Im Schatten der Weltmeisterschaft

Sexarbeit Prostituierte sind bei der WM in Russland unerwünscht. Doch viele Etablissements bleiben geöffnet, weil sie gute Beziehungen zu Polizei und den russischen Behörden haben

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„Bullen ficken umsonst“
„Bullen ficken umsonst“

Foto: Olga Maltseva/AFP/Getty Images

Als Anja in einer Reihe mit fünf anderen Frauen aufgestellt vor einem Kunden steht, schaut sie schüchtern auf den Boden und denkt: Für Geld werde ich es schon überstehen. 5000 Rubel, umgerechnet rund 70 Euro, dafür gibt es an diesem Abend das volle Programm: Erotische Massage, Blowjob, Geschlechtsverkehr.

Die 25-jährige Russin mit langen blonden Haaren und braun-grünen Augen, die ihren Nachnamen nicht preisgibt, arbeitet in einer heruntergekommenen Altbauwohnung in einer Seitenstrasse unweit vom Newski Prospekt. Sie teilt sich dort, im schillernden Zentrum von Sankt Petersburg, den Empfangssaal abwechselnd mit etwa zwanzig anderen Frauen. Insgesamt arbeiten rund hundert Frauen in der Wohnung. Die junge Frau wird sich ansprechen lassen, von einem fremden Mann, und wenn er anfängt, denkt sie an irgendwas Schönes.

So wie Anja geht es im ganzen Land vielen Frauen – Minderjährige, junge und alte Frauen, aus Russland, Zentralasien oder auch Nigeria. Es ist schwer, verlässliche Statistiken zur genauen Anzahl der im Sexgewerbe Tätigen zu finden, laut Schätzungen verschiedener russischer NGOs – darunter Silver Rose in St. Petersburg und Alternativa in Moskau – könnten es landesweit bis zu drei Millionen Frauen sein. Die Anzahl der Kunden beträgt demnach rund dreissig Millionen.

„Bullen ficken umsonst“

MenschenrechtsaktivistInnen betonen seit Jahren, dass Russland ein großes Problem mit Prostitution hat. Die Ex-Prostituierte Irina Maslova von Silver Rose fasst es so zusammen: «Die Sexarbeiterinnen haben keine Rechte, sie werden von der Polizei gedemütigt und bekommen keine Unterstützung von der Regierung – es ist ein Teufelskreis!» Maslova, die sich schon lange für die Entkriminalisierung von Prostitution einsetzt, ist auch Mitglied des «Brave Team», einem Projekt, das von Amnesty International ins Leben gerufen wurde, um während der WM auf die Menschenrechtslage in Russland aufmerksam zu machen.

Eine Person, die Sexdienstleistungen gegen Geld anbietet, kann gemäß russischem Verwaltungsgesetz zu einer Geldstrafe von bis zu 2000 Rubel verurteilt werden – umgerechnet etwa 30 Euro. Ein Zuhälter kann zu einer Strafe von bis zu 2500 Rubel – umgerechnet etwa 35 Euro oder einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Tagen verurteilt werden. «Oft nutzen Polizisten Geldstrafen als Druckmittel gegen Prostituierte und verdienen sich damit ein wenig Geld dazu», erklärt Maslova. Einige Frauen seien im Vorfeld der WM eingeschüchtert worden, etwa mit drohenden Gefängnisstrafen. «Ob Moskau, St. Petersburg oder Sotschi: Überall haben Prostituierte die Städte deswegen zeitweise verlassen oder legen eine Pause ein», so Maslova.

Das organisierte Sexbusiness wird eigentlich stärker geahndet: Das russische Strafgesetzbuch sieht auf Anbieterseite Freiheitsstrafen von bis zu sechs Jahren oder Zwangsarbeit vor. Bordellbesitzer scheint aber die Tatsache, dass Prostitution in Russland illegal ist, wenig zu stören. «Warum auch?», fragt ein Zuhälter in St. Petersburg. «Die Polizei und die russischen Behörden sind Teil des Systems». «Bullen ficken umsonst», fügt er hinzu. Für ihn ist klar, dass das Geschäft mit Sex während der WM boomt. «Schließlich kommen Fußballfans aus aller Welt, die ein schnelles und günstiges Abenteuer suchen.»

