Wider die Mär von SOZIALER-Marktwirtschaft

SOLIDAR-Wirtschaft 3 Beitrag über Solidar-Wirtschaft, Soziale Marktwirtschaft, solidarische Ökonomie in Brasilien und Frauen-Kooperativen in Honduras und Mosambik in fünf Folgen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

http://www.economiasolidaria.org/files/imagecache/teaser/cabecalho%20forumnovo.jpg

Foto: Logo des 2. Sozialen Forums für Solidar-Wirtschaft in Latein-Amerka und Karibik vom 11. bis 14. Juli 2013 in Santa Maria, Brasilien („Eine andere Welt ist möglich, eine andere Ökonomie existiert bereits“)

Liebe dFC,

Seitdem Union und SPD jetzt gemeinsam das „Hohe Lied“ der (UN)-SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT singen, uns zukünftig zum Großen Genmais-Fressen ins Kanzleramt einladen, wo wir dann die Behandlungs-Resultate des MERKELSCHEN TOTSPARDIKTATES bezüglich unserer „kranken europäischen Brüder“ serviert bekommen, die sich doch tatsächlich schäublegleich am eigenen Haarschopf aus dem Dreck gezogen haben, und wir dann vom aufgeräumten Vizekanzler die rosigen Aussichten unserer kapitalistischen deutschen Zukunft vernehmen, möchte ich bescheiden daran erinnern: Es gibt auch ein Wirtschaften außerhalb von Kapitalismus und Sozialismus, nämlich die SOLIDAR-WIRTSCHAFT. Vielen von Euch wird sie zumindest dem Namen nach bekannt sein, Einige werden sie ausprobiert haben.

Ich werde hier in fünf Folgen meine persönlichen Erfahrungen und Gedanken zu dieser Wirtschafts- aber auch Lebensform einstellen (selbstverständlich nicht in „wissenschaftlicher“ Form, das überlasse ich Uniseminaren).

Die erste Folge beschäftigt sich mit der Definition der Solidar-Wirtschaft.

Die zweite bezieht sich auf unsere verehrte „Soziale Marktwirtschaft“ (für mich „Unsoziale Marktwirtschaft“), die die deutsche angeblich „humane“ Variante des Kapitalismus beleuchtet, und die nach herrschender Auffassung der politischen und wirtschaftlichen Oligarchie im Lande (jetzt mit Verve von der GROKO inszeniert) den Endpunkt gesellschaftlicher Entwicklung markiert, die keiner weiteren Fortentwicklung bedarf.

Die dritte Folge geht auf die Bedeutung der Solidar-Wirtschaft in Brasilien ein.

Die Vierte beschreibt ein Beispiel in Honduras (Frauenkooperative COMUCAP in Marcala).

Die fünfte Folge beschäftigt sich mit der Union der Frauenkooperativen (UGC) in Maputo, Mosambik.

Folge 3

SOLIDAR-WIRTSCHAFT in Brasilien

Letzte Nachricht aus Brasilien (Verlautbarung des brasilianischen Staatssekretariates für SOLIDAR-Wirtschaft im Arbeitsministerium in Brasilia):

Die französische Regierung will die Erfahrungen, die Brasilien mit der SOLIDAR-WIRTSCHAFT gemacht hat, für die eigene Sozialpolitik nutzen.“

Die SOLIDAR-Wirtschaft ist Thema der Zusammenarbeit zwischen Brasilien und Frankreich.

Der Minister für Arbeit und Beschäftigung, Manuel Dias, unterzeichnete am 12. Dezember 2013 ein „Memorandum of Understanding“ mit der französischen Regierung auf dem Gebiet der Kooperation und Technischen Assistenz bzgl. der SOLIDAR-Wirtschaft. Das Abkommen wurde im Präsidenten-Palast am Vorabend des Staatsbesuches des französischen Präsidenten, François Hollande, unterzeichnet. Das Staatssekretariat für SOLIDAR-Wirtschaft war durch Prof. Paul Singer vertreten. (Übers. aus dem Spanischen: H.G.)

Letzte Nachricht aus dem winterlichen Deutschland:

„Die GROKO, mit Mme Merkel an der Spitze, kann sich keine Experimente außerhalb der Un-Sozialen Marktwirtschaft (d.h. Kapitalismus pur) vorstellen, um das offensichtliche Versagen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung besonders auf dem Gebiet der Sozialpolitik abzumildern. Jegliches nicht-kapitalistische Wirtschaften ist ein ´Werk des Teufels‘!“

Man möge mir das Herausrutschen dieser „ermutigenden“ Nachricht aus Deutschland verzeihen, aber angesichts des völligen Fehlens von regierungsamtlichen Initiativen in Deutschland in Richtung auf eine SOLIDAR-Wirtschaft und ebenso mangelnde Ermutigung diesbezüglich für die Krisenbewältigung in südeuropäischen Ländern (schon Jahre wird über eine Wachstums- und Jugendarbeitsförderung geredet, aber es fehlen Taten, die mit einem beherzten Eintritt in die SOLIDAR-Wirtschaft längst hätten begonnen werden können und müssen) kann ein unbescholtener Bürger an seiner deutschen Regierung schier verzweifeln.

