Der Autor Didier Eribon: Er widmet sich in seinem neuen Buch dem Leben seiner Mutter
Foto: Pascal Ito/Flammarion/Suhrkamp Verlag
Wer hätte gedacht, dass dieser hundert Seiten kurze Text noch fünfzig Jahre nach Erscheinen solchen Einfluss haben würde: Peter Handkes Wunschloses Unglück. Bis heute kommen viele Autoren, die über ihre verstorbene Mutter schreiben, um das Büchlein nicht herum. Tomas Espedal hat sich vor Handke verbeugt, so wie der fleißige Édouard Louis. Und auch der dänische Dichter und Essayist Søren Ulrik Thomsen leugnet nicht, auf wessen Schultern er steht. „Und auf einmal hatte ich in meiner ohnmächtigen Wut das Bedürfnis, etwas über meine Mutter zu schreiben.“ Dieses Handke-Zitat stellt er seinem zauberzarten Essay Store Kongensgade 23 voran.
Die Bewunderung für Handke kommt nicht von ungefähr. In seinem Bericht
, dass dieser hundert Seiten kurze Text noch fünfzig Jahre nach Erscheinen solchen Einfluss haben würde: Peter Handkes Wunschloses Unglück. Bis heute kommen viele Autoren, die über ihre verstorbene Mutter schreiben, um das Büchlein nicht herum. Tomas Espedal hat sich vor Handke verbeugt, so wie der fleißige Édouard Louis. Und auch der dänische Dichter und Essayist Søren Ulrik Thomsen leugnet nicht, auf wessen Schultern er steht. „Und auf einmal hatte ich in meiner ohnmächtigen Wut das Bedürfnis, etwas über meine Mutter zu schreiben.“ Dieses Handke-Zitat stellt er seinem zauberzarten Essay Store Kongensgade 23 voran.Die Bewunderung für Handke kommt nicht von ungefXX-replace-me-XXX228;hr. In seinem Bericht über das Leben und den Freitod seiner Mutter beschrieb Handke ein Einzelschicksal als generationstypisches und rückte auch den eigenen „nicht mitteilbaren“ Gefühlszustand und die Suche nach der angemessenen Schreibweise in den Blick: Die Mutterbeschreibung als Selbsterforschung, die – das war das Ereignis – jeden und jede anging. In diesem Sinne fragend bereist auch Thomsen die eigene Gefühlslandschaft, nachdem seine Mutter verstorben ist. „Gibt es das eine Jahr oder den einen Ort im Leben eines Menschen, der sich im Lauf der Zeit als der wichtigste erweist?“Für Thomsen ist dies die Kopenhagener Adresse Store Kongensgade 23, und zwar im Jahr 1972, als seine Familie aus der Provinz in die Hauptstadt zog. Damals war Thomsen 16 Jahre jung, doch über ein halbes Jahrhundert hinweg blieb diese erste Stadtwohnung der Ort, an dem für ihn „die Zukunft“ begann. Zum Besonderen dieses Zeitraums gehört aber auch das verstörende „Gefühl von Verlorenheit“, das sich selbst heute „als schier unmöglich zu beschreiben erweist ...“. Man sieht: Thomsens Fragen, seine tastende Art haben den Zweck, in Bereiche des Intensiv-Ungefähren und Ambivalenten vorzudringen. Erst nachdem er seinen Erzählraum auf diese Weise vorbereitet hat, lässt er seine Mutter auftreten, eine lebenslustige, literarisch gebildete und selbst dichtende Frau, die aber – nicht ungewöhnlich für diese Zeit – ihre Neigungen nicht beruflich auslebte, sondern als Sekretärin arbeitete. Und sie war psychisch so labil, dass sie immer wieder Monate in „geschlossenen Anstalten“ verbrachte. In die Aufbruchsstimmung von damals strömte also auch ein „Kummer, der so gewaltig war“. Besonders ein Bild ließ ihn nie los: Wie er in das Zimmer seiner Mutter kommt und sie dort apathisch „an die Wand starren“ sieht.Wer sollte ihr Leben erzählen?Dass ihn die Krankheit der Mutter so stark belastete, liegt freilich an ihrer symbiotischen Beziehung. Vor seiner Geburt hatte seine Mutter ein Kind verloren. Die Freude über seine Existenz war also auch mit der Erinnerung an den Verstorbenen verknüpft. Ein Leserglück ist wiederum Thomsens Kunst, diese vielschichtige Verflochtenheit durchsichtig zu machen und die Verzweiflung des apathischen Starrens nach und nach in ein dankbares Staunen zu überführen. Lange war der Dichter nicht in der Lage, die Gedichte seiner Mutter zu lesen. Er fürchtete schlicht, von ihrer Todesnähe verschlungen zu werden. Erst als sie im Heim lebt, kann er diese Angst überwinden, und siehe da, ihre Gedichte handeln auch von „der Nachbarstochter mit der dunklen Ponyfrisur“. Die wenigen Szenen, die Mutter und Sohn im Heim zeigen, „verbunden, ohne miteinander zu verschmelzen“, gehören zu den schönsten dieses an zarten Szenen reichen Buches.Der Wechsel vom hohen Ton des dänischen Dichters in die Niederungen der Schnoddrigkeit Wolf Haas’ ist schroff; doch schnell entfaltet Eigentum mit seiner entwaffnenden Offenheit und durch das geschickte Spiel mit den Herausforderungen des Stoffes einen unwiderstehlichen Charme. Zu Recht ist das schmale Buch für den Leipziger Buchpreis nominiert. Haas, im Hauptberuf bekanntlich Krimiautor, hat erst einmal keine Lust, über seine Mutter zu schreiben. Doch als die 95-jährige Dame jenseitig zu fantasieren beginnt, schlägt mit Wucht der Chronistenauftrag zu. Wer soll ihr Leben erzählen, wenn nicht ich? Und bin ich nicht zur Dankbarkeit verpflichtet? Er konnte Schriftsteller werden, während die Mutter eine schwere Kindheit hatte. „Ich wurde nicht als zehnjähriger Arbeitssklave endgültig zu einem Bauern ins Nachbardorf geschickt.