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Netz-Kultur Sind WATCH-Gemeinschaften die legitimen virtuellen Enkel des Blockwarts? Und wer sind dann ihre Eltern? Ein Abwasch

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Foto: William Lovelace/Express/Getty Images

Wer sie schon kennt, hat ein Bild. Wer nicht, dem werden sie bei Mitgliedschaft in einem Online- Netzwerk früher oder später begegnen: Die Aufpasser, die Kontrolleure, die Wächter und Befinder über das Wohlverhalten Anderer, die sich in sogenannten WATCH-Gemeinschaften zusammentun.

Es gibt WATCH-Seiten für bzw. gegen alles Mögliche. Die Idee ist, bedenklich erscheinende gesellschaftliche Entwicklungen und die Gruppen, die diese befördern, nicht (wie es der Markt der Aufmerksamkeit ansonsten tut) mit Ignoranz zu strafen, sondern öffentlich zu kennzeichnen. Der Anspruch ist Aufklärung (ein zutiefst vernünftiges Anliegen). Die ersten Vertreter hatten eindeutig klingende Absichten, beispielsweise gegen die Verbreitung gruppenbezogen menschenfeindlicher Ideen einzuschreiten. Aber die Sache hat sich rasant verselbständigt, und mit der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit scheint es eher schlimmer zu werden …

Wo immer sich irgendeine Interessengemeinschaft gründet, so der Eindruck, ist sogleich eine WATCH-Seite online, die Veröffentlichungen ihres Zielobjektes auf ihrer eigenen Plattform verbreitet - versehen mit Warnhinweis oder Häme und als weiteres Indiz der Schlechtigkeit des Genannten, begründet oder auch nicht. Tatsächlich scheint nicht Aufklärung das Hauptanliegen, sondern etwas, das ihrem Gegenteil viel näher kommt: Die totale Deutungshoheit.

Die Wächter praktizieren in einer virtuellen Nussschale, was Sekten und Diktaturen auch nicht erfunden haben, aber in größerem Stil kultivieren: Soziale Kontrolle durch u. a. strenge Sprachregelungen und Tabus sowie ein bewährtes Programm der Zurechtweisung, Ausgrenzung und Diffamierung. Oft über so hysterische Mechanismen wie Kontaktschuld (A hat sich positiv zu B geäußert, welches sich wiederum nicht eindeutig von C distanziert hat, folglich muss A auch mit C sympathisieren). Oft mit einem Eifer, der bis zum formulierten Vernichtungswunsch geht. In diesem Sinne reiten die Wächter dann auch in anderen Foren ein, um, wo es nichts zu belehren gibt, das Böse beim Namen zu nennen und zu bekämpfen. Wie auch immer sie ansonsten thematisch und ideell aufgestellt sind: Es scheint ihnen allen bitter ernst zu sein mit der besseren Welt, die erst nach der Auslöschung des erklärten Gegners zur vollen Entfaltung kommen kann.

Es ist anstrengend genug, die Kommentarstreifen zu lesen, aber ich habe auch schon bei solchen Debatten mitgetan. Versuchsweise unter strikter Vermeidung sämtlicher einschlägiger Reiz- und Schlüsselwörter im jeweils verwendeten Koordinatensystem der Bekenntnisse, sowie unter dem Vorsatz der Sachlichkeit und des Verstehenwollens … Um es kurz zu machen: Dieses Kommunikationsverhalten ist auf WATCH-Seiten offenbar die perfekte Vorlage dafür, aus allen Richtungen beschimpft zu werden.

Da ist dann allerdings meinerseits auch Schluss mit Verstehenwollen: Ein so gewaltiges Potential an Debattier-Wut dafür zu nutzen, tatsächliche Debatten im Ansatz abzuwürgen - sich Aufklärung auf die Fahne schreiben und keine Nachfragen zulassen: das muss mir erst mal wer erklären. Selber erklären kann ich es mir nur so: Dass der Eifer nicht eigentlich der verkündeten Sache gilt, sondern andere Motive und Mechanismen am Werk sind. Namentlich die eigene Aufwertung über Abwertung Anderer, Selbstversicherung über die genaue Kenntnis eines Regelwerks, die eins praktisch zum Vorbild adelt und ihm die Legitimation (wenn nicht Pflicht) zuteilt, über das Wohlverhalten der Anderen zu richten, abgerundet mit einer guten Dosis Zwangsneurose. Früher bezeichneten wir einen solchen Charakter als „Blockwart“.

