Liebe und Intrige

Streaming Die Netflix-Serie „Der Club“ zeigt das Istanbul der 1950er als urbanes Zentrum eines vergessenen Multikulti
Ausgabe 01/2022

Eine türkische Serie über einen Istanbuler Nachtclub in den 50erJahren – das klingt einerseits exotisch und andererseits nach einem Erzählrezept, wie es gerade schwer en vogue ist. Schließlich bearbeitet das ZDF dieser Tage mit Palast die deutsche Teilung aus der Perspektive des Berliner Revuetheaters; die ARD folgt mit Eldorado-KaDeWe, der in den 1920ern spielenden Miniserie einem ähnlichen Narrationsmuster, bei dem rund um eine Institution die Erfahrungen verschiedener Generationen und sozialer Identitäten beleuchtet werden.

Wie gut sich die türkische Produktion Der Club (Kulüp) ins Konzept fügt, zeigt schon die Eröffnungsszene, die dem heute obligatorischen Netflix-Auftakt von „dramatischer Höhepunkt plus Zeitsprung“ folgt. Da steht eine junge Frau auf dem Dach eines Wohnhauses und zückt mit zitternden Händen eine Pistole. Sie schießt – und ihr gegenüber fällt ein Mann in sich zusammen. „17 Jahre später“ heißt es dann und wir sehen, wie Matilda (Gökçe Bahadır) dank einer Generalamnestie aus dem Gefängnis entlassen wird.

Was wir auch sehen: Matilda ist Jüdin. Ihre erste Anlaufstelle ist der Ladeninhaber Davit (Murat Garipağaoğlu), der im Istanbuler Stadtteil Pera, in den die Serie im Folgenden eintaucht, die Rolle eines Vorstands der jüdischen Gemeinde ausfüllt. Matilda unterhält sich mit ihm auf Ladino – verkürzt gesagt: der sephardischen Entsprechung des Jiddischen –, einer Sprache, die im türkischen Fernsehen nicht gerade oft erklingt. Das Schöne und Bemerkenswerte dabei ist, wie beiläufig die Autoren (Necati Şahin und Rana Denizer) das fremde Idiom einfließen lassen. Es dient weder als demonstrative Belehrung über die Identität der Figuren noch als folklorisierendes Detail zu ihrer Charakterisierung, sondern kommt schlicht als Selbstverständlichkeit daher.

Genau das macht das Besondere der Serie aus, die im November mit sechs Folgen auf Netflix startete und ab 6. Januar fortgesetzt wird: Der historisch-reale Hintergrund eines in jeder Hinsicht „diversen“ Istanbuls wird in all seiner Härte, aber auch Glamourösität als Gegebenheit gezeigt, aus dem Blickwinkel derer, die die Geschichte erleben und erfahren – ohne zu wissen, wohin sie führt. Melodramatische Intrigen und historische Wahrhaftigkeit gehen hier eine besondere Verbindung ein. Der Plot hält eine Häufung von ersterem bereit: Matilda und der Mord, den sie verübt hat; Matildas Tochter, die im Waisenhaus aufwuchs und sich gern mal als Muslima ausgibt; der von seiner Familie verstoßene Sänger Selim (Salih Bademci), der offen nur seine abweichenden musikalischen Vorlieben zeigen kann, nicht seine sexuellen; der Clubbesitzer Orhan (Metin Akdülger), der die Fassade eines türkischen Patrioten wahren muss, während seine demente Mutter sich nur noch an ihre griechische Identität erinnert. Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse – Matildas Vater und Bruder wurden wegen Forderungen der „außerordentlichen Vermögenssteuer“ ins Lager verschleppt und starben – agieren die Figuren nicht als Opfer, sondern als selbstbewusste Individuen. Weshalb vor allem die Liebe und eben nicht der Völkerhass ihr Handeln lenkt. Sogar den designierten „Bösewicht“ Çelebi (Fırat Tanış) hat’s erwischt, was seine Rachepläne gegen Matilda umso fesselnder erscheinen lässt.

Der Club Necati Şahin, Rana Denizer Türkei 2021; Netflix

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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