Vor 100 Jahren: Der erste Tabubruch in Thüringen

Zeitgeschichte Die Thüringer Landtagswahl vom 10. Februar 1924 war eine Zäsur. Liberale und Konservative paktierten erstmals mit den Nationalsozialisten. Damit begann die konservative und antisemitische Restauration in Politik, Staatsdienst und Kultur

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Plenarsaal des thüringischen Landtages in Erfurt - Mai 2011
Plenarsaal des thüringischen Landtages in Erfurt - Mai 2011

Foto: Alupus / Wikimedia Commons (CC BY-SA)

Seit der Landesgründung regierte die SPD in verschiedenen Konstellationen. Zunächst im Bündnis mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), fallweise gestützt von der Kommunistischen Partei (KPD) und den Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD). Anschließend koalierten SPD und USPD, erneut fallweise gestützt von der KPD. Eine im Oktober 1923 gebildete Koalition aus SPD und KPD wurde ebenso wie in Sachsen von der Reichsregierung brachial beendet - die Reichswehr marschierte in Mitteldeutschland ein.

Mit den Wahlen zum III. Thüringer Landtag wurden die bisherigen Mehrheitsverhältnisse fundamental geändert. Der "Thüringer Ordnungsbund", in dem sich die DDP gemeinsam mit der rechtsliberalen Deutsche Volkspartei (DVP), der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) sowie dem rechtskonservativen Thüringischen Landbund versammelte, erreichte mit 35 Mandaten gegenüber SPD (17) und KPD (13) die relative Mehrheit.

Die Jahre ab 1921 waren geprägt von harten politischen Auseinandersetzungen zwischen den linken Arbeiterparteien einerseits und den bürgerlich-liberalen sowie konservativen und deutschnationalen Parteien andererseits. Zwar wurde die Landesgründung weitgehend einvernehmlich zwischen Rätebewegung, politischen Reformkräften und Wirtschaftsverbänden gestaltet und durch die Traditionen der kulturellen und wirtschaftlichen thüringischen Einheitsbewegung seit dem 19. Jahrhundert begünstigt, wie Gunther Mai (1996) festhält, doch bestand über die innere politische Ausgestaltung des Landes Thüringen kein Konsens. "Den sozialistisch-linksbürgerlichen Landesgründern und Reformkräften standen die Beharrungskräfte der alten Eliten und ein wachsender 'Extremismus der bürgerlichen Mitte' gegenüber. Die Kleinräumigkeit der Verhältnisse führte zur Verdichtung und Radikalisierung. Aus dieser Polarisierung erklärt sich der Haß, der während des Landesgründungsprozesses zu dem beiderseits als Klassenkampf verstandenen, offenen Bürgerkrieg und zur Intervention des Reiches führte." (Mai 1996: 15)

Diese Ereignisse und harten Frontstellungen aus den Jahren 1919/20 untergruben früh die Basis der anfänglichen Zusammenarbeit zwischen sozialistischen und bürgerlich-demokratischen Politiker:innen bei der Umgestaltung der monarchischen Kleinstfürsten- bzw. -herzogtümer zu republikanisch-demokratischen Freistaaten.

Hinzu kam, dass sich "nur Teile des Bürgertums [...] von der linksliberalen DDP vertreten gefühlt [hatten], die in Thüringen anfangs überdurchschnittliche Wahlerfolge erzielte, seit 1920 aber einem rapiden Erosionsprozeß unterlag. Ein immer größerer Teil des Bürgertums wanderte nach rechts, um schließlich in den Armen der NSDAP zu landen." (a.a.O.: 17)

Die schroffe politische Lagerbildung zwischen links und rechts, eine linksorientierte SPD und die Ereignisse der Reichsexekution gegen die rot-rote Regierung in Sachsen und Thüringen im Herbst 1923 bildeten in der Summe die Ursache dafür, dass in Thüringen keine republikanische Regierung aus SPD und den beiden liberal-demokratischen Parteien DDP und DVP gebildet wurde. Während andernorts die liberale DDP mit der SPD koalierte, traten Liberale und Deutschnationale bei der Landtagswahl 1924 mit der Losung an: "Das ganze Land kam auf den Hund, es hilft nur noch der Ordnungsbund".