Erinnern wir uns gemeinsam dieses Klischees aus vergangenen Tagen: Die Verkörperung des Blockwart-Typus war meistens (nicht immer!) männlich und im Ruhestand, jedenfalls mit Zeit gesegnet, die sinnvoll auszufüllen ihm nicht gegeben war. Statt sich einem Hobby zu widmen, hatte sich der Blockwart der genauen Überwachung seines Wohnumfeldes verschrieben. Sein Lebensinhalt war die Einhaltung der Regeln, genauer: Die Regelverstöße der Anderen, sowie die damit verbundenen Möglichkeiten der Maßregelung, etwa der penetrante Hinweis auf bestehende Vorschriften, das Verständigen zuständiger Behörden, in manchen Fällen auch die Selbstjustiz. An einem strategisch günstig gelegenen Fenster hielt er Wache, registrierte jedes verbotene Betreten des Rasens, jedes falsch geparkte Fahrrad, jedes ausgespuckte Kaugummi. Auch akustische Verstöße gegen die Vorschriften standen auf seiner Agenda - ein nebenan in die Wand geschlagener Nagel während der Mittagsruhe, ein Überschreiten der erlaubten Dezibel-Werte bei den jungen Leuten im vierten Stock links - sowie die unzureichende Gartenpflege der Nachbarn und vieles mehr. Die natürlichen Feinde des Blockwarts waren Kinder, deren Eltern, Hunde (außer dem eigenen: das Klischee sieht hier einen Dackel oder Terrier von unduldsamem, megalomanischem Wesen vor), Katzen und alles, was in puncto Lebensfreude, Phantasie und Großzügigkeit ein bisschen weiterentwickelt war als er selbst - also praktisch eigentlich alle, einschließlich der Gänseblümchen und Löwenzahne im Rasen der Nachbarn.

Soweit das Stereotyp. Nicht zufällig ist der Blockwart historisch im Zuge des Nationalsozialismus zu Titel und Ehren gekommen. In einem autoritären System ist Regel-Wächter ein solider Beruf. Auf DDR-Territorium konnten sich später Personen mit entsprechenden Neigungen bei der Stasi nützlich und wichtig machen. In der alten Bundesrepublik gab es zumindest offiziell keinen Markt mehr für sie, aber es blieb die Berufung, die sich ihr Betätigungsfeld dann selber schuf. Mittlerweile ist das beschriebene Wesen schon länger dabei, sich aus dem Alltag Richtung Karikatur zu verabschieden. So ist mir der Blockwart- Typus als solcher zwar auch im richtigen Leben, aber bereits vorher als Überzeichnung begegnet: In F.K. Waechters Anti-Struwwelpeter nämlich, der in den 1970er Jahren zum Inventar liberaler Elternhäuser gehörte und mir bei der Einordnung des Phänomens half. Allerdings: Nicht alles, über das man sich lustig machen kann, ist damit dauerhaft gebannt...

Dass es mit dem Aussterben der Generation, die diesen Begriff geprägt hat, mit dem Blockwart an sich nicht vorbei sein wird, wurde mir persönlich mit der Einführung der Mülltrennung klar. Zunächst war dies natürlich ein großes neues Betätigungsfeld für unseren nun schon gebrechlichen, doch ungebrochen aktiven alten Vertreter. Aber an den Papier-, Wertstoff- und Restmüll-Tonnen im Hof wurde auch die Fackel der Vorschriften-Fixiertheit weitergereicht an die nächste Generation: Eben jene vormals jungen Leute aus dem 4. Stock links, diemittlerweile im Karriere-Alltag angekommen waren und so eingespannt, dass ihnen die Einhaltung der Nachtruhe nun ein eigenes Anliegen war. Deren grundsätzliche Sympathie für Gebote und Verbote überhaupt mit dem Maß gewachsen war, in dem sie solche selber verfügten.

