Der Unterschätzte
Epoche Goethe, Schiller und sonst so? Eine neue Biografie betont die Bedeutung Christoph Martin Wielands für die Weimarer Klassik
Wer an die Weimarer Klassik, diese Hochzeit der europäischen Literatur, in der sich das Subjekt neu und frei begründet, denkt, dem fallen zwei Namen ein. Und zwar zunächst wirklich nur sie: Goethe und Schiller. Beide entdeckten die Antike wieder und übersetzten deren Natur- und Schönheitsideale in ihre Zeit. Doch wie begründet ist die Engführung dieser Umbruchära auf lediglich zwei Genies? Glaubt man dem 1952 in Bonn geborenen Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, sollten wir unser Bild dringend rekonfigurieren. Seine Biografie Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutsche
rtin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur – die erste nach siebzig Jahren – stellt uns den bislang zu Unrecht im Schatten der beiden prominenten Zeitgenossen firmierenden Schriftsteller als einen wichtigen Wegbereiter der europäischen und deutschen Klassik vor. Er schreibt nicht nur den ersten Bildungsroman und definiert als einer der Ersten die Gattung der Novelle, sondern erweist sich überdies auch als Herausgeber, begabter Übersetzer (mitunter von Horaz und Lukian) und politisch engagierter Kopf. Nicht zu trennen ist von alledem sein ausgeprägtes journalistisches Talent, besonders was die Literaturkritik und die Glosse anbelangt. Weimarer Klassik, so offenbart diese Annäherung an den 1733 in Biberach an der Riß geborenen Intellektuellen, ist ein Projekt, das viele Ursprünge hatte.Placeholder infobox-1Weder nochBlack or white Ein Comic gegen kulturelle Aneignung und für DialogZu weiß, um schwarz zu sein, und zu schwarz, um dunkel zu sein – als in der Karibik geborene afroamerikanische Germanistikprofessorin hat Priscilla Layne genau mit diesem Zwischen-Sein zu kämpfen. Letztlich an allen Fronten, weswegen sie in ihrer Jugend reichlich rebellierte und sich zeitweilig sogar der Skinhead-Szene anschloss, die sich in den USA aus dem Arbeitermilieu speist und nicht rassistisch ausgerichtet ist. Auch gegen konventionalisierte Geschlechterrollen begehrte sie auf. Statt mit Puppen spielte sie etwa mit Spielzeug aus Jurassic Park. Um jene weibliche Emanzipationsgeschichte angemessen aufzuarbeiten, ohne sich dem Vorwurf der kulturellen Aneignung auszusetzen, hat sich die weiße Autorin Birgit Weyhe in ihrem Comic für eine besondere Form entschieden. Sie fügt konsequent eine Metaebene ein, macht im Buch sichtbar, wie sie Layne in den Schaffensprozess einbezieht und gibt deren Kommentaren zur entstehenden Text-Bild-Biografie Raum. Somit erweist sich Rude Girl nicht nur als Zeugnis eines Empowerments und Werkstattbericht zur Herstellung eines Comics, das Werk unterläuft zugleich die Gefahr, über jemanden zu sprechen. Als prägend erweist sich daher der ausgestellte und selbst zum Thema erhobene Dialog zwischen den Kulturkreisen und zwischen zwei engagierten Frauen, die nicht müde werden, Bücher gegen die binäre Logik des Westens zu schreiben.Placeholder infobox-2Die KränkungSoziologie Wie erklärt man das Phänomen der Klimawandel- und Corona-Leugner? Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey geben AntwortenWie viel Freiheit kann sich eine Gesellschaft erlauben? Welches Maß an Abgrenzung und Individualisierung hält sie aus? Von diesen Fragen ausgehend näheren sich Carolin Amlinger (Literatursoziologin) und Oliver Nachtwey (Wirtschaftswissenschaftler) in ihrer Studie Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus jenen Protesttypen, die gegen den in Impf- oder Klimafragen vermeintlich bervormundenden Staat auf die Straße gehen. Ihr Verhalten zeugt von uneingelösten Erlösungs- und Emanzipationsmythen der frühen Moderne, die ihre Gültigkeit in der