Aufklärung: Reboot it! Sentire aude! - Communityknatsch reloaded

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„ Als Mensch, als Subjekt erfahren wir uns am ehesten über Gefühle und Empfindungen,weniger über Intellekt und Rationalität. Gefühle trügen nicht, in ihnen – viel mehr als in dem, was wir wollen oder intendieren – empfinden wir uns am intimsten, am unverwechselbarsten.“(Wilhelm Rimpau)

(Dank an A. und M.)

Ich wollte schon länger über Gefühle und Gefühlsunterdrückung schreiben, und die Gelegenheit passt: Individuen im Gefühlshagel der Community, hört die Signale!

Warum plädiere ich für einen Neustart der Aufklärung, rebooten mit „Sentire aude“? „Sentire“ heißt: Fühlen, empfinden, merken, bemerken, meinen, verstehen. Für den Lateiner ist klar: Wer fühlt, versteht die Welt. Das gilt anscheinend für uns nicht mehr, wir wollen nicht mehr fühlen, sondern nur verstehen, weil wir uns der Tyrannis des Verstandes und der Geschmacksnerven ausgeliefert haben, die uns über die Wissenschaft und das Mode-Business im Griff haben, nach dem Motto von Gestern: Sapere aude! (Wage, dich deines Verstandes zu bedienen)(Sapere = schmecken, verstehen, verständig sein, mehr heißt das nicht!)

Rationalität – eine berechtigte ultima ratio?Wer mir hier widerspricht, müsste beweisen, dass wir nicht in einem Zeitalter leben, das sich auf seine Rationalität äußerst viel zugute hält, mit dem Siegeszug der Technik und der Naturwissenschaften seit dem 19.Jahrhunderts glaubt, Triumphe über Religion, Aberglauben und die bösen Naturgewalten seien permanent reproduzierbar. Warum gilt es, die Tyrannis des Verstandesdenkens zu meucheln? Vorläufige Antwort: Weil im Namen einer angeblich superioren Vernunft ein Verwaltungssystem von Wissen namens Wissenschaft eine Intimfeindschaft zur inferioren, weil angeblich irreführenden Intuition sich begründet hat, das mit gewohnheitsmäßigen Siegesposen à la Pyrrhus sich rituell immer wieder in Szene setzt.

Materielle Erfordernissen und rationale Sachzwängen dominieren über seelische Bedürfnisse, die wie knetbare Verfügungsmasse nur als individuelle Elemente der sozialen Reproduktion von Individuen, jedoch nicht als wertschöpfende Bestandteile einer an entwicklungspsychologischen und sozialen Kriterien orientierten Produkthierarchie Geltung zugesprochen wird.

Siamesische Zwillinge: Fragilisierung und Wissensexplosion Charles Taylor hatte davon geschrieben, dass mit der Säkularisierung in der Moderne eine immer größere Vielfalt von Möglichkeiten , moralischen Optionen und wissenschaftlichen Erkenntnissen entstanden ist (Nova-Effekt),andererseits sei damit ein maximaler Fragilisierungseffekt verbunden, Gefühle der Leere, der Angst und Enttäuschung und Lebensunsicherheit. „Der Fragilisierungseffekt, der auf einer Vervielfältigung der Möglichkeiten und Lebensoptionen beruht, führt zu einer äußerlichen Gleichgültigkeit.“ (Gert Scobel: Der Ausweg aus dem Fliegenglas, Fischer, Frankfurt/M., S. 46) Warum es aber sinnvoll sein soll, auf die Vernunft statt auf das Gefühl, auf Logik statt auf Intuition, auf Wissenschaft statt auf Poesie zu setzen, bleibt unbeantwortet.

Nietzsches Vernunft des Körpers im Dornröschenschlaf Nietzsche war noch bereit gewesen, unbewussten Kräften, der Sinnlichkeit, dem Gefühl, auch Trieben und Leidenschaften zuzugestehen, positive Kräfte zu sein, die durch Vernunft jedoch geschwächt würden und forderte , die Vernunft müsse zur Vernunft kommen. In seinem Verständnis ist Vernünftigkeit nicht nur eine Sache des logischen Denkens, sondern findet sich in der Natur , im Körperlichen. Die Neurowissenschaften entdeckten erst in den letzten Jahren, dass Geist sich nicht ohne Körper entwickelt.

