Kirchentagsblog: Jetzt wäre die Zeit für gescheiterte Dialoge

Kirchentag und Debattenkultur: Der erste Kirchentag nach Corona-Pandemie und Zeitenwende zeigt deutlich Spuren von beidem. Doch er scheitert am Anspruch, in Zeiten wachsender Filterblasen und gesellschaftlichen Verwerfungen wieder Dialog und Streitkultur zu ermöglichen.

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Liebe Mitblogger:innen, liebe Lesende,

nach 8 Jahren Zwangspause wegen Rückkehr in hauptamtliche kirchennahe und kirchliche Anstellungen möchte ich als Ruheständler ab heute wieder bloggen.

Als erstes vom ev. Kirchentag. Der hat vorgestern am Mittwochabend in Nürnberg unter dem Motto "Jetzt ist die Zeit" begonnen - nach 4 Jahren Zwangspause wegen der Corona-Pandemie, die keine sichere Planung und Durchführung gestattet hatte. Dafür wartet das noch immer beliebte Großevent jetzt mit ein paar interessanten Neuerungen auf.

Zum Teil verdankt es sie ebenfalls der Pandemie und dem von ihr ausgelösten Digitalisierungsschub. Wer möchte, kann jetzt unter https://kirchentag.de/digital ausgewählte Veranstaltungen per livestream mitverfolgen ohne dafür nach Nürnberg anreisen zu müssen. Auch das Programm gibt es jetzt erstmals vorwiegend digital über eine Kirchentags-App mit Terminkalender- und Suchfunktionen.

Auch das vom Kirchentag aus der StartUp-Szene neu adaptierte „FuckUp“-Format hat seine Wurzeln letztlich im digitalen Gründerboom. Im Internet haben interessante ca. 15-minütige FuckUp-Night-Reflektionen auch von gescheiterten politischen Speakern wie FDP-Chef Christian Linder überlebt. Beim Kirchentag wird am Freitagabend unter anderem die fast schon vergessene frühere CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) als FuckUp-Night-Speaker auftreten und ihr politisches Scheitern reflektieren. Und das auf dem Territorium des scheinbar alle Schwesterpartei-Vorsitzenden überlebenden bayerischen Landesvaters Markus Söder, der gestern am Eröffnungsabend neben AKKs Nach-Nachfolger Friedrich Merz und Kirchentagspräsident Thomas de Maizière umjubelter Stargast auf dem Großen Empfang des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK) aus Anlass des Kirchentages war.

Dieses christdemokratische und/oder christlichsoziale Begleitevent könnte sich aus Sicht dieses eher politischen Blogs als der spannendste und aufschlussreichste Teil dieses Kirchentages erweisen. Denn die jetzige Suche nach dem künftigen Weg der sich selbst als "staatstragend" definierenden Schwesterparteien mit der "christlichen DNA", die in 3 Epochen jeweils mehr als eineinhalb Jahrzehnte die Kanzler:innen der Bundesrepublik stellten, könnte für ihre im Land Berlin schon erfolgte künftige Rückkehr an die Macht und damit für das weitere Schicksal dieser Republik maßgeblicher sein als vieles andere.

Und alle übrigen Themen, Gäste und deren Vorträge und Statements dieses Kirchentags sehen dagegen ziemlich erwartbar aus. Wer sich einigermaßen mit aktuellen Dauerbrennern auskennt, würde auf dasselbe Programm kommen und wahrscheinlich genau dieselben Gäste dazu einladen, könnte deren Vorträge und Statements selbst schreiben und auch die Rückfragen der meisten Besucher:innen und Zuschauer dazu voraussagen, und das sind die, die dann bei den Veranstaltungen von den als Filter zwischengeschalteten Anwält:innen des Publikums an die Referent:innen und Podiumsteilnehmer:innen weitergereicht werden.

Genau an dieser Stelle, der Filterung des Rückkanals vom Publikum, vertut der Kirchentag leider seine Riesen-Chance, mal auch ausgegrenzte Perspektiven in eine respektvolle Debatte zu bringen.

Die erwartbaren zentralen Kirchentagsthemen, die sich – wie schon 2009 in Bremen - unter den Begriffen „Krise(n)“, aktuell gesteigert zu „Zeitenwende“ subsumieren lassen, sind im 4-Jahres-Rückblick und Gegenwartsausblick als solche nach wie vor spannend und zukunftsrelevant. Neben der immer sichtbarer werdenden Klimakrise war da zunächst eine weltweite Pandemie - ein kleines unsichtbares Virus hat zu vielen sichtbaren Schäden und Verwerfungen geführt, hat elementare Schwächen aufgedeckt, aber auch zu temporären oder bleibenden Innovationen geführt. Als diese Pandemie plötzlich und unerwartet vorbei war, hatte ein neuer großer Krieg schon begonnen und – wieder einmal – in Kriegszeiten in Kirche, Politik und Kommentarspalten zum Abschied von eben noch klaren friedensethischen Grundsätzen in Wort und Tat geführt. Und schließlich die von dieser Dreier-Kombi aus Corona, Krieg und Klimawandel ausgelösten und/oder verstärkten weiteren wirtschaftlichen, ethischen und mentalen Krisen wie Lieferengpässen, Energieknappheit, Rekordinflation, Rezession, Klima-Konflikt-Eskalationen, neue Fluchtwellen und Hervorkramen von eben noch verworfenen Plänen für Asyl-Zentren an den Außengrenzen und schließlich eine rapide gestiegene Demokratie-Verdrossenheit mit einem erneuten allgemeinen Rechtsruck bei Wahlen und Umfragen, um die wichtigsten zu nennen.

