Umstrittener Unrechtsstaats-Begriff

DDR Wer die aktuelle Unrechtsstaats-Debatte mit der vergangener Jahre vergleicht, erkennt sowohl die Argumentationsmuster als auch lohnende Ergebnisse der Meinungsforschung

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Umstrittener Unrechtsstaats-Begriff

Bild: Andreas Rentz/Getty Images

Die Sondierungspartner DIE LINKE, SPD und Grüne in Thüringen haben sich auf ein gemeinsames Papier »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte« verständigt, in dem einerseits die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet und andererseits Wert darauf gelegt wird, die Biographien der Menschen, die in der DDR gelebt haben, nicht herabzuwürdigen.

Seit Veröffentlichung des Papiers schlagen die Wellen hoch und dies nicht allein in der Partei DIE LINKE.

Neu ist die Debatte nicht. Verschiedentlich äußerten sich in den vergangenen Jahren sowohl prominente Befürworter/-innen als auch Kritiker/-innen des Begriffes und konnten sich stets medialer Öffentlichkeit gewiss sein.

Kritik an unzureichendem analytischen Tiefgang des Unrechtsstaatsbegriffes

Gegenüber dem Magazin Focus äußerte sich 2009 Friedrich Schorlemmer kritisch gegenüber der Verwendung des Begriffs durch Kanzlerin Merkel. Im gleichen Jahr musste die Bundespräsidentenkandidatin Gesine Schwan (SPD) ihre Zurückhaltung bei der Verwendung des Begriffs erläutern und 2010 erntete der letzte DDR-Ministerpräsident, Lothar de Maizière, für seine Kritik am Unrechtsstaatsbegriff Widerspruch in der Tageszeitung DIE WELT.

Die Kritik an der Verwendung des Begriffs Unrechtsstaat folgte in den genannten Fällen im Wesentlichen dem Argumentationsmuster, der Begriff Unrechtsstaat sei ungeeignet, weil nicht alles Recht und alle Lebenswelt in der DDR Unrecht gewesen sei.

Gesine Schwan führte in einem Beitrag, der noch heute auf ihrer Webseite abrufbar ist, aus, dass sie die Verwendung des Begriffs ablehne, »weil Unrechtsstaat ein diffuser Begriff ist. Er impliziert, dass alles unrecht war, was in diesem Staat geschehen ist. So weit würde ich im Hinblick auf die DDR nicht gehen.«

In gleicher Weise äußerte sich auch Lothar de Maizière: »Ich halte diese Vokabel für unglücklich. Die DDR war kein vollkommener Rechtsstaat, aber auch kein Unrechtsstaat. Der Begriff unterstellt, dass alles, was dort im Namen des Rechts geschehen ist, unrecht war.«

Schwan ergänzte darüber hinaus, dass nicht »jede einzelne Handlung etwa im Arbeits- oder Verkehrsrecht unrecht war. Es heißt ja auch nicht, dass in unserem Rechtsstaat jede einzelne Handlung dem Gerechtigkeitsempfinden entspricht oder unanfechtbar gerecht ist« und de Maizière wies darauf hin, dass im Einigungsvertrag festgehalten sei, dass auch Urteile aus der DDR fortgelten würden, was bei vollumfänglichem Unrecht schwer möglich gewesen sei.

Trotz dessen kann von einer Beschönigung der DDR weder bei Schwan noch de Maizière die Rede sein.

Vielmehr machte Frau Schwan deutlich, dass die DDR kein Rechtsstaat gewesen sei, da es weder Gewaltenteilung noch Unabhängigkeit der Justiz gegeben habe. Die DDR war, so Schwan, »ein Staat, in dem Willkür und Unsicherheit begünstigt wurden. Die Justiz war ausdrücklich ein Instrument der SED und damit nicht unabhängig. Das hat zu einer allgemeinen Verunsicherung der Bevölkerung geführt.«

De Maizière kennzeichnete seinerseits das politische Strafrecht einerseits und die nicht existente Verwaltungsgerichtsbarkeit als wesentliche Merkmale fehlender Rechtsstaatlichkeit.

Und Friedrich Schorlemmer betonte, man müsse das Unrecht, das es in der DDR gab, auch Unrecht nennen. Die Opfer der DDR-Repression bräuchten Beachtung, Fürsorge und Entschädigung.

Kritik an Delegitimierungsinteressen bei Nutzung des Unrechtsstaatsbegriffes

Während das erste Argumentationsmuster zunächst nur kritisiert, dass mit dem juristisch nicht determinierten Begriff Unrechtsstaat die Lebenswelt in der DDR sachlich unzureichend erfasst werde, wendet sich ein zweites Argumentationsmuster der politischen Implikation zu. Die Verwendung des Begriffs Unrechtsstaat ziele auf eine nachträgliche Delegitimierung der Gründung des Staates DDR insgesamt ab.

