Europa rüstet auf

Polen/Belarus Warschau stellt die Situation an der Grenze als Angriff dar und geht mit Gewalt gegen Migranten vor. Jetzt wird erwogen, die NATO einzuschalten. Sieht so die künftige Grenzpolitik der EU aus?
Ausgabe 46/2021
Was hier passiert, ist mit den Werten der Union nicht vereinbar
Was hier passiert, ist mit den Werten der Union nicht vereinbar

Foto: Imago/SNA

Kühl sagt Heiko Maas, glückloser Außenminister, Deutschland werde diese Menschen nicht aufnehmen. Es scheint egal, ob sie erfrieren oder nur erkranken. Egal, ob sie schon europäischen Boden betreten und damit das Recht auf ein Asylverfahren haben. In Brüssel wird nicht über ein Vertragsverletzungsverfahren diskutiert, sondern über die Bezahlung einer Mauer. Auf jeden Migranten, auf jede Frau, jedes Kind, kommen inzwischen drei oder vier Uniformierte an dieser Grenze der Schande – nicht mit dem Auftrag zu helfen, sondern mit dem gesetzwidrigen Pushback-Befehl. Go, go, go ist ihre Botschaft.

Das Wort Fluchtursachen scheint aus dem Vokabular gestrichen. Stattdessen werden Migranten angeblich nur noch „instrumentalisiert“, was ihnen eigene, begründete Motive abspricht. Und erst recht deren Verursacher im Dunkeln lässt. Die meisten Geflüchteten kommen aus dem Irak. Im Gegensatz zu Belarus war Polen einst mit 2.000 Soldaten beteiligt, als das Land von ausländischen Truppen, die dort nichts zu suchen hatten, in Schutt und Asche gebombt wurde.

Die Sprache zeugt heute unverändert von militantem Denken: „hybrider Angriff“ (von der Leyen), „menschliche Schutzschilde“ (Morawiecki) oder „weißrussischer Staatsterror“ (Steinmeier). Nun erwägt die polnische Regierung, die NATO um Rat zu bitten. Und dies wenige Tage nach der Pariser Libyen-Konferenz, die erneut veranschaulicht hat, wie andauernd die Schäden in dem von der NATO mitverursachten „Failed state“ sind. 2011 hatte die NATO der UNO demonstriert, was von ihrem Rat zu halten ist. Sie schützte nicht die zivilen Aufständischen gegen Gaddafi, sondern zerstörte die zivile Infrastruktur. Denn Gaddafi hatte neben der diktatorischen auch eine emanzipatorische Seite, die Libyen nach dem UN-Index der Entwicklung von 2010 auf den ersten Platz unter den afrikanischen Ländern befördert hatte, weltweit damals auf Platz 53 (heute ist es der 105.). Das 4.000 Kilometer lange Netzwerk von Kanälen und Stahlpipelines, mit denen nubisches Grundwasser aus 1.300 Wüstenbrunnen in die Städte gepumpt wurde, war gerade fertiggestellt. Aus bis zu drei Kilometern Tiefe hatten sie das Wasser heraufbefördert, um damit 150.000 Hektar zu bewässern – eine „grüne Revolution“ zur Ernährung ganz Afrikas. Zerbombt wurden wesentliche Teile der Leitungen und die Produktionsstätten der Pipelines. Heute ist Afrika wieder abhängig von den teuren, westlichen Anlagen zur Entsalzung von Meerwasser, die weit unökologischer sind, schlechtere Qualität liefern und Wasser knapp halten.

Der Rat der NATO als Drohkulisse. Die Methoden Lukaschenkos sind nicht hinnehmbar. Aber sind nicht die „Strafaktionen“ des Westens auch eine Form von Staatsterrorismus? Die EU hat sich auf ein Importverbot von Kali aus dem davon abhängigen Belarus verständigt. Man müsse, so Maas, den Staatsbetrieb (mit seinen 20.000 Mitarbeitern) „empfindlich treffen“. Wieso ist der Westen so überrascht, wenn Diktaturen nicht gefälligst unter den Sanktionen zusammenbrechen, sondern ihrerseits Gegenwehr suchen? Die EU darf strafen, sich selbst aber nicht erpressen lassen. Neokoloniales Gebaren. Der wirksamste politische Druck ist immer noch die Leuchtkraft einer echten Demokratie, die sich nicht nur an Recht und Gesetz hält, sondern mit großzügiger Mitmenschlichkeit überzeugt. Mit go, go, go wird jedenfalls nicht zu verhindern sein, dass neue Fluchtwege gefunden werden, die unseren Wohlstand auf Kosten anderer vor Augen führen.

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