In St. Petersburg weist vieles darauf hin, dass der Zuhälter Recht hat. Wer durch Russlands zweitgrößte Stadt spaziert, dem begegnen sie immer wieder, auf dem Gehweg, auf Hauswänden und Werbetafeln: Anzeigen von Prostituierten und Bordellen. Meist stehen da nur ein Frauenname und eine Handynummer dahinter. Von dem offiziell «harten Vorgehen der russischen Behörden gegen Prostituierte» merkt man kaum etwas.

Kaum Interesse der Fifa

Bei einem mehrtägigen Workshop im März diesen Jahres haben Aktivistinnen und Journalisten aus St. Petersburg und anderen WM-Städten die Debatte um Prostitution angeheizt, indem sie vorschlugen, in Russland ein Modell nach schwedischem Vorbild einzuführen. Befürworter des Modells sind der Meinung, dass Sexarbeit eine direkte Folge von Gender-Ungleichheit ist, und involvierte Frauen früher oder später immer Gewalt zum Opfer fallen, und unterbewusst immer unter Zwang handeln. Deswegen werden Freier hart bestraft, um so die Nachfrage nach Sexdienstleistungen zu verringern.

«Gegen käuflichen Sex können wir nur kämpfen, wenn wir genau verstehen, warum Kunden sich entscheiden, die Dienste von Prostituierten in Anspruch zu nehmen», sagt die St. Petersburger Aktivistin Leda Garina. Wichtig sei auch zu verstehen, dass sich die meisten Frauen nur für den Job entscheiden, weil sie in einer «finanziellen Notlage stecken» oder weil sie mit «falschen Versprechen von Zuhältern angelockt werden und dann dazu gezwungen werden».

Das Frauen-Krisenzentrum in St. Petersburg, das den Workshop organisiert hat, wirbt dafür, das schwedische Modell auch in Russland einzuführen. Im März hat die gemeinnützige Organisation eine Petition ins Leben gerufen, die sich an Andrey Rogozov, den Chef von Vkontakte (VK) richtet – so nennt sich die russische Alternative zu Facebook. In der Petition wird den VK-BetreiberInnen vorgeworfen, dass sie nichts dagegen unternehmen, dass Mädchen und Frauen aus ganz Russland über das soziale Netzwerk als Prostituierte rekrutiert werden und teilweise zu Opfern von Menschenhandel werden.

Recherchen des Frauen-Krisenzentrums zeigen, dass allein in den Monaten Februar und März etwa 10.000 neue Stellenanzeigen im Bereich Sexdienstleistungen veröffentlicht wurden. Dies könne ein Indiz für einen erhöhten Bedarf während der WM sein, heißt es in der Petition, die bereits rund 30.000 Menschen unterschrieben haben. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder weniger bekannte Organisationen wie das St. Petersburger Frauen-Krisenzentrum und Silver Rose schlagen zwar vereinzelt Alarm, aber sie werden kaum gehört.

Russlands Regierung unternimmt nichts und der Weltfussballverband fühlt sich nicht zuständig. Dabei sollte man es bei der Fifa besser wissen. Im Jahr 2006, als die WM in Deutschland anstand, war Zwangsprostitution ein Thema. Ein Bündnis startete eine Kampagne, um Fans und Bevölkerung wenigstens auf das Problem hinzuweisen und zu informieren. «Wir haben das Problem und dessen Ausmaß damals völlig unterschätzt», gestand Theo Zwanziger 2014, der 2006 noch Präsident des Deutschen Fussball-Bundes war. Am Ende war Zwanziger der Schirmherr der Kampagne.