Mit dem Ziel gegründet, die Kräfte gegen links zu bündeln und entschlossen, die Landesregierung nicht wieder den Linksparteien zu überlassen, stellte die bürgerlichen und deutschnationalen Parteien im Thüringer Ordnungsbund Einheitslisten auf. Diese wurden von den meisten bürgerlichen Berufsgruppen und den Vereinigten Vaterländischen Verbänden unterstützt. Die Anhänger der zu diesem Zeitpunkt verbotenen NSDAP und andere rechtsextreme Parteien verweigerten den Anschluss an diese Einheitsfront jedoch mit der Begründung, die Liste des Ordnungsbundes werde von einem jüdischen Kandidaten, dem DDP-Politiker Eduard Rosenthal, angeführt.

Der Ordnungsbund erreichte bei der Landtagswahl zwar 48% aber eben keine Regierungsmehrheit. Auf SPD und KPD entfielen zusammen 41,5 Prozent. Weitere sieben Sitze erhielt die erstmals zur Wahl angetretene "Vereinigte Völkische Liste" (9,3%).

Deren sieben Thüringer Abgeordnete waren die ersten nationalsozialistisch-völkischen Mitglieder, die überhaupt in einen Landtag gewählt wurden. Artur Dinter, Walter Wünsche, Erwin Röhrig und Julius Pölker gehörten der Deutsch-Völkischen Freiheitspartei (DVFP). Diese Partei war entstanden, um den Mitgliedern der 1922 durch Preußen verbotenen NSDAP und anderen Rechtsextremisten Unterschlupf zu bieten. Karl Spiller, Paul Hennicke und Willy Marschler gehörten der aufgrund des Münchner Hitlerputsches vom 9. November 1923 reichsweit verbotenen NSDAP an.

Hesselbarth (2024) beschreibt in seinem Beitrag die ambivalente Rolle und kritische Selbstreflexion der DDP und inwieweit die bürgerlichen und rechten Parteien erpicht darauf waren, alles zu tun, um die von ihnen radikal abgelehnten Linksregierungen abzulösen. Deshalb begingen sie den Tabubruch, ein Bündnis mit der antisemitischen "Vereinigten Völkischen Liste" (VVL) zu schmieden.

Bereits am 21. Februar 1924 wurde in der konstituierenden Sitzung des Landtags die neue Regierung vereidigt. Zuvor wurde mit den Stimmen des Ordnungsbundes und der Völkischen Liste - entgegen parlamentarischer Gepflogenheiten - statt des SPD-Kandidaten der stärksten Fraktion, Hermann Leber der Ordnungsbund-Kandidat Dr. Erich Wernick gewählt.

Antisemitismus als verbindende Gemeinsamkeit

Hatten die Völkischen eine formelle Beteiligung am Ordnungsbund schon aufgrund der herausgehobenen Stellung des jüdischen "Vaters" der ersten republikanischen Thüringischen Verfassung und DDP-Politikers Eduard Rosenthal ausgeschlossen, machten sie eine Unterstützung der liberal-konservativen Regierung unter dem DVP-Politiker Richard Leutheußer davon abhängig, dass in der Regierung nur "deutschblütige, nicht-marxistische Männer" sitzen dürften.

Die rechtsgerichtete Weimarische Zeitung hatte in einem Kommentar, zwei Tage nach der Landtagswahl bereits die Parole ausgegeben: "Nun heißt es: Nicht rasten und nicht ruhen, denn wir stehen erst am Anfang. Die Vollendung, der endgültige Sieg des deutschen Lebenswillens muß erst noch erkämpft werden. Ein starkes Bollwerk der roten und damit auch der goldenen Internationale ist gefallen." Der antisemitische Begriff der "goldenen Internationale" rekurriert auf die angebliche jüdische Dominanz im Finanzkapital und entsprechende Verschwörungserzählungen.