Adorno: Ein Verblendungszusammenhang instrumenteller Vernunft Adorno und Horkheimer sahen ein Umschlagen von Aufklärung in Mythologie, Vernunft würde missbraucht als „Hilfsmittel einer umfassenden Wirtschaftsapparatur“, ein „gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“ verhindere, dass die Vernunft zur Besinnung komme, durch eine entfesselte instrumentelle Vernunft werde der Mensch der Natur und seiner eigenen Natur entfremdet, Aufklärung wandle sich zum „totalen Betrug der Massen“ (Dialektik der Aufklärung).

Ich stimme mit ihnen überein: Eine Aufklärung, die sich nicht über ihre heimlichen Motive, über Macht und Machtansprüche und über die Mythen, die Vernunft betreffend, Rechenschaft gibt, ist keine.

Wo ist Adornos Impuls aufgegriffen? Er meinte: „Philosophie hat (…) ihr wahres Interesse dort, wo Hegel (…) sein Desinteresse bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen, bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde“ (Negative Dialektik, S. 19).

Blochs Frage nach einer Strategie gegen die Inhumanität

Blochs Kritik an der Welt der Weimarer Zeit war öfters schon Thema im Freitag ( www.freitag.de/1027-denken-als-handgemenge/?www.freitag.de/0736-traum/?searchterm=bloch

Er warf ihr vor, die seelischen Bedürfnisse der Menschen zu verleugnen. Wer sich nur an abstrakter wissenschaftlicher Rationalität orientiere, habe keine geeignete Strategie gegen die Inhumanität (die er auf Seiten der nazistischen Bewegung verortete).

Woran orientieren wir uns mehr als zwei Generationen danach ?

Bloch propagierte, in Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst Vernunft in einer wirklich aufgeklärten Weise zu gebrauchen. Dazu gehörte für ihn : Innere wie äußere Konflikte der Menschen ernst nehmen, zugleich individuelle und gesellschaftliche Verdrängungsprozesse bewusst machen.

Damasio: Sind Emotionen überlegene automatisierte Handlungsprogramme?

Nach dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio sind Emotionen wie Angst, Wut, Trauer oder Ekel die “untrennbaren Kronjuwelen der Lebenssteuerung.” Emotionen sind “komplexe, größtenteils automatisch ablaufende,von der Evolution gestaltete Programme für Handlungen, [die] durch ein kognitives Programm, zu dem bestimmte Gedanken und Kognitionsformen gehören” ergänzt werden.”

Emotionen haben bestimmte Auswirkungen auf unseren Körper und unseren Verstand. Wenn wir wahrnehmen, was körperlich und geistig abläuft, ist dies eine interozeptische Wahrnehmung, die nicht mit dem Gefühl oder der Emotion an sich verwechselt werden sollte. Jede Emotion setzt bestimmte Formen der geistigen Verarbeitung in Gang, spezifisch wie ein bestimmter Schlüssel ein passendes Schloß öffnen kann. Wenn es auch vorkommen kann, dass eine Emotion wie Angst durch eine fehlgeleitete Gewohnheit ausgelöst wird, hat jede Emotion jedoch prinzipiell einen nützlichen Zweck. (Damasio, Antonio (2011): Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/M., S. 122)

Damasio verweist darauf, dass die Handlungen von Menschen in vielen Fällen von unbewussten Prozessen gesteuert werden, die primär als wahrnehmungsbedingte Reaktion auf die Aussenwelt getriggert werden und weniger durch Einbeziehung von Kenntnissen und Reflexionen, die sich über längere Zeiträume entwickelt haben. Entscheidungen werden häufig getroffen mithilfe der unbewussten Verarbeitung geistiger Inhalte, dem kognitiven Unbewussten, das durch Mechanismen von Wünschen und Trieben ebenso beeinflusst wird wie das Bewusstsein.

Damasio zitiert eine Untersuchung von Ap Dijksterhuis, derzufolge Entscheidungen besser waren, die ohne bewusstes Denken getroffen worden waren (ebd. S. 288). Dies legt nahe, dass der eher Dummheiten begeht, der zu lange nachdenkt. Kant, Hegel, Marx, Nietzsche und ihr Rationalisten alle: Habt ihr zu viel gedacht und zu wenig gefühlt?

