Karin Henkels „Liebe (Amour)“ an den Münchner Kammerspielen: Hoffnung ist das Übelste
Bühne Ein Abend, der nachwirkt: Karin Henkel adaptiert Michael Hanekes Film „Liebe (Amour)“ für die Münchner Kammerspiele und gewährt düstere Einblicke in eine alternde Gesellschaft, die im Ringen um den selbstbestimmten Tod die Würde aufgibt
Wieder und wieder muss Georges (André Jung) die Bürde des Alters seiner Frau tragen
Foto: Matthias Horn
„Hilfe!“, und immer wieder „Hilfe!“, raunt es durch den Raum, gerufen von alten Menschen, die auf Krankenliegen durch den Raum gefahren werden. Um sie herum: einige Stühle, Tische, Erdhaufen – ein großer Raum, der einer Baustelle gleicht. Was wie ein Bild für eine alternde, von inhumaner Massenpflege geprägte Gesellschaft anmutet, hat zugleich einen sehr konkreten Fall zum Anlass, die Geschichte von Georges und Anne. Erzählt wurde sie erstmals von Michael Haneke in seinem Film Liebe (2012). Die für seine Signatur typisch naturalistische, schonungslos spröde Realisierung beleuchtet die letzte Phase eines Ehepaares. Nachdem sie einen Schlaganfall erlitten hat, geht es steil bergab. Die Partner befinden sich in der Falle: sie al
erlitten hat, geht es steil bergab. Die Partner befinden sich in der Falle: sie als unaufhaltbar Verdämmernde, die den Wunsch zu sterben hegt, er als Pfleger, der unter dem Druck der Überforderung zugrunde geht. Heilvoller und gleichermaßen brutaler könnte der Ausgang dieser Tragödie kaum sein: Georges drückt Anne, als nichts mehr geht, ein Kissen auf den Kopf.Mit diesem Bild beginnt nun auch Karin Henkels Inszenierung von Liebe an den Münchner Kammerspielen, einer Koproduktion mit den Salzburger Festspielen. Inmitten eines weißen und sich zentralperspektivisch verengenden Korridors befreit er (André Jung) seine unter dem Stoff zappelnde Gefährtin von den Qualen. Ein Akt der Verbundenheit? Über diese ethischen Fragen zur Sterbehilfe streitet die Republik seit Jahren. Ab wann ist Sterbehilfe strafbar? Wie viel Autonomie steht dem Individuum zu? Nun, auf diese Fragen gibt die Uraufführung des Stücks, die zum berührendsten und zugleich beklemmendsten gehört, was in den vergangenen Jahren auf deutschen Bühnen zu sehen war, keine einfachen Antworten. Aber die Stoßrichtung ist klar: Jeder, dem das Dasein zu einem unerträglichen Siechtum verkommt, muss ein Recht auf Unterstützung bekommen, es auch beenden zu dürfen.Die Linearität von Hanekes Film „Liebe“ wird aufgebrochenHenkel rekonstruiert für diese Botschaft jedoch keineswegs eine lineare Abfolge der Ereignisse, wie sie noch der Film vornimmt. Vielmehr befinden wir uns von Anfang im Gedächtnis von Georges. Es sind Erinnerungen, die oft einem Albtraum gleichen. Szenen wiederholen sich wie im Hamsterrad, aus dem man nicht herauskommt. Der Concierge kauft Erdbeeren und bringt sie vorbei, mehrfach hintereinander. Darsteller mit Masken alter Männer setzen sich der Reihe nach auf einen Stuhl, von dem Georges sie, stellvertretend für die unzähligen Hilfestellungen bei Anne, allesamt hochheben muss. Derweil rinnt die Farbe von zuvor an die hellen Wände gepinselten Buchstaben herab. „Name“ und „Datum“, die Konstanten unserer Tagesorganisation, sie schwinden dahin. Dazwischen Besuche von der Tochter. Sie klagt über die Inflation und beschwört den Immobilienmarkt. Als lägen Universen zwischen ihnen in diesem schmalen, unzweifelhaft auf den Tod zulaufenden Tunnel, reden sie aneinander vorbei. Zu Georges Einsamkeit führen keine Brücken mehr hinüber.Und die harte Zäsur mit dem zweiten Schlaganfall. Eingeleitet wird er mit dem Abbau der Wände. So entsteht die bereits geschilderte Baustellenatmosphäre. Alles liegt im Argen, nichts mehr zeugt von einer Ordnung. Anne, verkörpert von verschiedenen SchauspielerInnen (zumeist von Katharina Bach), kann bald kaum mehr sprechen und muss Windeln tragen. Sie will gehen, er kann es noch nicht zulassen. Um sie herum Angestellte von Pflegediensten. Urinbeutel leeren macht vier bis fünf Minuten aus, Durchfall bereitet Überstunden, rechnet man dem Protagonisten vor. Die Frau wird „schön“ gekämmt, ihr Widerstand ignoriert. Georges, so die Aussage, ist längst nicht mehr Herr des Geschehens, das sich zunehmend grausamer zeigt.Hoffnung verlängert das Leiden nurHenkel findet nicht nur pointierte und markerschütternde Bilder für ein entfremdetes System, mithin das Ringen zweier Liebenden um ein letztes Quantum Würde, sondern schafft Momente, die die Nächte und Tage nach dem Theaterbesuch noch lange überdauern. Zwei treten besonders hervor: einmal die von der kindlichen Stimme Nine Manthei aus dem Off entfaltete Legende der Pandora, in deren Büchse neben den Lastern auch die Hoffnung schlummert, die, wie es im Stück heißt, zum „übelsten“ gehöre, weil sie das Leiden nur verschleppe. Zum andere wirken die Äußerungen aus dem Chor alter und kranker Menschen nach. Nacheinander berichten sie an einer Stelle von eigenen Schicksalsschlägen. Eine Mutter verlor ihren Sohn an die Krankheit ALS und liest eine Passage aus seinem Tagebuch, kurze Zeit vor dessen Tod, vor. Ein anderer erinnert den Tränen nahe an den Verlust seines besten Freundes. Auch von einem mittlerweile Verstorbenen, das in Salzburg noch auf der Bühne war, nehmen sie Abschied. Andächtige, mulmige Stille herrscht im Publikum.Eines solch existenziellen Augenblicks im Theater wird man sehr selten gewahr. Eingebettet ist er in einen polyphonen Klangraum der Verzweiflung, zwischen Hilferufen und Anweisungen zum Lagern, zwischen Wut und Ohnmacht. Und nicht zuletzt eingehegt in die Sorge, wie sie nur Seelenverwandte aufbringen können. Der letzte Satz, zu hören nach Annes Erlösung von allen Qualen, er lautet: „Und wie kann ich von Liebe sprechen, wenn ich tot bin?“
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