Die undemokratische Demokratie

Volkswillen? Demokratische Willensbildung ist ein kontinuierlicher Prozess. Volksabstimmungen, die auf einfachen "Ja-Nein-Voten" basieren, bringen diesen Prozess eher zum Stillstand

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Die undemokratische Demokratie

Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP/Getty Images

Die britische Regierung darf nicht allein über den Brexit bestimmen. Sie muss das Parlament in den Verhandlungsprozess mit der EU einbeziehen. So hat es der Supreme Court in dieser Woche letztinstanzlich verfügt.

Ein logisch klingendes Urteil, das einen deshalb auch nicht weiter beschäftigen müsste – hätte hier nicht ausgerechnet im Land der Magna Charta eine Premierministerin versucht, am Parlament vorbei zu regieren. Interessant ist dabei vor allem die Begründung, die sie dafür geliefert hat: Das Volk habe bereits sein Votum abgegeben, deshalb müsse das Parlament, als Repräsentant eben dieses Volkes, nicht mehr gefragt werden. Es bestehe die Gefahr, dass der Wille des Volkes ansonsten verfälscht werde.

Eine interessante Argumentation. Tagein, tagaus treffen die Parlamentarier Entscheidungen über den Kopf des Volkes hinweg, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, ob es für die konkreten Gesetzesvorhaben eine Mehrheit bei den Wahlberechtigten gibt oder nicht. Hier gilt stets: Die Parlamentsmehrheit ist das, was zählt, Einzelentscheidungen haben das Volk nicht zu interessieren. Am Ende der Wahlperiode wird Bilanz gezogen, in der Zwischenzeit entscheiden andere, was gut ist für "das Volk".

Natürlich weiß man, warum die britische Regierung das Parlament gerne aus dem Verhandlungsprozess über den Brexit herausgehalten hätte: Viele Parlamentarier waren und sind diesem gegenüber kritisch eingestellt. Die harte Position der Regierung droht so aufgeweicht und ihre Verhandlungsposition geschwächt zu werden.

Die von der Regierung vor Gericht vertretene Argumentationslinie wirft darüber hinaus jedoch auch allgemein ein Schlaglicht auf fragwürdige Entwicklungstendenzen in den westlichen Demokratien. So ist sie mit ihrer Forderung, der "Wille des Volkes" habe in jedem Fall respektiert zu werden, ja keineswegs allein. Mit demselben Argument ist auch gefordert worden, das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA oder auch das des Referendums über den Friedensprozess in Kolumbien zu respektieren.

Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist: Wer ist das eigentlich – "das Volk"? Im Falle des Brexit-Votums lässt sich konkret festhalten: Bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 % haben sich 51,9 % für den Brexit ausgesprochen. In absoluten Zahlen sind das bei insgesamt 46,5 Millionen Wahlberechtigten 17,4 Millionen Menschen. Die städtische Bevölkerung war tendenziell eher gegen den EU-Austritt, die ländliche eher dafür. Jüngere Briten wollten eher in der EU bleiben, ältere eher austreten. Schotten und Nordiren haben mit deutlicher Mehrheit (62 bzw. 56 %) gegen den Brexit votiert, Engländer und Waliser waren mehrheitlich (je 53 %) dafür. So betrachtet, zerfällt "das Volk" in eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Gruppen mit je eigenen Präferenzen. Hinzu kommt, dass die Wahlentscheidung eine Momentaufnahme war. Hätte die Abstimmung unmittelbar nach dem Mord an der beliebten "Remainerin" Jo Cox stattgefunden, wäre sie vielleicht anders ausgegangen.

Was die Präsidentschaftswahlen in den USA anbelangt, so kann man noch viel weniger davon sprechen, dass die Inauguration Donald Trumps als Präsident der Vereinigten Staaten dem "Willen des Volkes" entspricht. Denn Trump ist ja bekanntlich gar nicht von der Mehrheit der Wahlberechtigten gewählt worden. Sein Wahlsieg beruht lediglich darauf, dass in den USA die Ergebnisse der Bundesstaaten einzeln gezählt werden. Bei einer gleichen Gewichtung aller Stimmen hätte Hillary Clinton die Wahl mit einem Vorsprung von 2.864.974 oder 2,1 % der abgegebenen Stimmen gewonnen.

