Kirchentagsblog: Das Sommermärchen des Glaubens und die Gretchenfrage

Kirchentag in der Zeitenwende Auftritte von Politikern auf Kirchentagen sind kein Bekenntnisakt und Einladungen keine Segnung oder Heiligsprechung. Wie und warum trotzdem der Glaube von Spitzenpolitikern in den Fokus geriet und wer beim Glaubenswettstreit wie abschnitt

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"Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?" Ob Goethes Gretchen das ihren Heinrich in Marthens Garten heute überhaupt noch fragen dürfte? Ja es dürfte. Das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gilt nicht für die Bewerberauswahl bei Liebesaffären. Doch schon wenn es um eine längerfristige Zusammenarbeit geht, ist die Frage heute Tabu. Nach Rechtsprechung des Arbeitsgerichts Karlruhe durfte nicht einmal der Württembergische Oberkirchenrat eine angehende Sekretärin im Bewerbungsverfahren nach ihrer Religionszugehörigkeit fragen (Urteil vom 18.9.2020, 1 Ca 171/19).

Der diesjährige Evangelische Kirchentag in Nürnberg stellte diese Frage trotzdem und bewertete zum Teil auch die Antworten selbst oder überließ dies dem Publikum.

Zumindest sahen sich Bundeskanzler Olaf Scholz, Vizekanzler Robert Habeck, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Oppositionsführer Friedrich Merz in der Pflicht, den Kirchentagsbesucher:innen nicht nur ihre Politik zu erklären, sondern auch ihren Glauben oder ihre positive Einstellung zum Christentum.

Vergleicht man ihre Antworten, ergibt sich ein Ranking unterschiedlicher Varianten von Abstand und Nähe zum christlichen Glauben.

Letzter Platz: Ex-Konfirmand Olaf Scholz

Um mit dem Verlierer zu beginnen: der mächtigste ist auch der schlechteste, wenn es nach der Glaubenssonde geht. Wir wissen jetzt nach einer knapp einstündigen beinahe inquisitorischen Befragung, dass der erste konfessionslose Bundeskanzler getauft und konfirmiert ist, dass er aber nicht oder nicht mehr an Gott glaubt und dass er sich nicht einmal zu den ethischen Maßstäben des Christentums (und/oder eines anderen Glaubens) persönlich bekennt. Allenfalls gibt er zu, dass er „sehr geprägt“ ist „von dem Denken, das damit verbunden ist, wie fast alle in unserem Land“, denn „das hat ja doch Einfluss genommen auf vieles, was wir denken und was wir machen“, und dass er sich immer in seinem Leben mit Religionen beschäftigt hat und das auch weiter tut.

Als die Moderation mit dieser Antwort nicht zufrieden war, keilte der bekanntermaßen peinlichen Fragen immer gekonnt ausweichende „Scholzomat“ in gewohnter Schlagfertig zurück: „Ich bin Kanzler aller Deutschen und für viele ist das religiöse Bekenntnis - auch die unterschiedlichen religiösen Bekenntnisse - sehr, sehr wichtig. Und ich finde, der Respekt gegenüber dem Glauben der eigenen Bürgerinnen und Bürger gebietet, dass man nicht als Amtsinhaber sich mit – damit - in der Frage auseinandersetzt, wie das solche Fragen vielleicht provozieren könnten. Ich habe eine öffentliche Verantwortung auch zum Schutz des Glaubens.“ Auch wenn der Kanzler vor der ihm übergestülpten Glaubenssonde mit leeren Händen dastand, errang er so zumindest rhetorisch wieder einmal einen Sieg nach Punkten gegen die Fragesteller:in.

Vorletzter Platz: Ex-Konfirmand Robert Habeck

Auf dem vorletzten Platz landete der Vizekanzler. Über Robert war schon vor dem Kirchentag bekannt, dass er wie Olaf in jungen Jahren getauft und konfirmiert wurde, aber dann „zu viele philosophischen Bücher“ gelesen hat, um an Gott noch glauben zu können. Folgerichtig ist er wie sein Kanzler irgendwann ausgetreten, nur dass er im Unterschied zum Kanzler die ethischen Werte und Grundsätze des Christentums, wie er sie sieht, auch für sich als verbindlich betrachtet.

