Julian und seine Männer

Streaming In sieben Folgen begleitet die Dokumentation „BILD.Macht.Deutschland?“ die Boulevardzeitung durchs Krisenjahr
Ausgabe 51/2020

Amazon klaut Günter Wallraff den Job. Auf das Wesentliche reduziert könnte man das wohl so sagen. Vor über 40 Jahren war noch ein Investigativreporter vonnöten, um der Öffentlichkeit zu zeigen, wie die Bild arbeitete. Als Hans Esser schleuste sich Wallraff damals in die Redaktion ein und veröffentlichte anschließend unter anderem das Buch Der Aufmacher, in dem er über die Methoden der Boulevardzeitung berichtete.

Es waren andere Zeiten, Der Aufmacher erschien 1977. Im Jahr 2020 dagegen ermöglichen Amazon Prime und das Genre der „Hinter den Kulissen“-Dokumentationen, die man sonst vor allem aus dem Sport kennt, den Blick in den Maschinenraum ganz ohne Verkleidung. Wallraff dagegen schrieb damals noch: „Das bin ich nicht mehr, der mich da aus dem Spiegel anschaut. So eine Visage, auf Karriere getrimmt, wie ich sie bei Jungmanagern immer hasste.“

Die Macher der siebenteiligen Doku-Serie BILD.Macht.Deutschland? hatten dagegen wohl den Segen des Springer-Konzerns. Der Medienjournalist Daniel Bouhs schreibt bei Zeit Online, das Team sei mit Hausausweisen und eigenen Büros versorgt worden. Das sind natürlich günstige Voraussetzungen für eine Dokumentation, die – so der Pressetext – „noch nie da gewesene Einblicke in die Bild-Redaktion“ liefern soll.

An dieser Stelle könnte man im Grunde auch schon abwinken. Was soll dabei schon herauskommen? Aber neugierig macht die Versuchsanordnung doch. Weil die Bild polarisiert. Weil viele sie für ein schlimmes Blatt mit moralisch verwerflichen Methoden und fatalen Folgen für die Gesellschaft halten, während sie gleichzeitig nach wie vor enormen Einfluss auf die öffentliche Debatte im Land hat und – so wird das Revier gleich zu Beginn der Doku markiert – Europas größte Tageszeitung ist.

Ein Jahr hat das Team die Arbeit der Bild-Macher*innen dokumentiert. Über allem schwebt dabei die Corona-Krise, eine mediale Großlage. In Großlagen, so sagt es Paul Ronzheimer, stellvertretender Chefredakteur, sei die Zeitung immer stark. Also gibt es die Redaktion in Aktion zu sehen. Ohne Kommentar aus dem Off werden die verschiedenen Protagonist*innen (der Großteil von ihnen Männer) durch das Springerhaus und die Welt begleitet.

So arbeitet sich die Dokumentation durch dieses Jahr – anhand von großen Geschichten der Bild. Das ist viel Corona, aber auch die neuen Entwicklungen im Fall der 2007 entführten Madeleine McCann oder die Skandale um den thailändischen König, der die meiste Zeit in Bayern verbringt. Wirkt das am Anfang noch reichlich konfus, ergibt sich peu à peu ein Bild des „Kosmos Bild“. In der Hauptrolle Julian Reichelt mit der klaren Botschaft: Er ist der Kapitän, der Anführer einer wilden Bande auf der Jagd nach der nächsten, gerne „geilen“ Geschichte respektive Schlagzeile. Selbstredend getrieben vom kritischen Denken. Mal sieht man Julian Reichelt Stimmung machend in den Konferenzen, mal rauchend in seinem Büro mit Blick über die Dächer Berlins, mal die Nachrichten verfolgend und kommentierend, mal in Gesprächen mit Spitzenpolitiker*innen.

Sprachrohr der Menschen

Diese Spitzenpolitiker*innen äußern sich – meistens befragt am Rande ihrer Auftritte beim TV-Format Bild Live – durchaus wohlwollend über die Zeitung. Ja, manchmal sei die Beziehung kompliziert, aber die Bild eben als Sprachrohr zu den Menschen da draußen unentbehrlich, so der Tenor. Horst Seehofer findet, Bild orientiere sich „sehr an der Wahrheit“. Neben derlei warmen Worten ist es auch hier wieder die Botschaft, die zählt: Bild ist nah an den Mächtigen – ohne sich von ihnen korrumpieren zu lassen. Paul Ronzheimer grillt zum Beispiel seinen alten Bekannten Sebastian Kurz und kitzelt aus ihm eine Schlagzeile heraus, die der so eigentlich nicht gerne in der Zeitung lesen wollte.

Ronzheimer ist neben Reichelt eine der präsentesten Figuren der Dokumentation – nicht nur als Politikexperte und reflektierter Stellvertreter, sondern auch als Reporter an den diversen Fronten – beispielsweise in der Ostukraine, wo er nicht lockerlässt, bis er endlich direkt an vorderster Front steht. Ein anderes Mal reist der Reporter nach Lesbos, um über die Zustände im Refugee-Camp Moria zu berichten.

