Weihnachtsessen #ZuTischekommen

Weihnachten/Familienessen In Zeiten in denen sich Supermarkt-Ketten mit kitschigen Spots zu überbieten versuchen, hat auch unser Autor Jan Bühlbecker eine Weihnachtsgeschichte verfasst. Viel Spaß

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Weihnachtsessen #ZuTischekommen

Foto: Yuri Kadobnov/AFP/Getty Images

Ich hatte Heiligabend einmal eine Lungenentzündung. Mir ging es echt schlecht, ich lag den ganzen Abend nur auf der Couch, neben dem Weihnachtsbaum, hab auf ein helles, weißes Licht gewartet, gehofft, dass dieses (nicht) das Christkind ist und meine Familie saß am Esstisch, keine drei Meter von mir entfernt. Seitdem bin ich Heiligabend immer „krank“, denn das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass man sich voll und ganz auf die Dialoge, die da zwischen Bockwurst und Kartoffelsalat, Sauerbraten und Rotkohl beziehungsweise Suppe und Nachtisch abgefeuert werden konzentrieren kann.

„Ich will, dass wir vor dem Abendessen die Bescherung haben“ fordert meine kleine Schwester, „Kinder, die was wollen“ kontert meine Großmutter, „außerdem bekommst du doch eh nur Socken“ grinst mein Vater und wird anschließend von meiner Mutter geboxt. Folgerichtig setzen sich nun alle Beteiligten - außer mir, ich bin ja „krank“ - an den Esstisch und sehen Mutter und Oma dabei zu, wie sie die Töpfe aus der Küche herüber transportieren und auf den Esstisch stellen, den Mutter gedeckt hatte, während wir anderen in die Kirche gehen mussten, pardon: durften. „Ich hoffe“ nutzt meine kleine Schwester die Pause „dass ich dieses Jahr endlich ein neues Fahrrad bekomme - Ich will nicht mehr jeden Morgen zur Schule laufen, Jan musste das auch nicht, der wurde gefahren“, „spricht nicht so über deinen großen Bruder“ ermahnt Mutter sie anschließend, doch anstatt zu sagen: „Er ist krank“, fährt sie fort: „Er kann dich doch hören“, „und außerdem“ hakt Oma ein „braucht man bevor man Fahrrad fahren kann erst einmal Unterwäsche“, „das stimmt“ sagt Opa, der studierte Soziologe und geht auf die Bedürfnispyramide ein, „da ihr ja eh nicht fragt“ ergänzt Oma anschließend „meiner bekannten, der Hildegard geht es nicht besser als vorige Woche…“, „…was eigentlich nicht überraschend ist“ denke ich „schließlich ist sie 87 und hat u. a. eine Lungenentzündung - Das ist nicht leicht, ich weiß das, ich simuliere so etwas seit ich zehn bin.“ „Hast du was gesagt“ fragt Mutter mich deswegen, „der Junge hat Fieberträume“ behauptet Oma „aber zwei Beerdigungen können wir uns dieses Jahr sicher nicht mehr leisten“, „danke“ antworte ich, „ach“ sagt Oma „wird schon wieder“, „aber wieso“ fragt Vater „kannst du eigentlich so gut sprechen, ich dachte du bist krank“, ich röchle, Mutter boxt Vater erneut.