zunehmenden Orientierungskrise der vergangenen Jahrzehnte eingebüßt haben. Da die Demonstrierenden ihre Haltungen und Vorstellungen in den demokratischen Institutionen nicht mehr berücksichtigt sehen, führt dies zu einer Kränkung – und zu problematischen Kompensationen. Die Folge: Jene, die sich ungehört fühlen, neigen dann zu Zerstörungswut und Aberglauben. Neben argumentativer Konsequenz gewinnt der Text durch die Einbeziehung von Befunden der Empirischen Sozialforschung an Substanz, die letztlich auf Befragungen der beiden Autoren von Querdenkern zurückgehen. Was sich herausbildet, ist die Erkenntnis, dass ein übersteigertes Bedürfnis nach Autonomie sozialem Zusammenhalt und Gemeinsinn entgegensteht.Placeholder infobox-3Revolution, ihr Traum!Frauenpower Die Biografie zu Hertha Gordon-Walcher zeigt eine vergessene Aktivistin des 20. JahrhundertsWie hätte sie sich wohl heute verhalten? Zwischen einer erstarkenden Neurechten und Putins Imperialismus? Sicherlich hätte Hertha Gordon-Walcher mit aller politischen Verve gegen diese Widrigkeiten unserer Gegenwart angekämpft. So wie sie es zu ihrer Zeit getan hat. Geboren 1894 in Königsberg, engagierte sie sich bei der Sozialdemokratie und beim Spartakusbund und fungierte zeitweilige als Kurierin zwischen der KPD im Westen und Lenin. Sie warb für Frieden und wetterte gegen die grassierende Armut, brachte sich in die Revolution ein und erlebte schmerzvoll deren Scheitern. Zwischen Weggefährten wie Rosa Luxemburg und Willy Brandt fristete sie in der Geschichtsschreibung zum 20. Jahrhundert bislang jedoch eher ein Nischendasein. Regina Scheers reichhaltige Biografie Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution sorgt nun für eine späte und längst überfällige Wiederentdeckung der 1990 in Berlin verstorbenen Aktivistin. Dass sich daraus das äußerst plastische Porträt einer mutigen und unerschrockenen Frau ergibt, verdankt sich nicht zuletzt den zahlreichen Gesprächen, die Scheer mit ihr führte. Die Worte dieser Zeitzeugin bleiben uns jedenfalls erhalten und veranschaulichen überdies, wie wichtig Vorbilder auch für eine aktuelle Generation Heranwachsender sein können, die selbst die Erfahrung macht, für die Weltverbesserung einen langen Atem zu brauchen.Placeholder infobox-4Menschenschutz?Kolonialismus Simone Schlindwein weist auf die verschwiegene Konkurrenz von Artenschutz und Menschenrechten in Afrika hinMax Weber nutzte einst die Rede vom Widerspruch der Wertsphären, um den Konflikt zweier Normsysteme zu veranschaulichen. Im Fall der Reportage Der grüne Krieg. Wie in Afrika die Natur auf Kosten der Menschen geschützt wird – und was der Westen damit zu tun hat, geschrieben von der 1980 in Baden-Baden geborenen Journalistin Simone Schlindwein, stehen sich überraschend zwei zunächst durchweg positiv klingende Güter einander gegenüber, nämlich der Artenschutz und die Ansprüche der Menschenrechte. Warum? Weil zahlreiche Flächen in Afrika auf westlichen Druck hin zu Naturschutzzonen erklärt und dadurch indigene Bevölkerungsgruppen an den Rand gedrängt und Teile ihrer Lebensgebiete beraubt werden. Dass sich dadurch zumindest einige Tierarten stabilisieren können, mag noch ein Gewinn sein. Doch der Kreis der Profiteure ist nicht durchweg unschuldiger Natur. Neben Rangern und Wildhütern verdient auch die sie ausstattende Rüstungs- und Waffenindustrie an den Projekten zur Bewahrung der natürlichen Grundlagen mit. „Gut gemeint“ scheint also einmal wieder nicht gleich „gut gemacht“ zu heißen, zumal unter dem Deckmantel der Wahrung von Flora und Fauna letztlich alte koloniale Strategien offenbar werden. Übrigens gäbe es von afrikanischer Seite selbst auch Alternativen. Allein schon zu deren Studium lohnt Schlindweins erhellendes Buch.Placeholder infobox-5Placeholder authorbio-1