Doch reicht es, diese Krisen allesamt in der Themenwahl abzubilden und zu den Vorträgen und Podien die üblichen Talk-Show-Gäste plus ein paar interessante Background-Player einzuladen?

Auf diesem Kirchentag fehlt z.B. erstmals die Stimme der langjährigen Kirchentagsgeneralsekretärin und Margot Käßmann, die in ihrer kurzen Amtszeit als EKD-Ratsvorsitzende Politiker:innen fast aller Parteien mit ihrem inzwischen von allen eingesehenen Votum „Nichts ist gut in Afghanistan“ aufschreckte und im Moment wieder die prominenteste Stimme des christlichen Pazifismus in Deutschland ist. Auch wenn das an einer gescheiterten Aushandlung gelegen haben mag und sie keine wissenschaftliche Expertin ist, vermisst man Friendensforscher wie Wolfgang Merkel oder NATO-Kritiker wie Ex-General Harald Kujat hier genauso. Und mit Margot Käßmanns Promi-Qualität fehlt zumindest ein vergleichbarer Kontrapunkt zur Rede des Bundespräsidenten am Ende vom Eröffnungsgottesdienst auf dem Hauptmarkt, in der Walter Steinmeier in Anlehnung an unser Staatsoberhaupt von 1914 frank und frei konstatierte: „Es ist auch Zeit für Waffen“.

Auf den Podien fehlen außerdem die Stimmen der öffentlich vor, während und nach Corona mundtot Gemachten. Oder auch derer, die man nicht mundtot kriegt, die aber in Talkshows allenfalls zum Abschießen eingeladen werden, auch wenn sie für ganz erhebliche Teile der Bevölkerung hinter sich haben.

Der Kirchentag erhebt den Anspruch, zwar nicht (mehr) die Leitfiguren populistischer oder verschwurbelter Bewegungen durch Einladungen aufzuwerten, dafür aber deren irregeleitete Anhänger:innen aus dem Publikum in „Dialoge“ einzubeziehen. Ob er ihn einlösen kann, hängt vor allem von den so genannten „Anwält:innen des Publikums“ ab, die damit eine tragende Rolle für die Qualität der Debattenformate des Kirchentags bekommen. Doch die scheinen in der Praxis stattdessen – so der erste Eindruck – eher „Anwält:innen des Mainstreams“ zu sein, die lieber anweisungswidrig in vorauseilendem Gehorsam eine nach unserer angeblichen Mehrheitsmeinung christlich und demokratisch geprägte Filterblase zu konservieren, in der alles diesen vermeintlichen Zeitgeist Störende draußen bleibt: Gestern die Bellizisten, heute die Pazifisten, um nur ein Beispiel zu nennen.

Im goldenen Zeitalter der 60er, 70er und 80er Jahre waren Kirchentage und evangelische Akademien eine Vorhut für provokante Debatten und gesellschaftliche Innovationen in West- und auch in Ostdeutschland, kirchliche Schnittstellen mit u.a. der Apo und später der Friedensbewegung, bis auch von dort ausgehende Impulse auch für den Mauerfall und die spätere Wiedervereinigung sorgten.

Meine früheren Berichte beim Freitag aus Bremen, München, Dresden, Hamburg und vor allem Stuttgart haben gezeigt, wie sich Kirchentage in den 10er Jahren das Format kontroverser Debatten bis zum Relevanzverlust immer konsequenter vermieden haben. Diesmal sollte es eigentlich nur besser laufen, weil wir aus den sich häufenden Krisen ohne neue Debattenkultur keinen gemeinsamen Ausweg mehr finden werden. Jetzt wäre die Zeit.

LG aus Nürnberg CB

Bis jetzt in diesem Kirchentagsblog erschienen:

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin-revival/kirchentag-in-der-zeitenwende-kirchentagsblog-das-sommermaerchen-des-glaubens-und-die-gretchenfrage

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin-RevivalBlog

Jetzt 66 und Pfarrer im Ruhestand, Ex-Journalist u. Ex-FreitagsBlogger "ChristianBerlin"

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