Man kann das als reine Inszenierung interpretieren, als ein kalkuliert nach außen getragenes Bild der Rabauken im Dienste der Öffentlichkeit. Dann wäre die Dokumentation unnötig und ärgerlich. Doch da sind auch die anderen Momente, die mal mehr, mal weniger deutlich durchschimmern. Etwa der Streit in der Redaktion: Gleich in der ersten Folge faltet Chefredakteur Julian Reichelt in der Konferenz seine Chefreporter zusammen, weil die keine Ahnung haben, wo die Reporter*innen unterwegs sind. Derlei Ausbrüche werden ebenso gezeigt wie die Kritik der Belegschaft daran. Auch die Berichterstattung über eine Studie des Virologen Christian Drosten, die medial große Wellen schlägt, wird, so legt es die Serie nahe, auch innerhalb der Redaktion kritisch gesehen. Überhaupt sind die Einblicke in die Konferenzen interessant. Es ist schon bemerkenswert, wenn Reichelt fragt, wie der „Oberchinese“ heißt – er meint Xi Jinping –, und sich totlacht, als einer sagt, man schreibt es so, wie man es spricht. Vorteilhaft ist das nicht unbedingt.

Auch die Etablierung der TV-Sparte, auf die man im Haus große Stücke zu halten scheint, läuft nicht immer rund und bringt Redakteur*innen wie Reporter*innen mitunter arg an ihre Grenzen. Und es hat fast etwas kindlich Anrührendes, wenn Reichelt sich hurtig den Feldstecher schnappt und die Lage sondiert, als es auf der Baustelle des Berliner Stadtschlosses brennt. Derselbe Eindruck drängt sich bei seinem Feldbett auf, das ebenso zum Büroinventar gehört wie das Spirituosen-Tischchen, das in Kombination mit der permanent glimmenden Zigarette einen ostentativen Mad-Men-Vibe versprüht. Diese Momente haben geradezu einen anrührenden Charme von Ehrlichkeit.

Vor allem aber kann man sich anhand von BILD.Macht.Deutschland? über Funktion und Bedeutung von Boulevard Gedanken machen. Weil die Richtig- und Wichtigkeit des Formats mit besonders großer Verve vorgetragen wird. Der Boulevard wird hier als die laute Marching-Band begriffen, die allen anderen Medien eine Schneise im öffentlichen Diskurs schlägt – zugleich aber auch als die Form, die die Essenz eines Themas herausarbeitet und komplizierte Sachverhalte einfach erklärt. Paul Ronzheimer in Moria ist hierfür das beste Beispiel: Ist es nicht gut, wenn das Thema einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird?

Dieser Gedanke hat – jenseits aller politischen Verortung – schon etwas Reizvolles. Doch das Problem ist, dass diese breite Öffentlichkeit in BILD.Macht.Deutschland? in keinster Weise vorkommt. Kann man ernsthaft vom Boulevardjournalismus erzählen, ohne seine Wirkung genauer zu beleuchten? Doch genau das geschieht hier. Die Bild wird zwar über ihre gesellschaftliche Bedeutung definiert, gleichzeitig spielt Gesellschaft im Grunde aber keine Rolle.

Dabei hat dieses spannungsreiche Verhältnis ja durchaus Geschichte. Vom 68er-Ruf „Bild hat mitgeschossen“ an wurde immer wieder auch auf das zerstörerische Momentum des Bild-Journalismus hingewiesen. Von immer wiederkehrenden Kampagnen – voller rassistischer Ressentiments oder Vorurteile gegen Hartz-IV-Empfänger*innen – ganz zu schweigen. Was es für Folgen für einzelne Menschen haben kann, Gegenstand von Bild-Berichterstattung zu werden, kommt in der Dokumentation ebenso wenig vor wie die aufwieglerische Macht, die die Bild hat. Dafür stehen zum Beispiel die 219 Rügen Pate, die der Deutsche Presserat gegenüber der Bild seit 1986 ausgesprochen hat. Zum Vergleich: Auf Rang zwei dieser unrühmlichen Bestenliste liegt die B.Z. mit 21 Rügen. Und so sollte man sich BILD.Macht.Deutschland? vielleicht am besten in Kombination mit der verdienstvollen Arbeit vom Bildblog, einem Watchblog zur Boulevardberichterstattung der Bild, ansehen. Frei nach dem Motto: „Bild dir deine Meinung“.

Info

BILD.Macht.Deutschland? 7 Folgen, Deutschland 2020, ab 18.12., Amazon Prime

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und sammelte nebenbei erste journalistische Erfahrungen als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz möglichst viel Anklang zu finden. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts.

Benjamin Knödler

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