Die gierigen Mäuler beginnen sich ans Essen ran zu machen. Mir hat man ein Glas Wasser und die Salzstangen, die vom letzten Jahr übrig geblieben sind, gereicht. „Nur schade“ findet Mutter „dass es dieses Jahr nicht schneit“, „wann war das Jahr noch mal“ fragt Oma deswegen „in dem es so stark geschneit hat?“ „1942“ antwortet Opa, Vater lacht, Mutter boxt ihn und sagt: „Ich glaube, dass war vor zwei Jahren“, „mmh“ macht Oma, „hatte Jan nicht Geschichtsleistungskurs“ fragt meine kleine Schwester, die anderen lachen. „Ich mag übrigens Schnee nicht besonders“ sagt mein Vater dann „der lässt sich doch hier nur nieder und bleibt den ganzen Tag nur liegen“, „unverschämt“ nickt Opa „und was glaubt ihr eigentlich wie viele Schnee bedingte Unfälle es schon gab, weil Jemand gestolpert und hingefallen ist“, „na“ fragt Mutter, „also ich weiß da jetzt auch keine genaue Zahl“ antwortet Opa „aber bestimmt waren es sehr, sehr viele“, Oma sagt: „Ich finde man muss das schon differenzierter betrachten, ich meine, viele Schneeflocken kommen ja, weil sie hoch oben im Norden durch die Androhung von Streusalz bedroht sind“, „und außerdem“ ergänzt Mutter „müssen wir ja gerade im Bezug auf den demographischen, äh, ich meine den Klimawandel dankbar sein, wenn so ein paar besonders feste Schneeflocken zu uns dazu kommen“, „ich finde“ sagt meine Schwester „Schnee sieht vor allen Dingen gut aus… Er ist ja weiß.“ Vater lacht, Mutter boxt ihn.

„Wie geht es eigentlich eurer Cousine“ fragt Oma dann meine kleine Schwester, „die ist jetzt pan-sexuell“ antwortet die, „was ist denn das“ will Opa wissen, „das heißt“ erklärt Mutter „das man sich nicht in einen Mann, eine Frau oder einen Transgender verliebt, sondern in den Menschen hinter dem Geschlecht“, „ist das nicht quasi bi-sexuell“ fragt Vater, Mutter boxt ihn, „wir hatten so etwas früher nicht“ sagt Opa dann „und aus uns ist trotzdem noch etwas geworden“, „naja“ denke ich und bekomme Lust eine Grundsatzdiskussion anzufangen, was aber nicht geht, weil ich ja „krank“ bin. Ich boxe mich.

Meine kleine Schwester sagt: „Ich habe Nachtisch gemacht“, „gut“ findet Oma, Opa ergänzt: „An Weihnachten da darf man sündigen“, „stimmt“ denke ich „ein Blähbauch passt wirklich zum Fest der Liebe, schließlich tragen auch Schwangere eine Kugel mit sich herum, die sie dann bei der Geburt ausscheiden - Das ist dann aber nicht zu verwechseln mit dem sogenannten Osterei.“

Nach dem Nachtisch zappelt meine kleine Schwester unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Mutter grinst. Vater boxt sie dafür aber nicht. Oma fragt: „Wollen wir noch ein Glas Wein trinken“, Opa grinst, Mutter boxt Opa, meine kleine Schwester zischt, „war nur ein Spaß“ behauptet Oma deswegen „aber was könnten wir stattdessen machen“, „Bescherung, Bescherung“ ruft meine kleine Schwester deswegen und setzt tatsächlich die gesamte Familie neben den Weihnachtsbaum um und sich damit durch.

Und dann geht es los. Oma und Opa bekommen ein wirklich romantisches Essen ohne einen Enkel der die ganze Zeit „krank“ auf der Couch liegt, Mutter bekommt einen Büchergutschein, weil sie so gerne ließt, Vater bekommt eine Spülmaschine und meine kleine Schwester sieht sich mit einem Paar ranziger Laufschuhe konfrontiert, die sie anschließend - nachdem sie in ihnen einen kleinen Schlüssel gefunden hat - sofort anzieht und in ihnen zur Garage rennt, vor der sie sich dann einem neuem Fahrrad gegenüber sieht. Und ich bekomme die Kraft aufzustehen - Denn, wenn man gar nicht mehr so tut, als müsste das Weihnachtsessen etwas ganz besondre sein, dann wird es das manchmal von ganz allein.

In diesem Sinne: Frohes Fest!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Bühlbecker

Jan Bühlbecker. Slam Poet, Jungsozialist & Sozialdemokrat. Liebt Queer-Feminismus, Fußball, das Existenzrecht Israels & Hashtags.

Jan Bühlbecker

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