Mit dem einen Knie wippt sie zu türkischen Volksliedern, mit dem anderen zu deutschen Saufschlagern. Wohl auch, weil sie schon als Jugendliche nie so richtig wusste, wohin sie gehörte: In den Osten vielleicht, woher ihre Eltern stammten? Oder eher in den Westen, wo sie aufwuchs? Doch nicht nur dieser Riss zieht sich durch das Selbstbild der Protagonistin in Yade Yasemin Önders Debütroman wir wissen, wir könnten, und fallen synchron. Zudem trägt eine gefährliche Krankheit zu ihrer beinahe völligen, buchstäblichen Auflösung bei: die Bulimie. Seitdem der Vater der heimatlosen Wanderin schon in frühen Kindheitstagen umkam, trägt sie seinen Verlust als unheilbare Wunde mit sich herum. Die Fress- und Brechsucht soll ihren Schmerz kompen
die Bulimie. Seitdem der Vater der heimatlosen Wanderin schon in frühen Kindheitstagen umkam, trägt sie seinen Verlust als unheilbare Wunde mit sich herum. Die Fress- und Brechsucht soll ihren Schmerz kompensieren und wird durch das toxische Drängen ihrer Mutter befeuert.Dass die folgenreiche Essstörung bald schon alles überdeckt, macht Regisseurin Emel Aydoğdu in ihrer Uraufführung des Werks am Theater Bonn mit ihrem Bühnenbild deutlich. Wir blicken auf einen gigantischen Schlund, aus dem eine lange, rote Zunge auf den Boden führt. Diese Kulisse passt gut und birgt doch auch rätselhafte Komponenten. Denn seitlich des überdimensionierten Mundes gehen symmetrisch sechs Fangarme aus grauem Stoff ab. Mal bilden sie das Korsett aus Normen und mütterlicher Bevormundung, mal geben sie der Protagonistin Halt.Als sie beispielsweise mit einem BMI von 15 in die Psychiatrie eingewiesen wird, zeigen sie, dann an von der Decke herabhängenden Karabinern befestigt, ihre Abhängigkeit an. Eine eigenständige Identität scheint für die Heranwachsende jedenfalls unmöglich. Aydoğdu lässt sie daher immer wieder krankhafte Zuckungen vollziehen. Wie von fremden Mächten gesteuert, versucht sie etwas Diffuses von ihrem Körper abzustreifen und erinnert dabei stets an eine Marionette, die sich nichts inniger wünscht, als sich von ihren Fäden zu befreien.Essstörung auf der Bühne: Kein Ende in AusweglosigkeitGanz dem zerrissenen Subjekt verpflichtet, wird die Hauptfigur auf drei DarstellerInnen aufgeteilt. Jakob Z. Eckstein, Roxana Safarabadi und Imke Siebert geben alles, um den diversen inneren Zerreißproben und Stimmen innerhalb der jungen Frau Ausdruck zu verleihen. Sie gehen zurück zu schönen Erinnerungen aus der Kindheit – den Urlaub in der Türkei, das erste Verliebtsein. Aber keine Nostalgie genügt, um aus der beklemmenden Gegenwart zu entkommen.Wenn die SchauspielerInnen etwa ihr Gesicht selbst filmen, erscheint es im Hintergrund auf einer mit grünen Linien beklebten Wand. Die Assoziation ist klar: Man blickt auf ein zerbrochenes Spiegelbild. Nicht einmal die 55 Männer, auf die sich die Heldin nach und nach einlässt, darunter ein Dauergast bei McDonald's und allerlei enttäuschende Schwerenöter, retten noch über die massiven Identitätsprobleme hinweg.Trotzdem mündet das Drama nicht in die Ausweglosigkeit. Plötzlich und im Lichte eines unvermittelt im Traum aufkommenden Kometen gelingt es der dreigeteilten Erzählerin doch noch, ihre Symptome abzuwerfen und sie dadurch aus der Distanz heraus betrachten zu können. Dieser Schluss fügt sich insofern nicht in den bisherigen Verlauf, als dass die Regie mehr oder weniger die gesamten eineinhalb Stunden immer wieder dasselbe erzählt. Sie verlässt sich allzu sicher auf die poetische Kraft des Textes und vergisst dabei, Theater wirklich szenisch zu denken. Und so wirbeln die drei AkteurInnen hilflos auf dieser Bühne umher. Sie sollen Dynamik im monotonen Kreislauf der Sucht erzeugen, muten aber wie Gefangene des Bühnenraums an. Gewiss, auch die Protagonistin ist gehemmt. Aber allein in dieser Diagnose sollte die Bühnenkreativität nicht verharren.Regisseurin Emel Aydoğdu: Ein bisschen mehr Mut wäre gutWarum die Inszenierung dieses zumindest in literarischer Sicht komplexen Coming-of-Age-Stückes dennoch lohnt? Neben der intelligenten Kulisse und der Verve des kleinen Ensembles entfaltet nicht zuletzt die Thematik der Essstörung, die nicht allzu oft auf deutschen Bühnen verhandelt wird, eine Sogwirkung. Noch brisanter wird sie in der Verbindung mit dem Migrationshintergrund, der im Schatten der Krankheit zur völligen Normalität wird. Und das ist gut so. Denn in diesem Gewöhnlichwerden äußert sich zugleich die allmähliche Realisierung der pluralen Gesellschaft. Sie muss kaum noch reflektiert und diskutiert werden, sondern wird als bloße, nicht im Mittelpunkt stehende Realität offenbart.Einen Umgang mit der eigenen Spaltung in viele Teile verspricht der Humor. Er kommt bei Önder besonders in der Schilderung der Klinikszenerie zum Tragen, vom Pflegepersonal im Dirndlfieber bis hin zu den Verirrungen anderer MitpatientInnen. Immerhin kann die Regisseurin ein wenig davon auch ins spielerische Geschehen übertragen. So wird etwa aus dem Anrichten eines Konservengerichts aus der Mikrowelle, unterlegt mit eindringlichem Indie-Pop, eine orgiastische Feier. Pantomimisch schmieren sich die Darstellerinnen mit dem Dosenfraß ein. Und einen Moment fragt man sich: Warum nutzt man an dieser Stelle nicht reale Convenience-Produkte oder echte Soße? Warum wagt man nicht mehr? Gerade auch mit dem gigantischen Schlund im Zentrum? Vom Mut der Heldin hätte man der Regie etwas mehr gewünscht.