Auf dem Kirchentag konnte er deshalb auch mit gutem Gewissen sinngemäß aus Bonhoeffers posthum erschienener Ethik deren Kerngedanken zitieren, dass man manchmal nur die Wahl zwischen der größeren und der kleineren Schuld hat. In diesem Moment konnte man, selbst wenn man es wusste, als Zuschauer oder sogar als Journalist fast vergessen, dass Robert Habeck sich nur ethisch, aber nicht in der Transzendenzfrage zum Christentum bekennt, hätte nicht bei der anschließenden Pressekonferenz Kirchentagspräsident Thomas de Maizière Roberts Distanz zum Christentum in einer triumphalen Erfolgsmeldung süffisant durchschimmern lassen: „Heute hat der Bundeswirtschaftsminister, der mir noch nie als Christ aufgefallen ist, von Hoffnung gesprochen und Bonhoeffer zitiert.“

Die in dieser Formulierung enthaltene Spitze klang so, als sollte auf dem Kirchentag eine Art Glaubenswettstreit von dessen Spitze bewusst befeuert werden - als komme es neben dem respektvollen Wetteifern um die überzeugendsten politischen Gedanken zu den drängendsten Fragen der Zeitenwende darauf an, welcher Politiker dem Kirchentagspräsidium oder den Zuschauern am Ende „als Christ aufgefallen“ ist.

Das kann mit einer Entwicklung zu tun haben, die der diesjährige Kirchtagspräsident in mehreren Pressekonferenzen mit dem Satz markierte: „Der Kirchentag hat sich verändert“. Spätestens seit den 80ern war der Kirchentag für mehrere Jahrzehnte eine linksgrüne Domäne gewesen, was sich zur Halbzeit der Merkel-Ära zu ändern begann, nachdem sie tradierte Lagergrenzen gründlich verwischt hatte, als nach und nach die Welt aus den Fugen geriet. In Nürnberg konnte der christdemokratische Kirchentagspräsident nicht ohne Stolz verkünden, dass erstmals der Generalinspekteur der Bundeswehr auf dem Kirchentag war und wohlwollend empfangen wurde – früher undenkbar. Dafür hat diesmal, wie man stillschweigend ergänzen kann, Margot Kässmann, die nach wie vor lauteste Stimme des protestantischen Pazifismus, erstmals gefehlt.

Zu der darin sichtbar werdenden Verschiebung von einer eher linksgrünen zu einer eher konservativen Lesart des Christentums passt logisch die diesmal auf dem Kirchentrag omnipräsente Gretchenfrage ebenso wie zur aktuellen Suche nach der „christlichen DNA“ in der Partei seines Präsidenten. Und Thomas de Maizière war es dann auch, der sich zum persönlichen Glauben nicht nur Robert Habecks aus der Warte Gottes äußerte, sondern auch die Gretchenfrage bei Olaf Scholz ins Zentrum seiner anmoderierenden Laudatio stellte, sodass die anschließende Moderation von Zeit-Ressortchefin Tina Hildebrandt eine Steilvorlage für ihre erste Frage bekam. Ob dieses Prozedere vorher zwischen dem Präsidenten und der Moderatorin abgesprochen war, konnte auf der Bilanzpressekonferenz, die am Sonntag Mittag nach ausweichenden Antworten zu Finanzfragen unvermittelt abgebrochen wurde, nicht abschließend geklärt werden, spielt aber letztlich auch keine Rolle.

2. Platz: Ex-Konfirmandin Annalena Baerbock

Einen ehrenvollen zweiten Platz bei der Beantwortung der Gretchenfrage konnte in diesem Setting am Ende die Ex-Konfirmandin Annalena erringen. Die Bundesaußenministerin bekennt sich nicht nur zu den ethischen Grundsätzen des Christentums, sondern auch dazu, ein Glied der Evangelischen Kirche zu sein. Als deswegen gerade der Applaus im voll besetzten Nürnberger NCC-Saal lostoben wollte, machte sie eine abwehrende Geste und stellte klar, dass sie aber nicht an Gott glaubt, sondern nur an die Richtigkeit von dem, was das Christentum als zu tun geboten überliefert hat. „Bei uns ist das genauso so“, rief es ihr da spontan von mehreren Sitzplätzen aus dem Zuschauer:innenraum entgegen. Und man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die charmante höchste Diplomatin der Bundesrepublik nicht nur weltweit das Gute mit Freude und Spaß an der Sache erreichen will, sondern dass sie es auch mit sehr cleveren Ansätzen in erfolgreichen diplomatischen Schritten zu erreichen versteht, die durchweg von einer christlichen Logik geprägt sind.

