Pantoffeln ins Glück

Streaming Netflix zeigt auch Filme, die nie im Kino waren. Es sind Perlen dabei
Ausgabe 49/2018

Als sich mit der Videokassette auch das Konzept „Direct-to-Video“ etablierte, stellten sich nur Puristen die Frage, ob ein Film, der nie im Kino lief, überhaupt ein Film sei. Nun war „Direct-to-Video“ (und später „Straight-to-DVD“) zugleich ein Qualitätsurteil: Man traute diesen Filmen keine Chancen bei der Kinoauswertung zu. Streaming beziehungsweise „Video-on-Demand“ stand sowohl in der Verwertungskette als auch in der Achtung noch weiter unten. Als der Streaming-Dienst Netflix vor wenigen Jahren begann, Filme selbst zu produzieren, erschien es darum den meisten nur konsequent, dass dabei Verträge etwa mit Adam Sandler herauskamen, einem Paradebeispiel für einen Star, dessen Filme an der Kinokasse nicht mehr überzeugten, dessen Kindskopf-Komik jedoch die zu Hause auf dem Sofa Gebliebenen zum Einschalten bewog.

„Direct-to-Streaming“ war erfunden, und niemanden hätte es gestört, wenn Netflix nicht gleichzeitig begonnen hätte, bei Festivals wie Sundance und Toronto die Exklusivrechte an interessanten Independent-Filmen zu erwerben. Erste Oscar-Erfolge konnte der Streaming-Dienst so bereits im vergangenen Jahr verbuchen, als das Südstaaten-Drama Mudbound in vier Kategorien nominiert wurde. Die ganz große Debatte darum, was die neuen Vertriebswege bedeuten und ob ein Film, der nicht mehr im Kino läuft, überhaupt ein richtiger Film ist, kam aber erst im Mai dieses Jahres auf, als das Festival von Cannes bekannt machte, man werde keine Netflix-Filme mehr in den Wettbewerb lassen. Statt in Cannes lief Alfonso Cuaróns Roma, eines der filmischen Highlights des Jahres, dann auf dem Festival in Venedig, wo er mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, und wird nun als der Film gehandelt, der Netflix seine erste Nominierung in der Königskategorie des besten Films verschafft.

Zwischen dem Streaming-Start von Sandlers Ridiculous 6 und Roma sind kaum mehr als drei Jahre vergangen. Aber das Label „Direct-to-Streaming“ hat sich radikal gewandelt. Zwar erlebt Roma nun eine kurze Kinoauswertung, aber deren provisorische Vorbereitung und Durchführung belegt eigentlich nur weiter das absolute Desinteresse von Netflix am Kinobetrieb. In Wahrheit schickt sich der Streaming-Dienst an, überraschend kalkuliert dem Kinobetrieb echte Konkurrenz zu machen.

Wie zum Beispiel im Bereich des Independent-Films, der sein Publikum einst mit langen Laufzeiten in kleinen, aber stetigen Dosen anhäufte, inzwischen aber so schnell wieder aus den Kinos verschwindet, dass kaum Zeit bleibt für Mund-zu-Mund-Propaganda. Mit den zwei neuen Filmen der Regisseurinnen Tamara Jenkins, Private Life, und Nicole Holofcener, The Land of Steady Habits, hat Netflix zwei Perlen im Programm, deren Kinostarts für ein gewisses Publikum bis vor wenigen Jahren noch echten Ereignissen gleichgekommen wären. Beide Filme sind einigermaßen hochkarätig besetzt – in Private Life spielen Paul Giamatti und Kathryn Hahn ein Paar in Fruchtbarkeitsnöten, in The Land of Steady Habits manövriert sich Ben Mendelsohn durch ein neues Leben als geschiedener Ehemann und Frührentner. Beide Filme würden in der gegenwärtigen Überfülle des Kinoangebots an der Kasse sehr wahrscheinlich enttäuschen, finden ihr stetes Publikum nun im Stream. Und zusätzlich zur guten Tat für den Independent-Film kann Netflix sich auch noch für die Förderung der Frauen Selbstlob anheften. Ende Dezember startet Susanne Biers neuester Film Bird Box auf Netflix, dystopische Science-Fiction mit Sandra Bullock und Sarah Paulson in den Hauptrollen.

Mit The Ballad of Buster Scruggs von den Coen-Brüdern, Paul Greengrass’ Breivik-Attentat-Film 22. Juli und Alexei Germans Dovlatov hat Netflix eine wahre Glamour-Auswahl der Festivals von Berlin bis Toronto im Programm. Cannes’ Festivaldirektor Thierry Frémaux verhandelt unterdessen dem Vernehmen nach hektisch hinter den Kulissen: Er will unbedingt, dass Martin Scorseses The Irishman, dessen stillstehende Produktion Netflix durch einen Exklusivdeal rettete, in Cannes laufen kann.

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

Avatar

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden