Zynischer Fehlstart

Journalismus Das US-amerikanische Politikportal „Politico“ startet zusammen mit dem Springer-Verlag einen europäischen Ableger. Der Launch ging schon mal daneben
Ausgabe 17/2015

Gerade hat die Süddeutsche Zeitung, eines der Flaggschiffe des Politjournalismus, in seiner Muttergesellschaft ein sagenhaftes Minus von 70 Millionen Euro erwirtschaftet – da startet das US-amerikanische Politikportal Politico zusammen mit dem Springer-Verlag einen europäischen Ableger, eine Art Staatenlenkermagazin für Politjunkies und -insider. In den USA wird Politico auch gedruckt verkauft, in Washington D. C. und Manhattan. Drüben ging das Magazin ab wie eine Rakete. Wenn das auch in Europa gelingen soll, müssen sich die Politicos aber mehr Mühe geben als bei ihrem Launch Anfang dieser Woche.

PoliticoEurope hat seinen Hauptsitz in Brüssel. EU-Beamte können Magazin und Newsletter günstiger abonnieren. Lange wird ihnen der schnoddrige amerikanische Ton über die europäischen Idioten wohl nicht gefallen. Politico hatte mit dem Flüchtlingsdrama zum Start ein Topthema für politischen Einblick. Über das Ertrinken von wahrscheinlich 1.000 Bootsflüchtlingen schrieb der Energieexperte Jan Cienski. Er kam zu dem Schluss, Europas Regierungen seien zu unfähig und zu langsam, diese Krise zu meistern: „Es wird wieder passieren.“ Traurig und wahr – aber Cienski lieferte keine Analyse, sondern er behauptete in beinahe triumphalen Ton, die Ursache für die humanitäre Katastrophe sei das NATO-Bombardement Libyens, „geführt durch EU-Staaten“.

Das ist nicht kritisch, nicht hintergründig, nicht klug, sondern es ist falsch. Und es ist auch zynisch, weil die Ertrunkenen für eine Backpfeife an die EU herhalten müssen. Dabei hatte Politico „mehr Stil als je zuvor“ in der politischen Berichterstattung angekündigt. Gründer John Harris schrieb, man werde „über Machenschaften und Manöver, Persönlichkeiten und politische Kulturen berichten“ – mit mehr Innensicht. Aber genau die scheint zu fehlen, und das ist auch kein Wunder, wenn man sich die Biografien und die Herkunft des Teams ansieht: Vermeintliche Elitejournalisten amerikanischer Zeitungen, die es gewohnt sind, ihre Analysen des Kontinents an die Wall Street zu tickern. Für den Moment hat es die Anmutung, als schrieben die Kollegen weiter für Manhattan und nicht für Politikmacher in Brüssel, Straßburg, Berlin, Paris, London, Rom.

Wenn man ältere Texte der Autoren zu Rate zieht, erkennt man die Wurzel der Fehlanalyse: ein tief sitzendes kulturelles Missverständnis. Der Politico-Newsroom hat keine Brille für den europäischen Wohlfahrtsstaat, zu dem Kultur und Soziales eben dazugehören. Mehr noch, die Kollegen verachten dieses Verständnis von Wirtschaft geradezu. Der amtierende Politico-Chefkorrespondent für Deutschland, Matthew Karnitschnig, verdammte während der Finanzkrise 2009 die Merkelsche Politik und prophezeite ultimativ den Niedergang Deutschlands. „Politik- und Strategieexperten mit europäischen Interessen wollen jemanden, der durchblickt“, sagte Politico-Geschäftsführerin Shéhérazade Semsar-de Boisséson kürzlich. Bei Mitgesellschafter Springer genau wie bei den europäischen Blättern gibt es solche Journalisten zuhauf. Mit ihrem Wissen könnten sie in den US-amerikanischen Formaten und Fragestellungen von Politico ein erstes wirklich relevantes europäisches Magazin schreiben. Mit einer Handvoll abgebrühter Reporter, die Richtung Wall Street schielen, geht das vielleicht nicht. Übrigens: Bei der Süddeutschen werden ja womöglich bald ein paar Kollegen frei.

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