“ Aus einem „inneren Zwang heraus“ beginnt er zu schreiben. Nur schnell soll es dabei gehen. „Bis zum Begräbnis bin ich fertig und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles.“Allerdings treiben auch Wolf Haas die Handke-Fragen um: Wie angemessen über die grantige Mutter schreiben, die ihre Grantigkeit nicht nur den Nachbarn, sondern sehr hemmungslos auch dem eigenen Sohn gegenüber ausgelebt hat? Wie Elternachtung und die noch immer nicht ganz überwundene Sohnesvorsicht und -distanz unter einen Hut bringen? „Respekt und Würde, interessante Begriffe, die ich im Angesicht des Sensenmannes mit mir selbst diskutierte.“ Haas findet einen geschickten Kniff. Wie die Mutter die Liebe hinter ihrer Grantigkeit versteckte, so hüllt der schreibende Sohn seine Zuneigung in Flapsigkeit. Damit sind die beiden – sozusagen – quitt. Einen großen Teil ihrer entbehrungsreichen Lebensgeschichte lässt er aus Pietät ohnehin von ihr erzählen: Wie sie als Tochter eines Wagnermeisters aufwuchs, später eine Ausbildung als Serviermädchen machte und wegen ihrer Sprachbegabung nach dem Krieg als Übersetzerin arbeitete.Eigentum heißt das Buch, weil es der Mutter nie gelang, eine Wohnung zu erwerben. Sie kam 1923 zur Welt, im Jahr der Hyperinflation, in dem ihr Großvater alles verlor. Diese Scharte galt es auszuwetzen, doch kaum war das erforderte Eigenkapital angespart, hatten sich die Immobilienpreise verdoppelt und sie bekam wieder keinen Kredit. „Arbeiten. Arbeiten. Arbeiten“, und es reichte doch für fast nichts. Auch der Autor scheitert, zumindest mit seinem Plan. „Schreiben. Schreiben. Schreiben“, und er wird doch nicht vor ihrem Tod mit seiner hintergründig-virtuosen Mutter-Hommage fertig. Immerhin bietet die Beerdigung ihm die Möglichkeit, schwarzhumorig darüber zu philosophieren, dass seine Mutter wenigstens im Tod ein kleines Fleckchen Erde ihr eigen nennen kann.Mit diesen Versuchen, die immer auch um Fragen der Darstellbarkeit kreisen, hat Eine Arbeiterin des französischen Soziologen Didier Eribon nur wenig gemein. Wo andere Erzählfragen umtreiben, greift Eribon in seinen Zettelkasten und transkribiert, was Foucault oder Simone de Beauvoir zum Thema zu sagen haben. Leben, Alter und Sterben lautet der Untertitel und das Enzyklopädische ist Programm. Auch Eribon, der 2009 mit Rückkehr nach Reims berühmt wurde, beschreibt das Leben seiner Mutter im Pflegeheim, doch ihn interessiert vor allem das Allgemeine. Als sie weint, weil ihr selbstbestimmtes Leben ein Ende nimmt, denkt er über die „Macht der Umstände“ nach und zitiert ausgiebig Descartes. Die Situation seiner Mutter dient ihm als Anlass, die unwürdige Pflegesituation in Frankreich zu beklagen oder zu einem Exkurs über Sinn oder Unsinn von Begräbnissen. Er schreibt über gesellschaftliche Ausschlussmechanismen „der Alten“ und zeichnet – wie schon in Rückkehr nach Reims – den Prozess nach, in dem Menschen mit einem Arbeiterstolz wie seine Eltern irgendwann Front National wählten. Das alles ist lehrreich und interessant, aber eben auch von selbstzufriedener Ausführlichkeit, dass man sich wiederholt fragt, ob der gelehrte Professor seine Mutter nicht ein klitzekleines bisschen als Mittel zum Zweck benutzt.Am eindrücklichsten sind deshalb eingefügte „Alltagsszenen“, Erinnerungen, aus denen auch die schmerzende Trennlinie zwischen Freiheit und Ohnmacht innerhalb der Familie deutlich wird. Mit Scham erinnert er sich, wie er als Student in der Fabrik jobbte, in der seine Mutter arbeitete, und stolz darauf war, wegen eines Widerwortes rausgeschmissen worden zu sein, während seine Mutter zum Gehorsam verdammt blieb, wollte sie nicht ihre lebenswichtige Stelle verlieren. Später besucht er die längst leer stehende Fabrik ein weiteres Mal und versteht über die Imagination der täglichen Routinen, mit welcher Gewalt sich die Arbeit in die Körper der Arbeitenden eingeschrieben haben muss.„Meine Mutter war ihr Leben lang unglücklich“, schreibt er. Nicht ganz, denkt man. Nach dem Tod ihres despotischen Mannes verliebte sie sich noch einmal und erlebte einen dritten Frühling. Wie konnte das nur geschehen? Darauf weiß auch der alles erklärende Sohn zum Glück mal keine Antwort.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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