Was hier als "Wille des Volkes" für sakrosankt erklärt wird, beruht also in Wahrheit auf fragwürdigen oder zufallsgesteuerten Wahlprozeduren. Auch unabhängig davon repräsentiert jedoch weder das Brexit-Votum noch der Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA den Willen "des" Volkes. In beiden Fällen hat jeweils knapp die Hälfte der Wahlberechtigten durch das festgelegte Wahlprocedere einen Sieg errungen und leitet daraus die Berechtigung ab, der anderen Hälfte des Volkes ihren Willen aufzuzwingen. Dies aber ist das Gegenteil demokratischer Entscheidungsprozesse, bei denen es immer um den Ausgleich von Mehrheits- und Minderheiteninteressen geht und nicht, wie bei einem Hundertmeterlauf, darum, aufgrund einer Millimeterentscheidung das gesamte Preisgeld abzuräumen.

Wenn beim Brexit-Votum oder im Zusammenhang mit den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen vom "Willen des Volkes" die Rede ist, wird also eine Entität suggeriert, die so de facto gar nicht existiert. Hinzu kommt in beiden Fällen, dass der vermeintliche Volkswille durch manipulative Wahlwerbung, nachweislich falsche Behauptungen und uneinlösbare Versprechen in die gewünschte Richtung gelenkt worden ist. Auch dies freilich wird von denen, die hiervon profitieren, noch als "Volksnähe" verkauft, da die entscheidenden Vermittlungsinstanzen dafür die sozialen Medien waren – die eine Illusion von Mitbestimmung und Mitredenkönnen schaffen, faktisch aber längst – in teilweise automatisierter Form (Stichwort "social bots") – für die Aushöhlung des freien Wählerwillens instrumentalisiert werden.

In der Summe haben wir also fragwürdige Wahlprozeduren, die dazu noch durch eine Untergrabung der geistigen Autonomie der Wählenden in manipulativer Weise beeinflusst werden. Wenn das Ergebnis derartiger Wahlen dann als nicht zu hinterfragender "Volkswille" hingestellt wird, so drückt sich darin keine besondere Volksnähe aus. Vielmehr manifestieren sich hierin eben jene totalitären und propagandistischen Tendenzen, die auch schon den Wahlprozess selbst begleitet haben.

Die Bedrohung der Demokratie ergibt sich damit hier auf mehreren Ebenen:

  1. Der demokratische Entscheidungsprozess wird auf rein formale, prozedurale Elemente reduziert. Je mehr dabei komplexe Sachverhalte in einer einzigen abstrakten Frage gebündelt werden, desto mehr dienen Referenden de facto der Abschaffung der Demokratie: Das Volk darf "Ja" zum Brexit sagen – wie dieser aber konkret aussieht, hat noch nicht einmal das Parlament zu interessieren.
  2. Einfache Ja-Nein- bzw. Entweder-Oder-Voten beschädigen den Kern der demokratischen Kultur. Sie zementieren antagonistische Strukturen, anstatt den Dialog und den beständigen Ausgleich zwischen den divergierenden Interessen zu fördern.
  3. Die Konzentration auf formale Entscheidungsprozeduren verstellt letztlich den Blick auf substanzielle Formen von Demokratie, also die echte Partizipation, im Sinne der konkreten Mitbestimmung und Mitgestaltung sozialer und ökonomischer Prozesse durch die in einem Gemeinwesen lebenden Menschen.

Gerade diejenigen, die sich am lautesten als Repräsentanten des Volkes anpreisen, erweisen sich so oft als die größten Feinde der Demokratie. Donald Trump, der große Volkstribun, ist dafür aktuell das beste Beispiel. Die Art, wie er gegen die freie Presse pöbelt, kritische Fragen unterbindet oder seine Steuererklärung mit fadenscheinigen Begründungen unter Verschluss hält, zeugt von Selbstherrlichkeit und Intransparenz. Seine Volksnähe reduziert sich auf die Übernahme von Stammtischparolen, mit denen er seine von oligarchischen Interessen geleitete Politik kaschiert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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