Hier wird der Unrechtsstaats-Begriff in seiner politischen Wertung und als Teil eines Diskurses über die Legitimation von Alternativen zur Bundesrepublik Deutschland bzw. dem Kapitalismus insgesamt in den Blick genommen.

Im bereits erwähnten Focus-Beitrag wird Schorlemmer mit den Worten zitiert: »Es gab in der DDR die rhetorische und im Grunde unsinnige Frage: Bist du für den Frieden, Ja oder Nein? Der Tanz um den Begriff Unrechtsstaat heute folgt diesem Muster.«

Wie der Tagesspiegel berichtet, sagte Gregor Gysi dieser Tage gegenüber dem MDR, das in der DDR vollzogene Unrecht ausdrücklich betonend: »Die DDR Unrechtsstaat zu nennen hieße, der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg das Recht zur Gründung der DDR abzusprechen, 'das können wir uns schon aus historischen Gründen nicht leisten'«.

Entsprechende Beiträge bedienen sich bis heute der ebenso fatalen wie falschen Gleichsetzung von DDR und Nationalsozialismus. Der Ursprung dürfte sicherlich auch zurückgehen auf den ehemaligen Bundesjustizminister Klaus Kinkel, der in seiner Begrüßungsansprache auf dem Deutschen Richtertag am 23. September 1991 in Köln das politische Ziel strafrechtlicher Aufarbeitung in folgende Worte fasste: »Ich baue auf die deutsche Justiz. Es muß gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es unter dem Deckmantel des Marxismus-Leninismus einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland, das man bekämpfte und - zu Recht - nie mehr wieder erstehen lassen wollte.«

Dennoch wird jeder unvoreingenommene Beobachter des DDR-Aufarbeitungsdiskurses der vergangenen 25 Jahre zugeben, dass eher einseitigen Beiträgen, die insbesondere politischen Zielen dienten und wissenschaftlich nur von geringem Nutzen sind, eine inzwischen deutlich größere Anzahl exzellenter und fruchtbringender Forschungsergebnisse gegenüber stehen.

Vor diesem Hintergrund wird das Interesse der Sondierungsparteien in Thüringen verständlich, die bestehenden wissenschaftlichen Kapazitäten zu bündeln und ggf. in Form von Stiftungsprofessuren oder ähnlichem auszubauen. Ihnen also einen Rahmen zu geben, den zu schaffen, die seit knapp 25 Jahren regierende CDU im Freistaat versäumte.

Ambivalente Haltung zum Unrechtsstaats-Begriff in Ostdeutschland

In einigen Online-Kommentaren zu Beiträgen der vergangenen Tage, die sich mit der aktuellen Debatte über die Bezeichnung der DDR als Unrechtsstaat befassten, wurde darauf hingewiesen, dass bei einer Internet-Befragung des MDR, ursprünglich mehrheitlich die Verwendung des Begriffes abgelehnt wurde.

Zwischenzeitlich haben sich die Mehrheitsverhältnisse umgekehrt. Bis zum 29. September 2014 wurde 7.295 mal abgestimmt, davon stimmten 52% der Bezeichnung Unrechtsstaat zu, während 44% den Begriff ablehnten.

Sieht man einmal davon ab, dass die Befragung zwar eine relevante Fallzahl aufwies, aber keine Repräsentativität beanspruchen kann und die Nutzer/-innen unbegrenzt an der Befragung teilnehmen konnten, hätte auch eine mehrheitliche Ablehnung des Begriffes Unrechtsstaat nicht überrascht.

Zuletzt 2009 durchgeführte repräsentative Befragungen von Infratest dimap sowie vom Institut für Marktforschung in Leipzig kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Einer Umfrage des Instituts für Marktforschung von März 2009 zufolge lehnten zum damaligen Zeitpunkt 41% der befragten Ostdeutschen den Begriff Unrechtsstaat ab, während 28% ihn als Bezeichnung der DDR für zutreffend hielten. Unsicher waren 25% ("teils teils").

Infratest dimap veröffentlichte im Rahmen des monatlich erscheinenden DeutschlandTRENDs für die ARD im November 2009 folgende Zahlen:

Der Aussage, dass die DDR ein Unrechtsstaat sei, stimmten 51% der Ostdeutschen zu, während 40% diese Bezeichnung ablehnten. Bei den Westdeutschen stimmten 78% zu, während 14% dies verneinten.

