Schwule des Lebens

Was läuft Über die Wirklichkeit von Reality-TV und „Queer Eye“, das die unterschiedlichen Männlichkeitsmodelle effektvoll aufeinanderstoßen lässt. Spoiler-Anteil: 5 Prozent
Ausgabe 13/2018
Die „Reality“ erweist sich hier als Utopie-Entwurf für so umkämpfte Ideale wie Toleranz, Gleichberechtigung und Offenheit
Die „Reality“ erweist sich hier als Utopie-Entwurf für so umkämpfte Ideale wie Toleranz, Gleichberechtigung und Offenheit

Foto: Emma McIntyre/Getty Images

Die Frage ist dank dem „goldenen Serienzeitalter“ seltener geworden, aber es gibt ein Subgenre des Fernsehens, da hört man sie noch, sobald man sich als Zuschauer bekennt: „Wie kannst du als intelligente Frau nur so was gucken?“ Gemeint sind Reality-TV-Formate wie Germany’s Next Topmodel, The Real Housewives of New Jersey oder Der Bachelor. Der Verweis auf die „richtige“ Menge von Intelligenz, die es braucht, um an solchen Formaten Gefallen zu finden, unterschätzt jedoch den Reality-TV-Fan. Den muss man sich als skeptischen Rezipienten vorstellen, der in der abgebildeten „Reality“ permanent nach der Wahrheit dahinter Ausschau hält. Mit anderen Worten: Er/sie weiß, dass sie „versteckt“ ist.

Aber die Entlarvung der wirklichen Wirklichkeit hinter der „Reality“ führt zuerst nicht sehr weit. Dem Charme dieser Serien kommt man dabei jedenfalls nicht auf den Grund. Besser ist es, einmal den umgekehrten Weg einzuschlagen: sie als raffinierte Konstrukte zu loben, die mit einer Mischung aus Improvisiertem und Gescriptetem Geschichten über die unmittelbare Gegenwart erzählen. So kunstlos der Zugriff anmutet, so direkt und roh ist der Schnitt ins aktuelle Geschehen.

Kaum eine Serie eignet sich für eine solche Lobpreisung besser als das nun auf Netflix neu aufgelegte Queer Eye. Als Queer Eye for the Straight Guy schickte der amerikanische Reality-TV-Spezialist Bravo das Format 2003 erstmals auf Sendung. Netflix verpasste der 2007 eingestellten Makeover-Serie nun selbst ein Makeover. Das Grundkonzept wurde beibehalten: Fünf homosexuelle Männer, zu den „Fab Five“ stilisiert, beraten schlecht gekleidete und schlecht wohnende, meist heterosexuelle Männer in Sachen Lebensführung, Körperhygiene und Wohnungseinrichtung.

Wie in vielen Makeover-Shows ist in Queer Eye die Beratung nur ein Vorwand für das eigentliche Spektakel, in diesem Fall: die unterschiedlichen Männlichkeitsmodelle effektvoll aufeinanderstoßen zu lassen. Der Voyeurismus, der sich in Makeover-Shows die schon Ausgegrenzten als Opfer sucht – wie die dicken Leiber in The Biggest Loser –, gilt hier dem ganz normalen Heteromann, mithin einer Spezies, die sonst eher Oberwasser hat. In Queer Eye, und das macht schon einen Großteil des Erfolgs der Serie aus, wird er für ein Mal zum „anderen“ – mit seinen schlecht geschnittenen Haaren, den unaufgeräumten „Männerhöhlen“, der langweiligen Hemdensammlung, der Unfähigkeit, sich auch nur ein Ei zu kochen, und natürlich: einer Sammlung von Unterwäsche, die selbst den gesittetsten schwulen Mann zum entsetzten Kreischen provoziert.

Oh, es klingt so albern. Aber was Netflix, besser gesagt Showrunner und -erfinder David Collins daraus macht, ist das glatte Gegenteil davon. Die Auswahl der Kandidaten entpuppt sich als besonders sorgfältig abgestimmt auf die amerikanischen Konflikte im Hier und Heute. Statt im kulturell aufgeschlossenen New York sind die „Fab Five“ diesmal rund um Atlanta, Georgia, im „Redneck“-Land unterwegs. Mit den jeweiligen Kandidaten passiert sehr viel mehr, als dass nur Bärte gestutzt werden oder passendere Kleidung gekauft wird. Zur Sprache kommen so essenzielle Dinge wie Alter und Schönheit, das Verhältnis von weißen Polizisten zu jungen Schwarzen oder die Frage, wie sich der christliche Glaube zur Homosexualität stellt. Das vollkommen gekünstelte Format mit seinen extrem netten und höflichen Schwulen als Task Force, deren angstlosen Umarmungen selbst ein komplettes Feuerwehrregiment nicht widerstehen kann, wird zum Podium für große Gesellschaftsaussprachen.

Fast meint man, die typisch protestantische Bekenntnisfreude zu erkennen, wenn Folge für Folge der Kandidat schließlich seine Dankesansprache an die „Fab Five“ hält. Aber es fällt einem als Zuschauer wirklich schwer, die Augen trocken zu halten, wenn etwa der dicke, ältere LKW-Fahrer, der sich für zu hässlich für jedes Makeover hielt, die fünf umarmt, als hätten sie ihm das Leben gerettet. Oder der christliche Familienvater mit sechs Kindern schwört, dass unter seinem Dach Schwule immer willkommen seien, egal was die Kirche dazu sage. Oder der weiße Polizist bekennt, froh zu sein, sich mit einem Schwarzen über Rassismus unterhalten zu haben.

So erweist sich die „Reality“ hier als Utopie-Entwurf, nicht allein für gepflegteres Aussehen, sondern für so umkämpfte Ideale wie Toleranz, Gleichberechtigung und Offenheit.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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