Westeuropa droht Job-Kollaps

TTIP Das gigantische Freihandelsprojekt soll Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. Doch eine Überprüfung der Versprechen liefert erschreckende Ergebnisse

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Westeuropa droht Job-Kollaps

Bild: OLIVIER MORIN/AFP/Getty Images

Die Verhandlungen um die Schaffung eines transatlantischen Markts erhitzen seit Monaten die Gemüter. Eine Konferenz der Linksfraktion im EU-Parlament stellte diese Woche die vermeintlichen Vorteile des Freihandelsprojekts in den Mittelpunkt. Denn soll das Abkommen nicht nach jahrelanger Stagnation und Krise dazu dienen, erneut das Wirtschaftswachstum anzukurbeln?

Von den Verteidigern des Handelsprojekts werden beeindruckende Zahlen ins Feld geführt. So soll das Einkommen eines EU-Haushalts durch den TTIP-Effekt um über 500 Euro pro Jahr steigen. Die Kommission beruft sich dabei auf die Folgenabschätzung eines Londoner Think Tanks. Ein von der Bertelsmann-Stiftung beim ifo-Institut in Auftrag gegebenes Gutachten verspricht den am TTIP beteiligten Ländern gar Exportzuwächse bis zu 76 Prozent.

Im Fraktionssaal der Europäischen Linken wurden demgegenüber Prognosen angeführt, die ganz und gar nicht in das rosige Bild der regierungsnahen Institute passen. Da im transatlantischen Handel inzwischen kaum noch Zölle erhoben würden, fiele deren Wegfall praktisch nicht ins Gewicht. Ins Zentrum seiner Untersuchungen stellte der nach Brüssel geladene Ökonom Jeronim Capaldo deshalb die Verschärfung des Wettbewerbs- und Kostendrucks, der Europa durch das Freihandelsprojekt drohe. Um mit niedrigen Arbeitskosten der US-Konkurrenten mithalten zu können, müssten Unternehmen in Europa massive Lohnkürzungen vornehmen.

Damit nicht genug: Verteilt über mehrere Jahre sagt Capaldo der EU den Verlust von etwa 600.000 Jobs voraus. Ein Einbruch, der die Arbeitsplatzverluste der Krisenjahre 2010/2011 noch übertreffen würde. Mit den heftigsten Einschnitten müssen demnach Arbeitnehmer in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland rechnen.

Dieser massive Einbruch der Kaufkraft werde Investoren erneut zu spekulativen Finanz- und Immobiliengeschäften verleiten. „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass TTIP die nächste große Finanzkrise verursacht“, prognostizierte die Finanzexpertin Myriam Vander Stichele.

Die EU-Kommission kann die Kritik an den TTIP-Verhandlungen nicht ignorieren Zur Konferenz ins Europäische Parlament schickte sie mit Lucien Cernat, dem Chefökonom der Kommission für Handelsfragen und Joe François, dem Leiter der von der Kommission in Auftrag gegebenen TTIP-Untersuchung, eine hochkarätige Beseztung, um den Standpunkt der Kommission zu vertreten. Doch die Vertreter hatten der Kritik erschreckend wenig entgegen zu setzen und flüchteten sich in Allgemeinplätze.

Helmut Scholz, Europaabgeordneter der Linken und Verhandlungsführer seiner Fraktion zum Thema, unterstrich zu Beginn der fünften TTIP-Konferenz seiner Fraktion die Bedeutung einer breiten Debatte zum Mega-Projekt „Wirtschafts-NATO“. Es sei notwendig, Bürger in die Lage zu versetzen, die gängigen Wachstums- und Beschäftigungsversprechen hinterfragen und mit eigenen Erwartungen abgleichen zu können.

Diese Hinterfragung scheint auch bitter nötig zu sein. Während Merkel und Gabriel sich spätestens seit letzter Woche nicht länger bemühen, ihre Unterstützung für TTIP zu relativieren, offenbarte die Debatte am Donnerstag weit mehr als wissenschaftliche Schwachstellen im Lager der Verhandlungsbefürworter.

Während die Kommission weiter damit wirbt, das von ihr in Auftrag gegebene Gutachten prognostiziere „hunderttausende neuer Jobs“, nahm TTIP-Kritiker Capaldo im EU-Parlament die methodischen Grundannahmen ebendieses Gutachtens auseinander: In der heilen Welt der Ökonomen aus London ist Vollbeschäftigung bereits vorausgesetzt.

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Geschrieben von

Hanna Penzer

Geboren in der Stadt, die singt und lacht. Lebt seit 2009 als freiberufliche Übersetzerin in Brüssel. Politikwissenschaftlerin und Kompostmeisterin.

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