Um den Völkischen entgegenzukommen, entfernten die Entscheidungsträger des Ordnungsbundes den anerkannten Liberaldemokraten Eduard Rosenthal von der Liste der Ministerkandidaten. Oder anders ausgedrückt: Dem Antisemitismus der Völkischen leistete der Ordnungsbund Vorschub und "opferte" den DDP-Spitzenkandidaten und jüdischen Professor der Universität Jena, Eduard Rosenthal. Er verlor jeglichen Einfluss auf politisches Geschehen. An den Alterspräsidenten des III. Thüringer Landtags erinnert heute das dezentrale Denkmal "Erinnerungsbohrungen" von Horst Hoheisel und Andreas Knitz.

Infolgedessen entsandte die DDP, obwohl weiterhin Teil des Ordnungsbundes, kein anderes Mitglied in das Kabinett und beteiligte sich auch nicht formal an der von der VVL tolerierten Minderheitsregierung. "Da die DDP keinen Unterschied zwischen Menschen mache und sie sie weder nach ihrem Geschlecht noch nach ihrer Konfession beurteile, könne sich seine Partei nicht an einer Regierung unter den Bedingungen der VVL beteiligen", erläuterten die Linksliberalen (Hesselbarth 2024).

Davon unbeeindruckt erklärte am 12. April 1924 der Führer der VVL, der einschlägig bekannte Rechtsextremist Artur Dinter, im Landtag unumwunden: "Bei der Regierungsbildung haben wir nicht den leisesten Zweifel gelassen, unter welchen Bedingungen wir der Regierung unser Vertrauen geben und uns zu positiver Mitarbeit verpflichten. Es waren diese Forderungen in 4 Punkten enthalten. Der erste dieser Punkte war, soweit ich es im Kopfe habe, dass es uns darauf ankommt, dass diese Regierung die Juden aus allen Regierungs- und Beamtenstellen bedingungslos entfernt [...] Und gerade auf dem Gebiet des Bank- und Börsenwesens, das wir Völkischen mit aller Rücksichtslosigkeit bekämpfen wollen, durch Verstaatlichung des Bank- und Börsenwesens, Verbot des Terminhandels usw. können wir unter gar keinen Umständen einen Juden brauchen. Und ich wiederhole, das ist eine grundsätzliche Frage, die wir Völkischen angeschnitten haben."

Wie weit der Einfluss der Völkischen reichte, zeigte sich daran, dass es ihnen gelang in kürzester Zeit den Rücktritt zweier Minister des Kabinett Leutheußer zu erzwingen. Anfang April forderte er sowohl die Entlassung des Präsidenten der Thüringer Staatsbank, Walter Loeb, und stellte die Ernennung des kurz zuvor ernannten Weimarer Oberstaatsanwaltes Kurt Frieders infrage, da beide Juden seien. Infolgedessen demissionierte Finanzminister Paul Stolze. Er wurde bereits am 14. April 1924 durch Wilko von Klüchtzner ersetzt. Der für die Ernennung von Oberstaatsanwalt Frieders zuständige Justizminister trat ebenfalls zurück. Beide miteinander verknüpften und antisemitisch motivierten Kampagnen lohnen einen genaueren Blick.

Nur kurze Zeit nach der Regierungsbildung forderten die Völkisch-Sozialen den Rücktritt des Präsidenten der Thüringischen Staatsbank Walter Loeb. Er wurde im Weiteren aufgrund von ungerechtfertigten Meineid-Vorwürfen zusätzlich strafrechtlich verfolgt. Der erst am 24. Februar 1924 zum beamteten Finanzminister ernannte DVP-Politiker Dr. Paul Stolze musste bereits zwei Monate später zurücktreten, da er sich weigerte, Walter Loeb nur deshalb zu entlassen, weil dieser Jude sei. Stolze kehrte als Ministerialdirektor in das Finanzministerium zurück. Trotz dieser Erfahrungen trat auch er am 1. Mai 1933 der NSDAP bei und war bis 1939 Staatssekretär im Finanzministerium.