Die Vertreter dieser Generation, nennen wir sie die Oberlehrer, haben ihren eigenen Stil: Was ihnen an stockautoritärer Haltung fehlt, gleichen sie gerne mit missionarischem Eifer aus. Das Ideal des fraglosen Gehorsams wurde von ihnen ersetzt durch die Vorstellung der totalen Verantwortung jedes Einzelnen. Aber hinter dem Verständnis heischenden Gequengel, hinter der wortreichen Besserwisserei, mit der die Oberlehrer die Nachbarschaft übernahmen, kann man, wenn man genau lauscht, den Blockwart keifen hören… Auch die Aussage bleibt, heruntergekocht auf konkrete Anliegen, die gleiche: Ein Jedes möge sich an die Regeln halten, denn dazu seien sie da, die Regeln. (Wirklich? Nur dazu? Interessant ist ja, dass „Einhaltung der Regeln“ hier praktisch immer als Beschränkung gedacht wird, die sich aufzuerlegen etwas Unangenehmes ist. Von da aus ist es nicht mehr weit zu der Schlussfolgerung, jemand, der sich nicht an eine Regel hält, genieße eine größere Freiheit bzw. habe mehr Spaß. Dass Regeln ihren besten Sinn aber darin haben, dass wir uns in ihrem Rahmen freier und entspannter bewegen können, geht aus den Zwangs- und Plichterfüllungs-Konzepten nicht hervor) ...

Was die Oberlehrer vom Blockwart, der ein Einzelkämpfer war, noch unterscheidet, ist ihre Tendenz zum Lobbyismus. Sie haben auch in Umlauf gesetzt, dass „Solidarität“ grundsätzlich besser sei als kritische Distanz und Letztere immer ein Mangel an Ersterer. Sie haben sich ein Milieu geschaffen, in dem man sich gegenseitig bestätigen und als Teil einer Elite empfinden kann, deren Interesse keineswegs der persönlichen Rechthaberei, sondern dem Wohl der Allgemeinheit gilt. Hier zeigen sich wiederum Parallelen zur WATCH-Gemeinschaft: Das Argument der Solidarität, das Motiv der Rudel-Rückversicherung, das behauptete Besserwissen, die sektenähnliche Vorstellungswelt von Tugend und Fehlverhalten, die nicht nur aufHandlungen, sondern schon auf Gedanken abzielt… Doch, da gibt es eindeutige Verwandtschaften.

Bleibt vielleicht noch die Frage, ob diese Analogie aus der analogen Welt in Gänze übertragbar ist in die virtuellen Gefilde, wo der These zufolge das Wächter-Wesen nun als Blogwart die Rolle der einstigen Blockwarte und späteren Oberlehrer übernommen hat. Vieles spricht dafür, wenn man sich den vorherrschenden Tonfall als personifiziertes Gegenüber vorstellt. Nun sind aber Online-Gemeinschaften ja keine Personen, sondern eine gruppendynamische Performance von Gedanken, Kommentaren und Erregungszuständen einer schwankenden Anzahl von Profilen, die jedes für sich genommen wohl mehr oder weniger vom assoziierten Charakter abweichen. Der, oder vielleicht besser: das Blogwart ist also ein imaginiertes Kollektiv-Wesen, eine Projektion, die sich aus Projektionen zusammensetzt und mit weiteren Projektionen gespeist wird - ein Un-Wesen im mehrfachen Sinn… Mithin: Sein Einfluss in den Netzwerken scheint zu wachsen, vor allem was die Umgangsformen betrifft. Andererseits ist seinem Wirkungskreis leicht zu entkommen: Man muss nur offline gehen. Und auchdie Mehrheit der in WATCH-Gemeinschaften Versammelten, bleibt anzunehmen, hat noch einen analogen Alltag, bleibt zu vermuten, in dem es weniger demagogisch, feindselig und beklemmend zugeht … Bleibt zu hoffen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

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