1. Platz: Katholik Friedrich Merz

Klarer Sieger vor den Ex-Konfirmand:innen Annalena, Robert und Olaf war der Katholik Friedrich Merz. Der verglichen mit ihnen schon etwas ältere Fritz ist nicht nur wie Annalena in seiner Kirche geblieben und wie sie und Robert vom hohen Wert christlicher ethischer Maximen überzeugt. Friedrich beantwortet als einziger auch die Transzendenzfrage positiv. Und das so entschieden, als könne man an Gottes Existenz nicht nur glauben, sondern sie als rational strukturierter Mensch auch sicher erkennen.

Deutlich wurde das am Ende seiner Bibelarbeit in derselben Frankenhalle, wo gleich nach ihm sein politischer Rivale Olaf Scholz die Bühne betreten sollte. Auch das war geschickt arrangiert und zeigte den Sieger des unterschwelligen Glaubenswettstreits im schrillen unmittelbaren Kontrast zu dessen Verlierer.

Friedrich Merz hatte sich zunächst die theologische Auseinandersetzung mit dem sperrigen apokalyptischen Text Lukas 17, 20-25 leicht gemacht, indem er die ethische Übersetzung seiner Botschaft einer 20 Jahren alten Predigt von Wolfgang Huber über denselben Bibeltext entnahm: „Wir können an unserem Ort, unter unseren Verhältnissen tun, was den Menschen zugute kommt, und ändern, was sie an einem Leben in Freiheit und Frieden hindert.“ Allerdings setzen wir dabei nur Zeichen, dass eine bessere Zukunft möglich ist, in einem fortdauernden Prozess, der nie an ein Ende kommt, so dass wir nie diese Zukunft endgültig gewinnen, so Huber weiter (und im Anschluss an ihn Merz). „Selbst wenn etwas erreicht, eine Reform verwirklicht, ein Konflikt gelöst ist, wartet das nächste Problem schon um die Ecke.“

Vor diesem Hintergrund benannte Friedrich sodann, dass für ihn heute der Klimawandel und der Ukrainekrieg die beiden stärksten Bedrohungen von Frieden und Freiheit sind, auf die wir als Christen im Sinne der von Huber formulierten Maximen Antworten finden müssen. Und bei beidem hätten wir die „Zeichen der Zeit“ nicht erkannt, von denen im apokalyptischen Text als Vorboten einer letzten Katastrophe die Rede ist.

Beim Ukraine-Krieg erkennt Friedrich Merz ein Spiegelbild unserer heutigen Situation in dem von John F. Kennedy 1940 als Abschlussarbeit in Harvard verfassten Buch „Why England Slept“, mit dessen Titel Kennedy auf das fast gleichnamige Buch von Winston Churchill aus dem Jahr 1938 anspielte. In diesem Jahr kehrte Churchills Vorgänger Neville Chamberlain von der Münchner Konferenz mit der von Hitler anerkannten und unterschriebenen Selbstverpflichtung zurück, Konflikte in Zukunft ausschließlich friedlich zu lösen. Doch das Dokument „Peace for our Time“ von damals war das Papier genauso wenig wert wie in unseren Tagen die vom sowjetischen Präsidenten Gorbatschow 1990 mit unterzeichnete und später vom russischen Präsidenten Jelzin anerkannte Schlussakte von Helsinki, die „Charta von Paris für ein neues Europa“, die das gleiche Versprechen enthielt.

Weil sie diese grundlegende Tatsache nicht anerkenne, sei für Merz die AfD bei der demokratischen Suche nach der besten Lösung kein ernst zu nehmender Partner, ebenso wenig wie bei der Frage nach der besten Reaktion auf den Klimawandel.