Dem Gefühl trauen, dem Wissen misstrauen

Das sichere ist nicht sicher so wie es ist, bleibt es nicht.“ (Bert Brecht)

Aufklärung rebooted bedeutet als neues Moto: Aude dubitare sapientia et confidere sentire! (Wage, dein Wissen zu bezweifeln und vertraue deinem Gefühl!) Das schließt nicht aus, seinen Verstand zu gebrauchen, sondern setzt es voraus, aber eben nicht uneingeschränkt. Die Vernunft als solche gibt es jedoch nicht. Jede derartige Behauptung ist Illusion, bei Bezug auf eine Institution ein Machtmissbrach, eine Leugnung der postmodernen Entwicklung, die nach Jean-Francois Lyotard zu einer radikalen, nicht reduzierbaren Pluralisierung der Wissensformen und der Vernunft geführt hat. Dies schließt ein, dass es auch Verirrungen wie verschiedene Formen von Fundamentalismus und nihilistische Strömungen gibt. Glasklar sollte sein: Wenn eine Denkart sich nicht in einem pluralistischen Gesellschaftssystem bewährt, den Alltag für alle lebenswert macht, ist es eine Sackgassenideologie.

Die Vernunft der Alternativlosigkeit Allzu oft ist das, was als „vernünftig“ bezeichnet wird, das Produkt eines individuellen und/oder kollektiven Verdrängungsprozesses, der durch herrschende Tabus davor geschützt ist, thematisiert zu werden: „Atomkraft ist sicher“, „Unsere Wirtschaft muss wachsen“, „Diese Entscheidung ist alternativlos“ – die hinter diesen Sätzen stehende behauptete Rationalität kann keinen höheren Vernunftrang beanspruchen als den des Kaisers im Märchen, der seinen Untertanen seine neuen -eingebildeten- Kleider vorführte.

Im Begriff „alternativlos“ kommt am deutlichsten zum Ausdruck, dass eine Veränderung der aktuellen oder zukünftig als Status Quo postulierten Gegebenheiten tabuisiert wird, wie z. B. die Verdrängung von äußeren Konflikten durch soziale Veränderungen wie die Ziele der Agenda 2010, ihre Verlagerung in den Bereich der persönlich zu verantwortenden Lebensplanung. So sehr gestaltende Politik von der Bevölkerung erwartet, sich an andere Umstände anzupassen, so wenig wird auf der horizontalen Ebene zwischen Gleichen die Option einer Veränderung der eigenen Position durch Vorgaben von anderen akzeptiert. Der Verstand fragt bei jeder Veränderung nach dem Nutzen, was jedoch als Nutzen gesehen wird, unterliegt einem subjektiven Maßstab jenseits der Kosten-Nutzen-Kalkulation.

Sich Einlassen auf die Wirklichkeit Welcher Vernunftorientierte ist für „das Schöne, Wahre, Gute“, selbst wenn er es nicht verkaufen kann oder es sich nicht leisten kann ? Wann passiert ein „Respondeo etsi mutabor!“ bei dem ein ICH auf eine Frage antwortet und dabei eine unerwartete Antwort findet, die es selbst zu einem anderen Menschen werden lässt? Wer die Veränderung nicht zulassen will, meint, er würde dadurch wörtlich oder übertragen „verrückt“, ein Andererer als er sein will. Nur der, dessen Gefühl ihm vermittelt, dass die Veränderung es wert ist, seine Haltung der Neutralität oder Ablehnung zu ändern, wider die Zweifel der Vernunft das Herz in die Waagschale zu werden, wird es tun.

Diese unkalkulierbare Freiwilligkeit ist der Mörtel einer durch sie möglichen friedlichen Koexistenz trotz aller Unterschiede der geografischen oder weltanschaulichen Zugehörigkeit. (Liberté entspricht der geografischen Freiheit, égalité der weltanschaulichen und fraternité ist die freiwillige Haltung der gegenseitigen Anerkennung und Unterstützung trotz aller Unterschiede.) Freiheit ist nur dort gegeben, wo Offenheit für Veränderungen besteht. Wie ist es um unsere politische Freiheit bestellt?

Was ist von einer Konditionierung zu halten, die den Zweifel an der Richtigkeit des subjektiven Gefühls als immer objektiv nötiges Korrektiv zur grundsätzlichen Irrationalität von Emotionen zum Leitnotiv macht und nur als wahr betrachtet, was verallgemeinerungsfähig ist? Sind nicht verallgemeinerungsfähigen Wahrheiten nichtexistent? Wenn ich meine Frau liebe, liebe ich dann nur, wenn ich alle Frauen liebe oder auch dann, wenn ich nur meine Frau liebe?

Fragilisiert in der Supernova-Wolke des Wissens: Linkes Selbstverständnis

Die Meterologen finden, gefühlte Kälte ist kälter als gemessene Kälte. Ist links gedacht überzeugender, ziviler als links gefühlt?