Der aus einer jüdischen Familie stammende Oberstaatsanwalt Kurt Frieders, der eigentlich Ernst Friedländer hieß, wurde seit seinem Dienstantritt in Thüringen antisemitisch denunziert. Aufgrund seiner SPD-Mitgliedschaft war er innerhalb der überwiegend konservativen bis reaktionären Eliten in der Thüringer Justiz zusätzlich auch dem Vorwurf der Ämterpatronage ausgesetzt.

Die Kampagne sowohl gegen Staatsbankpräsident Loeb als auch gegen Oberstaatsanwalt Frieders wurden orchestriert von den Völkisch-Sozialen in Tateinheit mit zahlreichen Konservativen. Letztere waren in Übereinstimmung mit den Nationalsozialisten der Meinung, man könne keinen Juden an der Spitze eines Finanzinstituts und keinen jüdischen Sozialisten in der Justiz dulden. In den skandalösen Kampagnen zeigten sich alle bekannten antisemitischen Argumentationsmuster. Dinter erklärte in der erwähnten 17. Landtagssitzung vom 12. April 1924 unumwunden: "Der Jude Loeb soll in der Versenkung verschwinden."

Im Rechtsstreit um die konstruierten Meineid-Vorwürfe gegen Staatsbankpräsident Loeb kulminierten beide Kampagnen. Die Anklage gegen Loeb führte Staatsanwalt Otto Flöl. Letzterer war politisch der Deutschnationalen Volkspartei als Mitglied verbunden, wechselte aber bereits 1928 zur NSDAP. Oberstaatsanwalt Kurt Frieders kündigte gegenüber Otto Flöl seinen öffentlichen Rücktritt an, falls dieser die offensichtlich konstruierte Anklage gegen Bankpräsident Loeb weiterführen würde.

Da Flöl mit Unterstützung der Ordnungsbund-Regierung die Anklage gegen Loeb fortführte - dieser demissioniert letztlich Ende 1924 -tritt Oberstaatsanwalt Frieders tatsächlich aus Protest zurück. Er wird aufgrund dessen jahrelang mit Disziplinarverfahren und Ermittlungen verfolgt. Einer verhängten Haftstrafe, gegen die alle Rechtsmittel bis zum Reichsgericht ebenso scheitern wie der Antrag auf Begnadigung durch die Landesregierung, kann er sich letztlich nur durch Flucht nach Österreich entziehen.

Doch auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wird das Ansehen Kurt Frieders nicht wiederhergestellt - im Gegenteil. Die DDR strahlt 1961 das Fernsehspiel "Der Fall Frieders" aus. Der mutige Oberstaatsanwalt wird darin als Opportunist gekennzeichnet, der aus Karrieregründen in die SPD eintritt und sich von der Thüringer Rechtsregierung benutzen lässt, bis er von ihr fallengelassen wird.

Der tatsächlich willfährige Staatsanwalt Otto Flöl, der bereits 1924 das Recht beugte, macht hingegen zunächst in der NSDAP Karriere und wird nach dem Zweiten Weltkrieg Landtagsabgeordneter, zunächst der Deutschen Partei und dann der CDU, in Schleswig-Holstein. Er leitet zuletzt als Vorsitzender den Justizausschuss im Landtag.

Legalisierung der NSDAP und Kampf gegen links

Zurück nach Thüringen: Bereits am 3. März 1924 war die Regierung Leutheußer auf Drängen der Völkischen übereingekommen, die Verbote von NSDAP, DFVP und anderen rechtsextremen Organisationen sowie das Auftrittsverbot für Adolf Hitler aufzuheben. Thüringen wurde dadurch zum Aufmarschgebiet der Nazis.