Es gibt zu denken, dass ILO (International Labour Organisation), UN (Das Jahr 2012 wurde von den UN zum Internationalen Jahr der Genossenschaften erklärt) und EU die SOLIDAR-Wirtschaft in Lateinamerika fördern und auch meinen, von den Erfahrungen lernen zu können, während Deutschland durch „Taube Ohren“ glänzt. Hier folgender Auszug aus:

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (der EU) zum Thema „Die Sozialwirtschaft in Lateinamerika“ (Initiativstellungnahme (Amtsblatt der EU, 22.5. 2012/C 143/06))

„1.8 Die in dieser Stellungnahme genannten Überlegungen und Vorschläge sollten im Rahmen einer internationalen Kooperationspolitik der EU gegenüber Lateinamerika im Bereich der SSW („Sozial- und Solidar-Wirtschaft“) aufgegriffen werden. Es müssen Kooperationsprojekte erörtert werden, die darauf abzielen, solide Unternehmungen der SSW als Akteure des sozialen Zusammenhalts, der lokalen Entwicklung, der Pluralität, der Wirtschaftsdemokratie sowie der umfangreichen Überführung in die formelle Wirtschaft und Beschäftigung einzusetzen. Die SSW muss als vorrangig für die Zusammenarbeit der EU erachtet werden. Hauptziel sollte es dabei sein, die Konsolidierung von Netzen zu fördern, die als Akteure die konkrete Umsetzung der Maßnahmen im Bereich der Wirtschaftszusammenarbeit und der partnerschaftlichen Entwicklung ermöglichen. Die Projekte für die Zusammenarbeit im Bereich der SSW sollten die Koordinierung ihrer Akteure und Netze fördern und Zersplitterung und Dopplungen vermeiden: Es ist von grundlegender Bedeutung, dass die internationale und strategische Ausrichtung der Maßnahmen verstärkt wird.

1.9 Überdies müssen in diesen Zeiten der weltweiten Krise die Geschäfts- und Handelsbeziehungen zwischen der SSW in der EU und in Lateinamerika gestärkt werden. Bewährte Praktiken der SSW in Lateinamerika können hier als nachahmenswerte Beispiele dienen. In den Handelsabkommen mit den lateinamerikanischen Ländern muss die Entwicklung des Mittelstandes und von Klein- und Kleinstunternehmen sowie konkret von Unternehmen der SSW gefördert werden.“

SOLIDAR-Wirtschaft in Lateinamerika und ganz besonders in Brasilien (200 Mio. Einwohner, etwa 50% der Bevölkerung und 50% der Oberfläche – 8,5 Mio. km2 - von Südamerkika) ist fester Bestandteil der nationalen Ökonomie. Neben staatlichem und privatem wirtschaftlichen Handeln kommt der Solidar-Wirtschaft als drittem nicht-kapitalistischen Sektor große Bedeutung im Rahmen der Armutsbekämpfung, der gerechten Verteilung vor allem lokaler Ressourcen und der traditionellen Form der „Gegenseitigen Hilfe“ und selbstbestimmten Arbeits- und Lebensweise (Freiheitsbestreben gegenüber nationalen Oligarchien und dem Staat) zu.

Lateinamerika, inkl. Brasilien, ist die Weltregion mit der größten Ungleichheit in der Einkommens-Verteilung, was auf die Kolonialgeschichte zurückzuführen ist, in der die Conquistadores das Land in riesige Latifundien aufteilten und Indigene und Sklaven aus Afrika als billige Arbeitskraft ausbeuteten. Die Unterdrückten haben über Jahrhunderte verschiedenste Überlebensstrategien auf friedfertige und gewaltsame Weise erprobt. Dabei stand die Verteidigung oder Eroberung eines kollektiv zu bewirtschaftenden und in Selbstbestimmung verwalteten Territoriums im Mittelpunkt ihres Kampfes.

In den zwanzig Jahren der Militärdiktatur von 1965 bis 1985 wurden Millionen von Kleinbauer- und Landarbeiterfamilien durch die von der Regierung geförderte Konzentration des Landbesitzes zugunsten von Monopolkulturen (besonders Zucker und Soja sowie Rinderzucht) und die zunehmende Mechanisierung der Landwirtschaft zu Landlosen, die entweder in die Städte abwanderten oder entlang der wichtigsten Transportachsen behelfsmäßig in Zelt-Camps unterkamen oder aber als „Kolonisierer“ den Holzfirmen auf ihrem Weg der Zerstörung des Regenwaldes im Amazonasgebiet folgten. Ab Mitte der 80er Jahre erfolgte die Gründung des „Movimento sem Terra“ (MST) [Bewegung der Landlosen], die bis heute den Kern der Solidar-Wirtschaft in Brasilien bildet. Mit der Machtübernahme von Präsident Lula (2003) wurde im Arbeitsministerium das Staatssekretariat für SOLIDAR-Wirtschaft eingerichtet. Allerdings hat die Gesetzesvorlage für ein eigenes Gesetz zur Solidarwirtschaft bis heute das Parlament nicht passiert, was in einigen anderen lateinamerikanischen Staaten der Fall ist.