Das Bemühen, viele Vorgänge auf ihren sachlichen Kern zu reduzieren, ist zwar berechtigt. Es wäre jedoch ein Missverständnis, davon auszugehen, dass die emotionale Ebene ausgeblendet werden könnte. Wenn Sachlichkeit ohne emotionale und soziale Intelligenz auskommen will, wird sie zur reziproken Kindergartenposse.

Kinder sind Wesen, die unmittelbar emotional reagieren und dies auch signalisieren und verbalisieren können und tun. Wenn Erwachsene nur noch sachlich reden und tun, als seien sie ihren Gefühlen entwachsen wie den Gummistiefeln der Kindergartenzeit, hat dies den Charakter einer gespielten verkehrten Welt: Das Gehirn kennt keine Notabschaltknopf für Gefühle, nur der Intellekt hat mitunter schmerzlich gelernt, Gefühle zu unterdrücken, um Situationen besser durchstehen zu können. In archetypischer Weise hat Paul Simon dies zum Ausdruck gebracht:

“Don't talk of love, but I've heard the words before; It's sleeping in my memory. I won't disturb the slumber of feelings that have died; If I never loved I never would have cried. I Am A Rock, I am an island. And a rock feels no pain, and an island never cries.“

Communityknatsch reloaded

Emotionale Verletzungen sind dauerhaft, gerade wenn sie mit rationaler Pose verteilt werden. In meiner persönlichen, partiellen Wahrnehmung der Diskussionskultur in der Freitags-Community bilden sich der Nova-Effekt wie eine Fragilisierung ab, die durch Posen inquisitorischen Dominanzstrebens kontrastiert werden, das – bildlich gesprochen – weder vor dem Gebrauch steinzeitlicher Werkzeuge noch vor dem Einsatz argumentativem Waterboardings zurückschreckt und das, was an Bemühen um linke Zivilität vorhanden ist, mitunter überwuchert.

Ich denke, es wäre ein realer Fortschritt, wenn mehr Bewusstsein für die Berechtigung von Gefühlen und der Rücksichtnahme darauf Geltung erreicht haben wird, statt dass Gefühle ständig als Blindgänger primärer Bewusstseinsprozesse detonieren und dann irgendwelche Konventionen, Traditionen oder Neuinterpretationen dessen, was „Links sein“ im Rahmen der FC bedeuten könnte, herhalten müssen als Rationalisierung und Begründungskontext, warum gefühlbedingte Bauchentscheidungen aus zwingender Notwendigkeit zu treffen gewesen sind, ob es nun darin besteht, Threads zerschießen oder in Verbalpöbelei, Intoleranz, Indifferenz, Zynismus, Rabulistik und Sophisterie, Ehrabschneiderei, Accountlöschungen, Deaktivierung, Sperrung und was es sonst noch an Ausgrenzungsoptionen gibt. Unverständlich fand ich immer schon, dass ein deaktivierter Nutzer seiner Identität beraubt wird, seine anonyme Meinung aber weitertransportiert wird.

Neurobiologen haben plausibel dargestellt, warum primäre Gefühlsreflexe unser Verhalten größtenteils bestimmen (vgl.: www.freitag.de/community/blogs/bertamberg/nicht-nur-zur-weihnachtszeit-gefuehle-kommen-hoch-warum ) und der sogenannten Krone der Schöpfung damit mehr als einen Zacken ausgebrochen. Kein Wunder, dass sich die Bereitschaft, dies zur Kenntnis zu nehmen, in Grenzen hält, aber auch kein Ruhmesblatt. Vor diesem Hintergrund stellen sich mir Fragen:

Erleben wir nicht zu oft eine pervers zu nennende Dominanz der primären Gefühlsreflexe SEEK, RAGE, PANIC und FEAR unter der Behauptung ihrer angeblichen Rationalität?

Ist es so, dass in unserer Zivilisation die sozialfördernden Emotionen (LUST / Lustempfindung, CARE / Fürsorge und PLAY / Spieltrieb ) eher in einer pervertierten Form auftreten und auch die FC nicht frei davon ist?

Wäre es nicht ein linkes Projekt, Zivilität auch des Umgangs miteinander so zu entwickeln, dass CARE als ausdifferenzierte primäre Emotion Vetorecht erhält?

Woran könnte man in der FC Belege für zunehmende Zivilität erkennen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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