Im August 1924 hielt die von General Ludendorff angeführte "Nationalsozialistische Freiheitspartei" ihren Reichsparteitag in Weimar ab. Ausgerechnet das Deutsche Nationaltheater, in dem fünf Jahre zuvor durch die Nationalversammlung die Weimarer Reichsverfassung erarbeitet wurde, stellte die Ordnungsbund-Regierung diesem Gipfeltreffen völkisch-nationalistischer Organisationen zur Verfügung, in dem sie das Theater vom 15. bis 17. August 1924 als Versammlungsstätte öffnete. Der Schriftsteller und Diplomat Harry Graf Kessler beschrieb "die wüste Hetze gegen die 'Judenrepublik'", die unter dem Deckmantel eines "deutschen Kulturbekenntnisses" im Rahmen dieser Veranstaltung vor dem Nationaltheater, am Fuße des Goethe- und Schillerdenkmals betrieben wurde.

Die reorganisierte NSDAP führte zwei Jahre später, im Juli 1926, ihren ersten Reichsparteitag ebenfalls in Weimar durch. Hitler ernannte Dinter zum Dank zum NSDAP-Gauleiter in Thüringen. Er wurde zugleich Herausgeber der in Weimar erscheinenden Zeitschrift "Der Nationalsozialist".

Der Faschismusforscher Manfred Weißbecker kennzeichnet in der Tageszeitung nd die Folgen dieser Entwicklung mit den Worten: "In keinem anderen Land des Reiches wäre es möglich gewesen, nach der Wiedergründung der Partei ihren ersten Parteitag durchzuführen. In dessen Vorfeld, am 10. Juni 1926, hatte die Fraktion der NSDAP [gemeint ist hier die Völkische Liste, in der die NSDAP vertreten war] [antisemitische] Gesetzentwürfe in den Landtag eingebracht. [...] Zwar fanden die Anträge keine Zustimmung. Doch gab es keine Auseinandersetzung mit diesen ungeheuerlichen Vorstößen."

Konkretisierend muss hinzugefügt werden, dass die Völkisch-Sozialen sowohl am 7. Juli 1925 als auch am 10. Juni 1926 jeweils ein Antragspaket mit antisemitischen Forderungen vorlegten. Um das Ausmaß der antisemitischen Infamie zu verstehen, an denen die rechtsextremistischen Tolerierer der Ordnungsbund-Regierung keinen Zweifel ließen, seien die Forderungen nachstehend dokumentiert. Im Juli 1925 forderten sie:

- "Die Landesuniversität Jena ist für ausländische Juden gesperrt." (Drs. III/296)

- "Die Regierung von Thüringen wird ersucht, sofort Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausweisung der seit dem Jahre 1914 in Thüringen eingewanderten Ostjuden unter Beschlagnahme ihres gesamten in Thüringen erworbenen beweglichen und unbeweglichen Vermögens, da es dem Lande abgegaunertes Volksvermögen ist, zugunsten der Wohnungsfürsorge zu bewirken." (Drs. III/298)

- "Innerhalb des Freistaates Thüringen wird den Juden der Vieh- und Getreidehandel verboten, da die Juden zum Schaden der Landwirtschaft und der gesamten Bevölkerung besonders in diesen Gewerben als notorische Wucher, Schieber und Betrüger auftreten." (Drs. III/299)

- "Den Kindern jüdischer Eltern wird der Besuch der Thüringer öffentlichen Schulen verboten, da sie [...] die deutsche Jugend seelisch und geistig, sittlich und gesundheitlich schädigen. Die Juden haben genug Geld, sich eigene Schulen zu errichten." (Drs. III/301)

- "An den thüringischen Schulen und an der Landesuniversität Jena dürfen Juden als Lehrer nicht mehr angestellt werden." (Drs. III/302)

Ein knappes Jahr später wurde durch Gesetzentwurf (Drs. III/412) gefordert, Juden nicht mehr als Ärzte an staatlichen und kommunalen Anstalten einzustellen oder sie als niedergelassene Ärzte zuzulassen. In gleicher Weise sollte festgelegt werden, dass Juden nicht mehr Richter oder Notare werden dürften (Drs. III/414) bzw. als Lehrer, Professoren oder Dozenten tätig sein (Drs. III/417).