Nachstehend werde ich Auszüge aus einem Referat von Hermann Dierkes über die Solidar-Ökonomie in Brasilien anführen, die die Bedeutung der Solidar-Wirtschaft im Kontext der jüngeren gesellschaftlichen Entwicklung Brasiliens zusammenfasst (siehe: Hermann Dierkes: Solidarische Ökonomie in Brasilien im Überblick, 5.4.2011, gehalten vor der Fraktion der Linken im Landtag NRW) :

Die Solidarische Ökonomie oder Solidarwirtschaft ist in Brasilien - insbesondere in den letzten zehn Jahren – stark im Wachstum begriffen. Die politische und finanzielle Förderung unter der Regierung Lula seit 2003 bzw. seit Anfang 2011 der Regierung von Dilma Rousseff sowie in den von der Linken seit Ende der achtziger Jahre regierten bzw. verwalteten Bundesländern und Kommunen ist beträchtlich, obwohl die prokapitalistische Orientierung in der Makroökonomie vorherrscht. Heute gibt es rd. 22.000 Solidarunternehmen im Land. Sie umfassen bereits 51 % der brasilianischen Kommunen. Mit der brasilianischen Solidarwirtschaft sind inzwischen rund zwei Millionen Menschen verbunden (1).

Die brasilianische Solidarwirtschaft definiert sich wie folgt:

„Die Solidarwirtschaft ist eine Form der Produktion, des Konsums und der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, bei der die Wertschätzung des Menschen im Mittelpunkt steht und nicht das Kapital. Auf Grundlage von Assoziation und Kooperation werden Produktion, Konsum und Handel von bzw. mit Gütern und Dienstleistungen selbstverwaltet organisiert. Die Solidarwirtschaft hat die erweiterte Reproduktion der Lebensverhältnisse zum Ziel. Im Rahmen dieser Wirtschaftsweise verwandelt sich die Arbeit in ein Mittel zur menschlichen Befreiung, wird ein Prozess der wirtschaftlichen Demokratisierung angestoßen und der Entfremdung und Lohnarbeit unter kapitalistischen Arbeitsverhältnissen eine Alternative entgegengesetzt.“ (2)

„Solidarwirtschaft“, so ihr brasilianischer Nestor und herausragender Theoretiker, Paulo Singer, in einem Vortrag im Januar 2010 beim lateinamerikanischen Sozialforum im Großraum Porto Alegre, „unterscheidet sich ganz wesentlich vom sogenannten dritten Sektor des Landes, mit dem sich der Staat hier und anderswo im Sinne des Neoliberalismus seiner Verpflichtungen entzieht. In Brasilien haben wir ein wahres Universum von geschätzten 335.000 Nichtregierungsorganisationen. Das Spektrum ist äußerst heterogen. Unter ihnen befindet sich alles - von kriminellen Banden über Schwindler, Akteure, die mit multinationalen Konzernen zusammenarbeiten und von diesen bezahlt werden bis hin zu echten NGOs, die tatsächlich verschiedene und gesellschaftlich nützliche Dienstleistungen anbieten.“ (3)

Brasilien ist nach wie vor ein Land mit einer riesigen gesellschaftlichen Aufspaltung und schreiendem sozialen Unrecht. Die Solidarwirtschaft als Ausdruck des freiwilligen Zusammenschlusses und der praktischen Solidarität entspringt der gesellschaftlichen Not, die sich in Form von massenhafter Erwerbslosigkeit, Unterbeschäftigung in Stadt und Land, gewaltigen Defiziten an öffentlicher Infrastruktur und bei den sozialen Sicherungssystemen, extrem ungleicher Land- und Reichtumsverteilung, verbreiteter Armut und extremer Armut in den städtischen Slums (Favelas), in ganzen Landesregionen wie den ariden, semi-ariden und den abgelegenen, grenznahen Gebieten usw. zeigt. Die Binnenwanderung hat in den Jahren zwischen 1950 und 2000 zwischen 40 und 50 Millionen Menschen auf der Suche nach einer neuen Existenzmöglichkeit vom Land in die Städte verschlagen. Der Prozess der wirtschaftlichen Restrukturierung und der Privatisierung von zahlreichen Staatsbetrieben zwischen dem Beginn der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre verschärfte die extreme Ungleichheit und Sozialnot. Die Zahl der nicht registrierten ArbeiterInnen stieg von rd. 35 % auf über 50 %. Die Erwerbslosigkeit stieg damals auf 20 % an. 54 Mio. Menschen lebten Mitte der neunziger Jahre unterhalb der Armutslinie. Über 75 % der heutigen Bevölkerung Brasiliens (193 Mio. nach der Schätzung von 2010) lebt heute in Städten. Die Analphabetenrate liegt immer noch bei 10 % (4).

LG, CE

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Costa Esmeralda

35 Jahre Entwicklungsberater, Lateinamerika, Afrika, Balkan. Veröff. u.a. "Abschied von Bissau" und "Die kranke deutsche Demokratie".

Costa Esmeralda

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden