Bei seinem Türkeibesuch kritisierte der britische Premier Israel scharf – und die Blockade eines türkischen EU-Beitritts durch Deutschland und Frankreich
Bei seinem heutigen Besuch in der Türkei mischte sich Großbritanniens Premier David Cameron so sehr in den scheinbar unlösbaren Nahostkonflikt ein wie noch nie, als er den blockierten Gaza-Streifen als ein „Gefangenenlager“ bezeichnete. Obwohl er sich schon zuvor in ähnlicher Weise geäußert hatte, gab die Entscheidung, diese Worte nach dem Angriff der israelischen Armee auf die sogenannte Gaza-Flotte zu wiederholen, Camerons Einlassung eine wesentlich größere diplomatische Bedeutung.
Camerons diesbezügliche Äußerungen im Rahmen einer Rede vor türkischen Geschäftsleuten veranlassten den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan zu einer weiteren scharfen Verurteilung des israelischen Vorgehens. Cameron formuliert
Übersetzung: Holger Hutt
formulierte seine Kritik im Rahmen einer Aufforderung an Israel, die Blockade des Gaza-Streifens zu lockern. „Die Situation in Gaza muss sich ändern. Humanitäre Güter und Menschen müssen ein- und ausreisen dürfen. Man kann und darf nicht zulassen, dass Gaza ein Gefangenenlager bleibt.“Auch in anderer Hinsicht verbündete sich Cameron mit seinen türkischen Gastgebern. Er stellte den Widerstand Deutschlands und Frankreichs gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei in Frage gestellt und warnte eindringlich vor den Gefahren, die ein Ausschluss Ankaras „aus dem Club“ mit sich bringen würde. In einer leidenschaftlichen Verteidigung der Türkei, für deren EU-Ambitionen sich Großbritannien schon seit langem stark macht, warf der britische Premier Deutschland und Frankreich Doppelmoral vor: Einerseits erwarte man von Ankara, als Nato-Mitglied die europäischen Grenzen zu beschützen, andererseits schlage man dem Land aber gleichzeitig die Tür zur EU-Mitgliedschaft vor der Nase zu.„Wenn ich daran denke, welche Verdienste sich die Türkei als Nato-Mitglied für die Verteidigung Europas erworben hat und was sie in Afghanistan zusammen mit unseren europäischen Verbündeten leistet, dann macht es mich wütend, wenn Ihre Fortschritte auf dem Weg zu einer EU-Mitgliedschaft so zunichte gemacht werden, wie dies geschehen ist“, sagte Cameron bei einer Rede in der türkischen Hauptstadt Ankara. „Ich halte es für falsch zu sagen, die Türkei kann das Lager bewachen, aber sie darf nicht im Inneren des Zeltes Platz nehmen.“ Cameron hatte seinen Türkei-Besuch gestern mit einem Abendessen mit Premierminister Erdogan begonnen und besuchte heute morgen das Atatürk-Mausoleum. Am Nachmittag fliegt er zu einem dreitägigen Besuch nach Indien weiter.Die deutlichen Worte, die Cameron in seiner heutigen Rede fand, spiegeln die britische Enttäuschung darüber wider, dass die Verhandlungen mit Ankara praktisch schon auf Eis liegen, seit sie 2005 formell aufgenommen wurden. Der Streit mit Zypern und die Weigerung der Türkei, ihre Häfen für Waren aus dem griechischen Teil Zyperns zu öffnen, blockieren die Fortsetzung der Gespräche. Im März beschuldigte Erdogan Angela Merkel des „Hasses“ gegenüber der Türkei – Merkel fordert für die Türkei eine privilegierte Partnerschaft mit der EU. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy lehnt eine EU-Mitgliedschaft der Türken strikt ab.Frankreich bedachte Cameron in seiner Rede mit besonders scharfen Worten, als er seine Zuhörer daran erinnerte, die Briten wüssten, was es heißt, von Frankreich blockiert zu werden. Er zitierte General Charles de Gaulles berühmtes „non“ der Jahre 1963 und 1967 zu einem Beitritt der Briten zur damaligen Gemeinsamen Wirtschaftszone: „Wissen Sie, wer gesagt hat: 'Hier ist ein Land, das nicht zu Europa gehört. Seine Geschichte, seine geographische Lage, seine Ökonomie, seine Landwirtschaft und der Charakter seiner Menschen – auch wenn es sich um bewundernswerte Menschen handelt – das alles weist in eine andere Richtung. Dies ist ein Land, das, entgegen dem, was es behauptet und möglicherweise sogar selbst glaubt, kein Vollmitglied werden kann.' Man könnte meinen, hier beschreibe irgendein Europäer die Türkei, aber es sind die Worte, mit denen General de Gaulle das Vereinigte Königreich beschrieb, bevor er mit seinem Veto dessen Beitritt zur EU verhinderte. Wir wissen, wie es ist, aus dem Club ausgeschlossen zu werden. Aber wir wissen auch, dass diese Dinge sich ändern können.“Die Worte de Gaulles fanden in denen eines seiner Nachfolger, Válery Giscard d’Estaing, einen Nachhall, der die französische Ablehnung der Türkei mit den Worten zusammenfasste, das Land sei zu arm, zu groß und zu verschieden. Cameron widersprach dieser Sicht und kritisierte diejenigen Europäer, die die Welt fälschlicherweise „durch die Brille eines Kampfes der Kulturen“ betrachteten: „Die Türkei kann in Bezug auf die Vermittlung und Zusammenführung Großes leisten. Denn anstatt sich zwischen West und Ost zu entscheiden, hat die Türkei sich für beides entschieden. Und es ist dieses Potenzial, West und Ost zu vereinigen, das der Türkei eine solch wichtige Rolle dabei zukommen lässt, mit anderen Ländern in der Region zusammen dabei mitzuhelfen, unser aller Sicherheit zu erhöhen.“Camerons Rede kommt zu einem Zeitpunkt, da in Großbritannien die Angst wächst, die deutsch-französische Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft könnte Ankara dazu bringen, sich von der EU abwenden und sein Glück stattdessen im Osten zu suchen. In London ist man der Ansicht, der jüngste Bruch zwischen Ankara und Tel Aviv im Zuge des Streits um die Tötung sieben türkischer Staatsbürger beim Stopp der „Free Gaza“-Flotte wäre leichter zu bewältigen gewesen, wenn die Türkei im Westen eine Zukunft für sich sähe.Cameron sagte, die Türkei müsse das Gefühl haben, in Europa willkommen zu sein, schließlich sei sie ein säkularer und demokratischer Staat. Ausdrücklich wandte er sich auch an die muslimische Mehrheit der Türken, indem er betonte, wie wichtig der Islam für Europa sei: „Ich werde immer die Auffassung vertreten, dass die Werte des wahren Islam mit den Werten Europas nicht inkompatibel sind, und dass Europa sich nicht über Religion definiert, sondern über Werte.“Die Türkei müsse allerdings die innenpolitischen Reformen weiter vorantreiben, um auf dem Weg zum EU-Beitritt weiter voran zu schreiten. Die Türkei hat bislang nur sehr zögerlich Reformen durchgeführt, um sich in Einklang mit den liberalen Traditionen der EU zu setzen. „Ich fordere Sie nicht auf, ein anderes Land zu werden, Ihre Werte, Traditionen und Ihre Kultur aufzugeben. Wir wollen Sie als Türkei, denn nur als solche können Sie die einzigartige Rolle spielen und, wie ich beschrieben habe, zur Erhöhung der Sicherheit und des Wohlstands für alle unsere Bürger beitragen. Aber wir möchten, dass Sie die von der EU geforderten Reformen offensiv vorantreiben.“