Auch wenn diese weitgehenden Initiativen keine Mehrheit im Landtag fanden, stellte weder der offensichtliche radikale Antisemitismus noch die republikfeindlichen rechtsextremistischen Bestrebungen die Zusammenarbeit der Völkisch-Sozialen mit dem Ordnungsbund infrage. Denn wie Weißbecker zutreffend konstatiert: Man war befasst mit dem Kampf gegen die Linke.

Restauratives Rollback und Vertreibung des Bauhaus aus Weimar

Um die alten Verhältnisse wiederherzustellen nutzte die Regierung Leutheußer eine Vielzahl von Notverordnungen. Es wurden sowohl Verwaltungsstrukturen geändert, um die vorhergehende Kreisgebietsreform zurückzudrehen und es wurde Personalpolitik betrieben. "An der Thüringer Landesuniversität Jena bekamen Senat und Rektor die traditionellen akademischen Rechte wieder zuerkannt, umfangreiche Neubesetzungen von Beamten, insbesondere im Bereich Bildung und Kultur, wurden realisiert", resümiert Burkhard Stenzel.

Die 1921 gebildete Minderheitsregierung von SPD und USPD unter August Frölich (SPD) verfolgte ein ambitioniertes Reformprogramm, insbesondere in der Kultur- und Bildungspolitik. Zunächst wurde das Kultusministerium aus dem Justizministerium herausgelöst, an dessen Spitze der unabhängige Sozialdemokrat Max Greil trat. Er initiierte als Volksbildungsminister eine Reform der Schulen und der Universität Jena, die Gleichbehandlung der Theater und Orchester, die zu den weitreichendsten Reformbemühungen einer sozialistischen Kulturpolitik in der Weimarer Republik insgesamt gehörten. Dazu gehörte beispielsweise aber auch zugleich Beispiel gebend, die Schriftenreihe »Republik und Jugend«, worunter in zwangloser Folge erscheinende Flugschriften zu verstehen sind, die in Auflage mehrerer tausend an die höheren Schulen versendet wurden und der politischen Bildung im staatsbürgerlich-republikanischen Sinne dienen sollten. Die Themen dieser Schriftenreihe, die Aufmerksamkeit über Thüringen hinaus bis nach Österreich weckte, und 2015 in einem Nachdruck der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung in Thüringen klug editiert, erneut publiziert wurde, widmeten sich der Kritik der sogenannten Dolchstoßlegende, der Ursachen des Ersten Weltkriegs, dem Kampf gegen Antisemitismus, aber auch der Gegenüberstellung von "National" und "International".

Max Greil wurde u.a. wegen dieses konsequent gelebten Linksrepublikanismus als Person und Politiker zur Zielscheibe heftigster Anfeindungen und Kontroversen. Diese bereits begannen, als er noch als Volksschullehrer für die Einheitsschule und die Abschaffung des Religionsunterrichts in Gera eingetreten war.

Wenn bis heute über eine „Schule für alle“, ob in Form der in Westdeutschland etablierten Gesamtschule oder der ostdeutschen Gemeinschaftsschule debattiert wird, dann ist festzuhalten, dass dieser Gedanke erstmals in den 1920er Jahren in Sachsen und Thüringen, letzteres auch das Geburtsland der Kindergärten, gegen enorme Widerstände praktisch umgesetzt wurde. Bis heute sind diese Entwicklungen mit Max Greil verbunden.

Die völkisch tolerierte Ordnungsbund-Regierung unter dem DVP-Politiker Richard Leutheußer hob das Züchtigungsverbot in den Schulen teilweise wieder auf und machte insbesondere die Bildungsreformen rückgängig.

