für den Kreml wäre die Lage innenpolitisch eine Art Blankoscheck, um zur „Verteidigung von Kernrussland“ neue Rekrutierungen auszurufen.Das rhetorische Vorspiel gab es Mitte März, als Präsident Putin erklärte, es könnte sich als notwendig erweisen, einen „Cordon sanitaire“ auf ukrainischem Terrain entlang der Grenze einzurichten, um den Beschuss von russischem Gebiet zu stoppen. Denkbar wäre eine Pufferzone bis zu einer Tiefe von mindestens 40 Kilometern entlang der gesamten russisch-ukrainischen Grenze. Die hieße freilich, dass sich die Länge der Front in etwa verdoppeln würde und eine neue Mobilmachung in Russland definitiv unvermeidlich wäre.