Bei der Klimakrise dürfe heute niemand mehr leugnen, dass es sie gibt und dass wir als Menschen tief in die Schöpfung eingreifen, jedenfalls in dem Teil von ihr, den wir bewohnen. Damit sei das Ziel vorgegeben, den Frieden und Freiheit durch den Klimawandel drohenden Schaden zu begrenzen, wobei der beste gemeinsame Weg zu diesem Ziel am ehesten im parlamentarischen Wettstreit gefunden werden könne. An einfachen, fertigen, endgültigen Lösungen könne man dagegen, wie schon das Neue Testament im auszulegenden Bibeltext feststellt, die Falschprofeten erkennen.

Von diesen Überlegungen war es schließlich nur ein kleiner Schritt bis zur Transzendenzfrage, zu der März über die zunächst mehr gefühlte Einsicht gelangte, dass wir uns alle einmal für unser Tun und Unterlassen in diesen Dingen verantworten müssen. Einem eher unterkühlt rationalen Denker wie Friedrich März kann aber eine bloß gefühlte Einsicht als Glaubensgrundlage nicht genügen, ebensowenig wie der nur scheinbar logische moralische Gottesbeweis Immanuel Kants, der hinter derselben emotionalen Emphase lediglich einen verdeckten Zirkelschluss verbirgt.

Deswegen konfrontierte Merz am Ende seiner Bibelarbeit zwei diametral entgegengesetzten Auskünfte von eher empirischen Wissenschaftlern miteinander: die des Astrophysikers Stephen Hawking und die des Neurochirurgen Eben Alexander.

Natürlich gewinnt am Ende schon aus logischen Gründen der Neurochirurg gegen den Physiker. Schon Kant konnte nachweisen, dass alle „physikotheologischen“ Gottesbeweise nicht funktionieren können, was dann vice-versa auch für physikotheologische Negativbeweise gelten muss.

Zunächst zitierte Merz Stephen Hawkings Argument aus dem Interview von 2011 mit Guardian-Wissenschaftsredakteur Ian Sample, er würde das Gehirn als einen Computer ansehen, der zu arbeiten aufhört, wenn seine Komponenten versagen, deshalb könne der Himmel oder das Leben nach dem Tod nur ein Märchen für Menschen sein, die Angst im Dunkeln haben. Schon anderen ist aufgefallen, dass dieses Argument ebenfalls ein Zirkelschluss ist, weil es stillschweigend von der Annahme einer absoluten Unumkehrbarkeit eines einmal erreichten Nullniveaus von Gehirnströmen abhängt. Doch diese Prämisse ist falsch, was sich unter anderem im Kontext der Nahtoderlebnisforschung herausgestellt hat. Seit den 80er Jahren muss im Kontext der Nahtoderlebnisforschung als erwiesen gelten, dass Menschen auch bei Abwesenheit von Gehirnströmen sogar wahrnehmen und erleben und davon später berichten können.

2008 hatte der Neurochirurg Eben Alexander selbst ein Nahtoderlebnis während eines von Kollegen untersuchten und festgestellten Komplettaussfalls seines Neocortex, der im menschlichen Gehirn nach gegenwärtigem hirnneurologischem Erkenntnisstand für unser Bewusstsein verantwortlich sein soll. Aufgrund dieses Begleitumstandes sah der Neurochirurg sein Nahtoderlebnis als „Beweis des Himmels“ (proof of heaven) an, so der spätere Titel seines ersten Bestsellers. Durch seinen „Blick in die Ewigkeit“ (so der deutsche Titel) konnte Eben in freier Anlehnung an Hiob von da an sagen: „Ich glaubte nicht nur an Gott - ich kannte Gott“.

Für Friedrich Merz bedeuten diese Zeilen des Arztes eine vergleichbare starke Gewissheit auch für die erwartete Wiederkehr Christi im strengen paulinischen Sinn: „Wir warten nicht auf ihn - wir wissen, dass wir heute ein Teil von ihm und seiner Aufgabe sind. Und darum bin ich Christ.“

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ChristianBerlin-RevivalBlog

Jetzt 66 und Pfarrer im Ruhestand, Ex-Journalist u. Ex-FreitagsBlogger "ChristianBerlin"

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