Dem 1919 in Weimar gegründeten avantgardistischen Bauhaus entzog Staatsminister Leutheußer, der auch für Volksbildung zuständig war, unter ausdrücklicher Billigung der Völkischen die notwendigen Mittel. Bereits im März 1924 kündigte die Regierung Leutheußer an, den Vertrag mit dem Bauhaus-Direktor Martin Gropius nicht verlängern zu wollen. Eine Solidaritätsadresse der Bauhausmeister für ihren Direktor Gropius beantwortete die Regierung im September 1924 mit der "vorsorglichen Kündigung" der Verträge für die Bauhausmeister zum 1. April 1925. Die im Grunde gesetzeswidrige Vorgehensweise der Regierung führte zu einer enormen Solidarität mit dem Bauhaus im In- und Ausland. Davon unberührt entzog die Regierung Leutheußer dem Bauhaus die für eine solide Arbeit nötige finanzielle Grundlage, indem sie das Budget radikal kürzte.

Dass die vorgetragenen Begründungen einer haushaltspolitischen Abwägung letztlich vorgeschoben und das Vorgehen politisch motiviert war, erklärte Minister Leutheußer im März 1925 letztlich selbst: "Ich betone hier ganz offen und ehrlich: mir passt die Kunstrichtung des Herrn Gropius nicht. Aber trotzdem hat mich diese Einstellung nicht davon abgebracht, vollständig sachlich hier vorzugehen und meine künstlerischen Bedenken zurückzustellen, wenn ich es auch für meine Pflicht angesehen habe, soweit ich diese Möglichkeit dazu hatte, darauf hinzuwirken, dass ... an Stelle dieser extrem expressionistischen Richtung als Norm eine mehr neutrale Richtung eingeführt wurde". Der Grundsatz einer Neutralität des Staates und Nichteinmischung in den Kunst- und Kulturbetrieb galt für die völkisch tolerierte Regierung Leutheußer nicht mehr. Aus den Reihen der regierungstragenden Fraktionen verhielt sich einzig der DDP-Abgeordnete Dr. Krüger kritisch, als er erklärte: "Man kann einem Künstler, den man vom Staate engagiert, nicht solche Grenzen ziehen, wie es geschehen ist von dieser Regierung. Man mag über Herrn Greil denken wie man will, er hat seinen Ärger gelegentlich auch mit Herrn Gropius gehabt, aber er hat nie zum ihm gesagt: diese Richtung passt mir nicht. Das hat der Herr Staatsminister Leutheußer in seinen Ausführungen über normale und neutrale Kunst getan. Die Verantwortung Herr Staatsminister, werden Sie vor der Kunstgeschichte zu tragen haben."

Und so vertrieben Liberale und Konservative gemeinsam mit den Nationalsozialisten das Bauhaus aus Thüringen. Es fand seine neue Heimat in Dessau. Dort erlebte die Kunstschule ihre Blütezeit, bis es auch von dort weichen musste. Der 1923 kurze Zeit als Wirtschaftsminister amtierende kommunistische Landtagsabgeordnete Albin Tenner formulierte ebenso zugespitzt wie weitsichtig am 29. Januar 1925: "Wenn das Bauhaus einmal noch berühmter geworden ist wie bisher und es wird einmal ein Musterbau aufgeführt, soll Gropius die rechte Seite des Thüringer Landtags und diese Regierung photographieren und am Fries die Photographie anbringen lassen mit der Unterschrift: 'Die größten Banausen des Jahrhunderts'".

Eintritt der NSDAP in die Regierung 1930

Fünf Jahre später, nach der Landtagswahl vom 08. Dezember 1929, erlitten die bürgerlichen Parteien massive Verluste, während die NSDAP stark zulegte. Den 23 bürgerlichen Abgeordneten standen 24 linke Abgeordnete von SPD und KPD gegenüber. Die sechs NSDAP-Abgeordneten wurden zum Zünglein an der Waage.

