Von ultravioletten Strahlungen und einem „subatomare(n) Zueinanderfinden“ beim Sex ist die Rede, von psychoaktiven Substanzen und berauschenden Chupa-Chups-Lollis. Ob für all diese energetischen Flows letztlich ein gestohlener Meteorit mit angeblich magischer Wirkung verantwortlich sein soll ? – nicht einmal der Protagonist aus Joshua Groß’ neuem Roman Prana Extrem weiß diese Frage zu beantworten. Ihm fehlt gänzlich die Metaebene. Er wird von seinem Autor direkt in eine skurrile Welt katapultiert und trifft während einer Reise nach Tirol auf allerlei Gestalten der speziellen, mitunter okkulten Art. Die Wirkung dieses Freundeskreises lässt erwartbarerweise nicht lange auf sich warten. Der Held meint bald schon „Verklumpungen, die p
ungen, die permanent in mir wirken“, zu verspüren. Basiert dieses komische Werk noch auf einer kuriosen, erfundenen Story, geht Clemens J. Setz’ Roman über Peter Bender, einem Vertreter der Hohlwelttheorie, nach der wir alle in einer Kugel leben, schon auf eine reale Geschichte zurück: nämlich den Glauben an Okkultismus, Mythen und Scheinfakten. Ist die Ähnlichkeit der Themen nur Zufall?Nachdem schon in den letzten Jahren immer wieder Romane über die Grenzzone zwischen Fiktion und Wirklichkeit erschienen sind – man denke an Werke von Stefan Kutzenberger, Georg Klein, Daniel Kehlmann oder zuletzt Ana Marwan –, hat die Jury wohl darin einen Trend erkannt. Das Zeitalter der Fake News, es schlägt sich eben auch in verschiedenen Konstruktionen der Gegenwartsliteratur nieder, die uns im Gegensatz zu den Chimären auf den sozialen Netzwerken jedoch gezielt herauszufordern und entsprechend zu sensibilisieren weiß. Letztlich ringen vor allem auf unzuverlässigem Erzählverhalten fußende Prosatexte um eine zeitgemäße Übersetzung der historischen Aufklärung. Rationalität und Wahrheit werden nicht aufgegeben. Vielmehr macht sich der Versuch bemerkbar, sie im Rahmen des Literarischen wiederzufinden.Auch dafür stehen die fünf auserkorenen Titel der Buchpreis-Jury. Selbstredend natürlich Angela Steideles Werk mit dem souveränen Titel Aufklärung. Ein Roman. Und zwar nicht nur, weil er uns direkt in die Epoche von Lessing und Voltaire entführt, sondern weil er nachträglich für eine geschichtliche Gerechtigkeit sorgt. Denn Fakt ist, dass diese große Ära der Entdeckung der Vernunft auch auf Frauen zurückgeht und ein Ausschluss derselben in vielen Sektoren der Gesellschaft, wie er in den nachfolgenden Jahrhunderten noch immer betrieben wurde, kaum logisch oder plausibel zu begründen ist. Daher lässt sie mitunter die Tochter von Johann Sebastian Bach sowie die Ehefrau des Sprachforschers Johann Christoph Gottsched zu Wort kommen, zeigt sie als Teil einer intellektuellen Salonkultur in Sachsen, die neben den männlichen Stimmen noch zahlreiche weitere weibliche integriert. Haben die meisten von uns schon einmal von den Intellektuellen Christiana Mariana Ziegler und Caroline Neuber gehört? Wahrscheinlich nicht. Umso mehr unterstreicht die Polyphonie dieses Bandes den Eindruck, dass unser heutiger Pluralismus seine Wurzeln bereits in der Hochzeit der Ratio hat.Die Praxis, Diskursverhärtungen zu hinterfragen und aufzubrechen, versteht sich als ihr Erbe und prägt auch Ulrike Draesners Die Verwandelten, dem wohl ästhetisch avanciertesten Kandidaten unter den Nominierten, sowie Dinçer Güçyeters Unser Deutschlandmärchen – beide fügen sich in diesen gedanklichen Horizont. Warum? Weil sie letztlich Ideologiekritik betreiben. Letzterer nimmt gewissermaßen Stereotype über die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter auseinander. Draesner wiederum rehabilitiert – im beinah verabredeten Brückenschlag mit Steidele – die Stärke der Frauen, insbesondere im 20. Jahrhundert, das gerade von Kriegen, angezettelt von Männern, dominiert wurde.Nur, was folgt aus den Dekonstruktionen und problemorientierten Neuperspektivierungen? Zum einen wird die Vergangenheit umfassender und gerechter beleuchtet, zum anderen zeigen die Romane, dass erst eine Aufarbeitung der bisherigen patriarchalen Interpretationsweisen und zusammengeschusterten Weltanschauungen zu einem ganz zentralen und noch nicht erwähnten Wert der Aufklärung führen kann, nämlich zur Freiheit. Allerdings nie schmerzlos. Die Protagonisten der Texte müssen teilweise harte Schicksalsschläge erleiden. Im Fall von Draesners Werk sogar Vergewaltigungen und Vertreibungen. Statt aus freiem Willen erfolgen die Verwandlungen ihrer Figuren aus schlichter Notwendigkeit, um nicht unterzugehen. „Die Verwandelten wussten, wer sie gewesen waren (…) Sie bewegten sich nur mehr als Blätter, rauschten im Wind. Sie waren gerettet. Dies war der Preis“, heißt es am Ende der Geschichte. Gesichert wird das Überleben übrigens mitunter in der Sprache – auch wenn es über sie heißt, sie sei im Zuge der Metamorphosen „behindert“ geworden. Unverbrüchlich geblieben sind zumindest schlesische Begriffe, also ein Lokalkolorit, das mit den Jahrzehnten möglicherweise verloren gehen könnte. Im das Buch abschließenden Glossar werden Wendungen wie „Kroha“ (Krähe), „Guttel“ (Bonbon) oder „Gewulger“ (Durcheinander) konserviert. Wohl nicht als Selbstzweck. Vielmehr repräsentieren die Worte Menschen und ihre Kultur. Draesner verteidigt deren berechtigte Selbstbestimmung. Gerade in diesen Tagen, überschattet von einer Rückkehr despotischer Autorität, wird mehr als deutlich, warum es sich lohnt, für sie zu kämpfen.Placeholder infobox-1