Freundschaft kann so romantisch sein

Kino Der finnische Oscar-Vorschlag „Abteil Nr. 6“ erzählt von einer Zugreise im Russland der 1990er Jahre
Ausgabe 13/2022

So einen Skandal wie den, der kurzfristig ausbrach, hat dieser Film nicht verdient. Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die er mit sich brachte, würde man ihm umso mehr gönnen. Weil er mit Yuriy Borisov einen Russen als Hauptdarsteller aufweise, habe ihn die Kinokette Cinestar nicht ins Programm nehmen wollen, meldete vor zwei Wochen mit angemessener Empörung der für Abteil Nr. 6 zuständige Filmverleih eksystent. Kurz darauf wollte Cinestar das als Missverständnis bewertet wissen und nahm den Film wieder auf. Wie gesagt kann man eigentlich nur hoffen, dass ihm letztlich daraus mehr Nutzen als Schaden entstanden ist.

Um ein Exempel zu statuieren dafür, wie man mit russischer Kultur und russischen Kulturschaffenden in Zeiten des Krieges umgeht, taugt Abteil Nr. 6 nur bedingt. Nicht nur, weil der Regisseur Finne ist, genauso wie die eigentliche Hauptfigur des Films. Die Handlung spielt im postsowjetischen Russland der 1990er Jahre; Hauptort ist ein Zugabteil und die Außenaufnahmen sind auf ein paar winterliche Bahnhöfe, wenige Straßenansichten von Murmansk und einen Ausflug an eine schneeverwehte Küste beschränkt. Außer ein paar Sätzen, die die finnische Studentin Laura (Seidi Haarla) mit einem zugestiegenen Landsmann wechselt, sind allerdings alle Dialoge der Originalfassung in Russisch, und es kann gut sein, dass im gegenwärtigen Umfeld das allein schon Ressentiments auslöst. Genauso wie die Tatsache, dass der Drehort selbstverständlich bedeutet, dass in diese internationale Koproduktion auch russische Fördergelder mit eingeflossen sind. Abteil Nr. 6 mag damit eines der letzten Beispiele darstellen für eine Zusammenarbeit, die so in nächster Zukunft nicht mehr denkbar ist. Was den Film auf seine Weise zu einem Zeitzeugen macht.

Das wiederum passt gut sowohl zu seiner Haltung als auch zu seinem Thema. Abteil Nr. 6 ist ein Film über die ungenügende Verschränkung von Beobachten und Erleben. Manche werden es vielleicht von der einen oder anderen Auslandserfahrung her kennen: Man kann wie Laura (Seidi Haarla) die Sprache eines Landes gut sprechen und sich trotzdem vollkommen fremd fühlen. Auf den Partys ihrer Freundin Irina, in deren Moskauer Altbauwohnung sie zur Untermiete wohnt, hat sie Schwierigkeiten, die kulturellen Codes dieser Kreise zu verstehen. Und das, obwohl sie als Anthropologie-Studentin das Lesen von Zeichen zu ihrem Beruf gemacht hat. Zusammen mit Irina will sie nach Murmansk, um dort die berühmten Petroglyphen zu besichtigen. Aber dann sagt Irina kurzfristig ab, und Laura muss sich allein in den Zug setzen. Als wäre das nicht Kummer genug, muss sie das Schlafabteil mit einem grobschlächtigen jungen Mann teilen. Ljoha (Yuriy Borisov) packt prompt die Wodka-Flasche aus und wird verbal zudringlich. Laura will am liebsten aussteigen und zurückfahren. Aber bei ihren Anrufen in Moskau nimmt Irina einen so beiläufigen Ton an, dass selbst Laura zu dämmern beginnt, ihre Liebesgeschichte könnte zu Ende sein. So setzt sie sich wieder zu Ljoha ins Abteil, womit sie zu ihrem Erstaunen so etwas wie erfreutes Überraschtsein auslöst.

Nicht die Tatsache, dass die beiden sich einander annähern, ist das große Wunder dieses Films, sondern die Art und Weise, wie der finnische Regisseur Juho Kuosmanen davon erzählt. Lauras versteckte Blicke auf einen selbstvergessenen Ljoha, der bei einem Zwischenhalt auf dem Gleis mit dem Schnee spielt. Ljohas stummes Beleidigtsein, als Laura mit einem Landsmann ins Gespräch kommt. Da lernen zwei sich zu verstehen, ohne groß Worte zu verlieren. Nie wird Abteil Nr. 6 zur herkömmlichen Romanze. Die Annäherung bei gleichzeitiger Anerkennung der gegenseitigen Fremdheit, die der Film stattdessen schildert, erscheint umso romantischer. Und das erst recht im aktuellen Kontext.

Info

Abteil Nr. 6 Juho Kuosmanen Finnland, Russland 2021, 107 Min.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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