Alles hätte anders kommen sollen. Wären seine Filme nur beim US-Publikum gut angekommen, wären mehr Mäzene an seinen Produktionen interessiert gewesen – ja, was? Dann wäre Georg Wilhelm Pabst, der in der Weimarer Republik noch sozialistische Leinwandepen schuf, niemals auf die Idee gekommen, unter Joseph Goebbels regimetreue Filme zu drehen (der Freitag 42/2023). Aber wie man sieht, bestimmen doch einige Konjunktive diese Lebensgeschichte. Wohl auch deswegen eignet sie sich so exzellent als Stoff für die Literatur, allen voran für den schelmischsten Fabuliermeister der deutschsprachigen Romanciers, Daniel Kehlmann.
Ähnlich wie in seinem Weltbestseller Die Vermessung der Welt (2005) über die Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Fr
der von Humboldt und Carl Friedrich Gauß füllt er in Lichtspiel erneut die Lücken in der Biografie einer historischen Persönlichkeit, wobei er subtil die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschiebt. Zumindest die grundlegenden Fakten sind bekannt: Nachdem der vor allem für die Verfilmung von Frank Wedekinds Die Büchse der Pandora (1929) bekannt gewordene Regisseur Pabst nach der Machtübertragung an die Nazis zunächst versucht, in Hollywood und Frankreich Fuß zu fassen, führen ihn diverse Umstände zurück nach Österreich. Dort produziert er 1942 den pathostriefenden Streifen Paracelsus, dessen heroische Stilisierung sich gänzlich in das faschistische Zeitkorsett fügt, und arbeitet gar kurzzeitig am Set von Leni Riefenstahls Tiefland mit – wo Hitlers liebste Filmemacherin Inhaftierte als Statisten heranzieht. Zwar darf Pabst nach der deutschen Kapitulation weiterdrehen und sich mit einem Werk gegen Antisemitismus positionieren, aber an seine Erfolge von einst kann er bei Weitem nicht mehr anknüpfen.Kehlmann belässt es in seinem neuen Roman nicht beim bloßen Porträt eines Opportunisten. Vielmehr zeichnet er das Bild einer geradezu wahnhaften Figur. Getrieben vom eigenen Ehrgeiz, passt sich sein Pabst, wenn auch zähneknirschend, dem Hitler-System an und stürzt sich in Arbeit. Die demente Mutter und ein Unfall mit einer Leiter, die ihn reiseunfähig machen, erscheinen bald nur noch als Vorwände dafür, das Reich nicht verlassen zu müssen. Schuldig wird er in mehrerlei Hinsicht. Sein Sohn muss an die Front, seine Frau zerbricht am falschen Leben, und für sein Engagement im Nazifilmkosmos nimmt er die Repression gegen Kollegen billigend in Kauf.Wie sehr sich jener, der 1931 noch Brechts Dreigroschenoper für das Kino adaptiert hatte, verirrt, legt eine Schlüsselszene aus den letzten Kriegstagen dar: Mit seinem unvollendeten Werk Der Fall Molander im Gepäck gerät der Protagonist in einen Tumult aus Bombenhagel und Panik. Auf den Straßen lodert das Feuer, Rauch dringt in die Lungen der Flüchtenden. Die einzigen Gedanken des Regisseurs: „Schwierig zu beleuchten, vom Tageslicht durch die Staubwolke in die Dunkelheit“ – und überhaupt lässt ihn diese „so aufwändige Massenszene (…) unwillkürlich an die Kosten“ denken. Feuersbrunst und Überlebenskampf als Kulisse? Pabst erweist sich als Musterbeispiel für Realitätsverweigerung, mithin als bemitleidenswertes Genie, das die Wirklichkeit als Film verkennt.Damit steht er im Universum des 1975 in München geborenen Autors keineswegs allein. Geprägt vom südamerikanischen magischen Realismus eines Gabriel García Márquez oder eines Jorge Luis Borges, zeugen die Texte des Kleist- und Welt-Literaturpreisträgers von empfindlichen Wahrnehmungserschütterungen. In seinem ästhetisch ausgefeiltesten Roman Ruhm (2009) beschreibt er Identitätsverluste und -verdopplungen im Licht von Digitalisierung und Virtualisierung, in seiner Horrorerzählung Du hättest gehen sollen (2016) steigert sich ein sichtlich schizoider Mann in einer einsamen Waldhütte in spinnerte Phantasmagorien hinein. Nicht zu vergessen im Spektrum der Auflösung aller Gewissheiten ist Kehlmanns Alter Ego, die Schriftstellerfigur Leo Richter. Mehrfach verschwindet er in zurückliegenden Werken auf ominöse Weise, um daraufhin genauso rätselhaft wieder aufzutauchen, stets mit der großmeisterlichen Gebärde des sämtliche Fäden in der Hand haltenden Autors.Die Funktion all dieser uns absichtlich verwirrenden Operationen ist zumeist gesellschaftskritischer Natur. Gerade in Zeiten von Fake News dokumentieren sie die schwierige Suche nach der Wahrheit. Noch pikanter mutet dieses Unterfangen bei der Sicherung historischer Tatsachen an. Verfasste Kehlmann bereits mit seinem Theaterstück Die Reise der Verlorenen (2018) über ein Schiff mit aus Nazi-Deutschland Geflüchteten, das vor Kuba zurückgewiesen wurde, ein Monitum gegen das Verdrängen, bekräftigt er nun mit Lichtspiel (in einer Phase der wiedererstarkenden Rechten in Europa) seinen Weckruf zur aufrichtigen Erinnerungskultur.Deren Fundament schwindet mit zunehmendem historischen Abstand, was sich auch in der klugen Konstruktion dieses Romans offenbart. Zum einen wird die Rückschau auf Pabst gerahmt von einem unter Demenz leidenden, früheren Weggefährten des Regisseurs, dessen Gedächtnisschwund als Metapher für die gesellschaftliche Geschichtsvergessenheit verstanden werden kann. Zum anderen jongliert der Autor mit allerlei Verfremdungseffekten. Er wechselt munter die Perspektiven von der auktorialen Sicht zur Innensicht des zunehmend vom Regime indoktrinierten Sohnes des Regisseurs. Bisweilen klärt er die Leserschaft nicht darüber auf, wo Traumepisoden beginnen und enden. Mit diesen Elementen schafft er eine Art Spiegelkabinett – jedes Bild darin ist verzerrt – und befördert uns in eine Desorientierung, die uns dazu anhält, die losen Puzzleteile der Historie richtig zusammenzusetzen. Wir durchlaufen ein Labyrinth, ohne dabei auch nur für eine Sekunde den Reiz an der Lektüre zu verlieren. Denn in dieses dunkle und schwere Kapitel des 20. Jahrhunderts zieht uns Kehlmann mit bewährter Situationskomik, Ironie und einem durchweg leichtfüßigen Stil hinein – und stellt erneut seinen Rang als einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart unter Beweis.Placeholder infobox-1