Mehrheitlich positiver Rückblick auf das Leben in der DDR bei Stolz auf die friedliche Revolution

In einer Umfrage vom Juni 2009 befragte TNS Emnid im Auftrag des BMVBS die Bundesbürger nach einer rückblickenden Sicht auf die DDR.

Dass die DDR ausschließlich schlechte (8%) bzw. mehr schlechte als gute Seiten gehabt habe (32%), fanden 40% der befragten Ostdeutschen, während 78% der befragten Westdeutschen dieser Auffassung waren.

Dass die DDR mehr gute als schlechte Seiten gehabt habe (49%) bzw. ausschließlich gute Seiten hatte (8%) fanden 57% der befragten Ostdeutschen im Verhältnis zu 18% der befragten Westdeutschen.

Gefragt danach, ob man, angenommen die Mauer würde wieder aufgebaut werden, lieber im Osten oder im Westen leben wolle, waren sich die 14- bis 50-jährigen in Ost- und Westdeutschland dennoch bereits zwei Jahre zuvor mehrheitlich einig, in diesem Falle lieber im Westen wohnen zu wollen.

Von den 14-24-jährigen, im Auftrag von TNS Research befragten, Westdeutschen wollten im Falle des Mauerbaus 86% lieber im Westen wohnen, während die gleichaltrigen Ostdeutschen zu 59% im Westen und zu 35% im Osten wohnen wollen würden. Bei den 35-50-jährigen Westdeutschen hätten 90% lieber im Westen gewohnt, während die Ostdeutschen der gleichen Altersgruppe zu 51% lieber im Westen und zu 37% im Osten hätten leben wollen.

Lässt sich daraus eine verfestigte DDR-Nostalgie ablesen? Eher nicht. Vielmehr trifft die Annahme von Everhard Holtmann zu, dass sich »persönliche Lebensgeschichte, gesellschaftliches Leben und Staatstätigkeit (...) in der heutigen Wahrnehmung der DDR aus Sicht vieler Ostdeutscher übereinander (schieben). Die eigene Biographie wird als ein authentischer und unablösbarer Teil der damaligen Zeiten empfunden. Die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen hieße folglich, zugleich individuelle Lebensläufe zu entwerten.«

Befragt von Infratest dimap im Februar 2010 waren 71% der Brandenburgerinnen und Brandenburg der Auffassung, dass die Lebensleistung der Ostdeutschen heutzutage nicht ausreichend gewürdigt würde, während 18% die Lebensleistung der ehemaligen DDR-Bürger als angemessen gewürdigt empfanden.

So unterschiedlich Ost- und Westdeutsche in ihrer rückblickenden Bewertung des Lebens in der DDR sind, so übereinstimmend sind sie der Meinung, dass die Ostdeutschen stolz sein können auf die friedliche Revolution in der DDR. Laut TNS Emnid vom April 2009 stimmten 82% der Deutschen zu, dass die Ostdeutschen stolz auf die friedliche Revolution sein können (85% Ost, 81% West), während 12% dies verneinten (11% Ost, 12% West) und 6% keine Meinung dazu hatten (3% Ost, 7% West).

Individuelle Sicht und politische Selbstverständlichkeiten

Kurzum: Ob der Begriff Unrechtsstaat individuell als ungeeignet für die Aufarbeitung des Alltags in der DDR oder Kennzeichnung fehlender Rechtsstaatlichkeit im SED-Staat angesehen wird, ist für sich genommen kein Ausdruck fehlender Bereitschaft, sich dem Aufarbeitungsprozess insgesamt zu stellen bzw. stolz zu sein auf die Wende in der DDR und die seitdem erreichten Errungenschaften.

Anders wiederum stellt sich die Situation für eine Partei wie DIE LINKE dar. Will sie mit denjenigen Parteien ein auf Dauer angelegtes Bündnis eingehen, deren Gründer/-innen in der DDR zum Teil jahrelangen systematischen Repressalien und politischer Justiz ausgesetzt waren, wird sie sich einer kritischen Würdigung dessen stellen müssen, die über den in der Linkspartei dazu geführten Diskurs hinausgeht. Nicht, weil dies die notwendige Eintrittskarte in die Regierung oder einen Kotau vor einer vermeintlichen Sicht der Sieger auf die DDR darstellt. Sondern weil dies die erforderliche Basis einer Zusammenarbeit zwischen drei Parteien bildet, die zwar für die Zukunft vielfach gemeinsame Antworten haben, aber auch 25 Jahre nach der Wende in der DDR, bei der Formulierung von Fragestellungen zur DDR-Geschichte noch erheblich auseinanderliegen.

Der Autor nimmt an den Sondierungsgesprächen der Partei DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Thüringen teil.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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