Am 23. Januar 1930 wurde erstmals in Deutschland eine Landesregierung vereidigt, an der die Nazis direkt beteiligt waren. Wilhelm Frick, am Hitlerputsch 1923 beteiligt, wurde Innen- und Volksbildungsminister. Staatsrat wurde Willy Marschler. Frick führte Schulgebete mit faschistischem Inhalt ein, ließ sogenannte dekadente Gemälde aus Museen und Ausstellungen entfernen, verordnete den Erlass »Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum« und die Zensurmaßnahmen gegen das Buch und den Film »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Gendarmeriewachtmeister von Hildburghausen wollte er dem Führer der NSDAP die deutsche Staatsbürgerschaft ermöglichen. Dies scheiterte, wurde aber einige Zeit später von der inzwischen dort gebildeten Regierung unter NSDAP-Beteiligung in Braunschweig durchgesetzt. Damit wurde der vormals staatenlose Hitler in Deutschland wählbar.

Bevor Frick 1931 durch ein Misstrauensvotum abgesetzt wurde, gelang ihm die Errichtung eines Lehrstuhls für Sozialanthropologie für den »Rasseforscher« Hans F. K. Günther an der Jenaer Universität. Bereits im Juli 1932 war die NSDAP wieder in der Thüringer Regierung vertreten. Diesmal mit Fritz Sauckel, einem der engen Vertrauten Hitlers, Hauptverantwortlichen für die Zwangsarbeit und im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess für schuldig befunden und hingerichtet.

Begonnen hatte all dies jedoch mit der Entscheidung der Konservativen und Liberalen, das Bündnis mit den Völkischen einer republikanischen Zusammenarbeit vorzuziehen und damit die Republik ihren Feinden auszuliefern.

Verwendete Quellen:

Debes, Martin 2020: Der Thüringer Tabubruch: Wie die Nazis das erste Mal indirekt mitregierten, in: Thüringer Allgemeine vom 31.01.2020.

Dreyer, Michael/Braune, Andreas 2019: Thüringer Vorspiel zum deutschen Abgrund, in: Freies Wort vom 07.12.2019.

Eckardt, Michael (Hrsg.) 2015: Staatsbürgerliche Erziehung in Thüringen. Die Schriftenreihe "Republik und Jugend" (1922-1923) des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung, in: Quellen zur Geschichte Thüringens, hrsgg. v.d. Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen, Erfurt.

Gallus, Alexander 2023: Würdelose Hilfestellung. Wie die NSDAP im Winter 1929/30 in Thüringen mithilfe konservativ-bürgerlicher Kräfte ihre erste Machtposition in einem Land eroberte und in Weimer eine Herrschaft gegen Weimar erprobte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.12.2023.

Heiden, Detlev/Mai, Gunther (Hrsg.) 1996: Thüringen auf dem Weg ins "Dritte Reich", Bd. 2 der Reihe "Thüringen gestern und heute", Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt.

Hesselbarth, Mario 2024: Die Thüringer Landtagswahl am 10. Februar 1924 und ihre Konsequenzen für die weitere politische Entwicklung des Landes, in: Artikelserie zum Thüringer Wendejahr 1924, hrsgg. v.d. Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen, Erfurt.

Hoff, Benjamin-Immanuel 2023: Linksrepublikanische Gelegenheiten: Die Volksfrontregierungen in Sachsen und Thüringen, Blogbeitrag 2023.

Leimbach, Timo 2018: Politik im Land Thüringen 1920-1933, Erfurt.

Stenzel, Burkhard/Winkler, Klaus Jürgen 1999: Kontroversen und Kulturpolitik im Thüringer Landtag 1920-1933, in: Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Heft 13, Weimar.

Weißbecker, Manfred 2020: Erster Schritt ins Dritte Reich. Vor 90 Jahren trat die NSDAP in die Thüringer Landesregierung ein, in: Neues Deutschland vom 24.01.2020.

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Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

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