Die Fifa scheint aber nicht aus den Fehlern gelernt zu haben: Bei der WM in Brasilien unternahm die Fifa kaum etwas gegen das Problem mit Kinderprostitution im Land. Dabei wirbt die Fifa mit einer «Strategie der Verantwortung»; man wolle auch in Russland auf besondere gesellschaftliche Probleme hinweisen und entsprechende Projekte umsetzen. Die Realität sieht anders aus: Zwar hat die Fifa Ende Mai einen Online-Beschwerdemechanismus für Menschenrechtler und Medienvertreterinnen ins Leben gerufen, die der Meinung sind, dass ihre oder die Rechte von Minderheiten verletzt wurden.

Doch insgesamt habe die Fifa gerade auch für das Problem der Prostitution zu wenig Interesse gezeigt – da sind sich die AktivistInnen in St. Petersburg, die sich mit dem Thema befassen einig. Und das, obwohl sexuelle Ausbeutung im Rahmen sportlicher Grossereignisse als Thema immer relevant ist, wie Brasilien und Deutschland in der Vergangenheit bereits demonstriert haben.

Ein Funken Hoffnung für nach der WM

Prostitution ist eine extrem gefährliche Arbeit. Zu den Bedrohungen durch die Arbeit als Prostituierte zählen unter anderem Drogenmissbrauch, Krankheiten, Gewalterfahrung, Diskriminierung, Verschuldung, Kriminalisierung und Ausbeutung. «Die meisten Frauen, die im Sex-Gewerbe arbeiten, konsumieren harte Drogen und Alkohol», sagt Anna Reshetnikova, eine Psychologin die im Frauenkrisenzentrum St. Petersburg arbeitet. «Viele versuchen damit, die körperliche und psychische Belastung zu bewältigen, die der Beruf mit sich bringt». Umgekehrt gingen viele Drogenabhängige auf den Strich, um ihre Sucht zu finanzieren. Im Gegensatz zu injizierbaren Drogen werde etwa die Gefährlichkeit von Alkohol unterschätzt – und alle Drogen könnten zu «unsafe sex» verführen.

Eine Ex-Prostituierte, die anonym bleiben will, bestätigt die Einschätzung der Psychologin: «Ich nehme Drogen, um mit der psychischen und physischen Belastung klarzukommen». Der Beruf sei hart und es sei ein Teufelskreis: Letztlich komme man nicht mehr von der Prostitution los, weil man die Sucht finanzieren muss. Programme zur Schadensbegrenzung können helfen, das Leben der Betroffenen sicherer zu gestalten. Die Freiwilligen von NGOs wie Humanitäre Hilfe helfen Sexarbeiterinnen. Drei bis vier Mal die Woche fahren die Freiwilligen mit einem Minivan verschiedene Stadtteile St. Petersburgs ab. Sie bieten unter anderem HIV- und Schwangerschaftstests an, verteilen Kondome und beraten die Frauen bei sozialen, seelischen und gesundheitlichen Problemen. Letzteres bietet auch das Frauen-Krisenzentrum in St. Petersburg an.«Die Sexarbeiterinnen in Russland brauchen dringend Hilfe, aber die Regierung sagt, dass sie dafür kein Geld hat», sagt Reshetnikova, die Psychologin. «Die wenigen Freiwilligen, die verzweifelt versuchen, auf das Problem aufmerksam zu machen, können alleine wenig verändern».

Dass die Situation wegen der Fußball-WM und der erhöhten internationalen Aufmerksamkeit langfristig besser werde, glaubt die St. Petersburger Feministin Leda Garina, nicht. «Trotzdem ist es wichtig, dass wir den Frauen direkt helfen und langfristig Aufklärungs- und Bildungsarbeit leisten», so Garina.

Andere sind optimistischer und hoffen, dass VK, die russische Facebook-Alternative, dank der Petition langfristig einen wichtigen Beitrag zur Prävention neuer Fälle von sexueller Ausbeutung und Gewalt leisten könne. Irina Maslova, die Prostitutionsaktivistin von Silver Rose, sagt: «Ich bin schon eine alte Lady, aber ich glaube ich werde den Tag noch miterleben, an dem endlich alle Frauen in Russland respektiert werden».

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Rossbach

Als freier Journalist schreibe ich aus Russland für russische und deutsche Medien über Politik, Kultur & andere Dinge, die mich interessieren.

Andreas Rossbach

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