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Was läuft Über zulässige Abkürzungen und den Reiz des Abstrusen: „The Leftovers“. Spoiler-Anteil: 16 Prozent
Ausgabe 19/2017

Manchmal reicht eine Episode und man ist abhängig. Selten ist es die Pilotfolge, die eine solch starke Wirkung hat. Noch seltener jedoch ist es Folge 17. Aber bei mir und der HBO-Serie The Leftovers war es so. Menschen, denen Zeit Geld ist, empfinden es sicher als Zumutung, 16 Stunden einer Serie schauen zu müssen, bevor man zu deren stärkstem Kapitel kommt. „Es lohnt sich“, ist in Zeiten, wo die nächste interessante Sache immer nur einen Klick weit entfernt liegt, ein schwaches Argument. Im Fall der Leftovers würde ich deshalb, ein Sakrileg, und zur Abkürzung raten: nicht unbedingt gleich Folge 17 gucken, aber erst mit der zweiten Staffel, Episode elf einsteigen. Ich gebe zu, ich habe es selbst so gemacht.

Ich hatte allerdings meine Gründe. Ich habe vor Jahren die Romanvorlage gelesen. Das Buch hat eine bestechende Ausgangssituation: Es spielt in einer Welt, in der an einem fiktiven 14. Oktober plötzlich zwei Prozent der Menschheit verschwunden sind. Einfach so, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Und das überall auf der Erde. Zwei Prozent sind genug, um jeden der Zurückgebliebenen, der Leftovers, zum Betroffenen zu machen.

Die einen wurden Zeugen, andere haben ihre gesamte Familie verloren. Das Gute am Buch war, dass es nicht davon handelte, wie dieses Rätsel Akte-X-mäßig erforscht oder gar gelöst wurde, sondern von den diffusen gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen des Danach erzählte. Das Schwache an ihm war, dass es in der Schilderung der zutiefst verstörten Welt über eine herkömmliche Kritik am Sekten- und Kultwesen auch nicht hinauskam.

Die erste Staffel der Serienfassung, die im Herbst 2014 bei HBO Premiere hatte, wurde nur mäßig besprochen. Die zweite Staffel ein Jahr danach erhielt dagegen viel Lob. Bei der dritten Staffel, die nun Mitte April begann, überschlugen sich die Kritiken förmlich. Also nahm ich die Abkürzung und stieg mit Staffel zwei ein.

Nicht, dass es einem die Leftovers da leicht machen würden. Man sollte schon wissen, wer etwa Kevin Garvey (Justin Theroux) ist und warum ein Geist namens Patti (Ann Dowd) ihn verfolgt. Andererseits, und das macht die Serie für dafür Empfindsame so bestechend, ereignen sich so viele bizarre Dinge darin, dass das Nichtverstehen zum konstitutiven Element wird. „I don’t understand what’s happening“, sagt John (Kevin Carroll), einer der in Staffel zwei neu hinzugekommenen Charaktere, an einer Schlüsselstelle. Es könnte das Mantra von Figuren und Zuschauern gleichzeitig sein. Wo es auf dem Bildschirm darum geht, wie Menschen verzweifelt versuchen, Sinn zu finden in dem, was sie sich nicht erklären können, lässt sich der Zuschauer davon überraschen, in welche magischen und metaphorischen Gefilde die Erzählung führt.

Die zweite Staffel, von den Fesseln der Buchvorlage befreit, verlegte die Handlung an einen neuen Ort. Statt nachzuzeichnen, wie eine normale Kleinstadt mit den unerklärlichen Verlusten nicht fertig wird, geht es nun gewissermaßen um das Gegenteil: Im fiktiven Jarden, Texas ist keiner der Einwohner verschwunden. Was den Menschen dort kaum weniger Probleme bereitet. Nicht nur, dass die Kleinstadt sich durch bewachte Zäune vor dem Zustrom all derer schützen muss, die ein Refugium vor dem befürchteten „nächsten Mal“ suchen.

Vor den Toren von Jarden hat sich ein Zeltlager gebildet, das einerseits an Woodstock, andererseits an Dantes siebten Kreis der Hölle erinnert. In der Stadt besteigt derweil ein alter Mann eine Säule und kommt nicht mehr herunter. Nach und nach stellt sich heraus, dass in einer traumatisierten Welt auch die „Verschonten“ nicht einfach weitermachen können. Im Gegenteil.

Wie gesagt, es passieren viele bizarre Dinge in der Serie, für die Damon Lindelof verantwortlich zeichnet. Tatsächlich haben die Leftovers einiges gemeinsam mit dessen Signatur-Serie Lost. Nur dass Lindelof seinen Sinn fürs Seltsame hier befreit von den Erwartungen des Fragenbeantwortens ausleben kann. In besagter Episode 17 etwa wandelt ein Mann durch eine Art Purgatorium. Er will ein Attentat begehen. Mit Filmzitaten (von Shining über Manchurian Candidate bis zu Der Pate), die traumlogisch einleuchten, als wären sie eine Grammatik, und einem Score von Verdi baut Lindelof einen Höllentrip, der verstört und verzaubert. Und fesselnd ein weiteres Motiv der Serie auf den Punkt bringt: Abstrus erscheinen immer nur die Überzeugungen, denen andere anhängen.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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