August 2004. An einem Montagabend steht ein Mann auf dem Domplatz in Magdeburg, dünnes gelbes Hemd, Jeans. Neben ihm drängen sich Journalisten mit Mikrofonen und Kameras, Demonstrationsteilnehmer. „Herr Ehrholdt, was sagen Sie zu Wolfgang Clement?“, wird er gefragt. Ehrholdt ringt um Worte. Er ist kein Politiker, den Umgang mit Medien ist er nicht gewohnt. Flotte, routinierte und glatte Antworten sind seine Sache nicht. Ehrholdt ringt um Worte, nicht weil er nicht weiß, was er sagen will; eher weil er sehr genau weiß, was er zu sagen hat: dass Menschen wie er durch die Hartz-IV-Reformen Gefahr laufen, alles zu verlieren: ihre Rücklagen, ihr Haus, die Anerkennung ihrer Lebensleistung. Doch Ehrholdt ist nicht medientauglich, passt nicht ins Schema. Weder
er ist er politischer Aktivist noch Verbandsfunktionär oder Politiker. Und doch ist er der Mann des Moments in diesem August des Jahres 2004.Im Juli 2004 hatte er begonnen, zum Protest gegen die von der rot-grünen Bundesregierung geplante Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld 2, besser bekannt unter dem Namen Hartz IV, zu mobilisieren. Nicht über Instagram oder Twitter, was es damals noch gar nicht gab, sondern mit selbstgeschriebenen Handzetteln und Plakaten, die er in Magdeburgs Innenstadt aushing.Die DDR-Facharbeiterschaft auf der StraßeSeine kleine Initiativgruppe trifft sich im Gastraum einer Burger-Kette in der Stadt. Parteien, Gewerkschaften, linke Gruppen diskutieren heftig über die Reformpläne der Regierung Gerhard Schröders. Doch die Initialzündung für den Protest kommt aus einer unerwarteten Ecke. Von einem erwerbslosen Mann aus einem kleinen Ort bei Magdeburg.In den ersten Wochen im Juli kamen zwischen 50 und 80 Teilnehmer zur Demonstration durch die Magdeburger Innenstadt. Dann werden es von Woche zu Woche mehr, bis es im August auf dem Höhepunkt der Proteste allein in Magdeburg über 30.000 Menschen sind. Andreas Ehrholdt ist nicht der Mann großer Worte oder komplexer Reden. Die einmal erhobenen Forderungen sind klar: Weg mit Hartz IV und Vermögensschutz für die von der Neuregelung der Leistungen betroffenen Erwerbslosen.West-Linke sind irritiertEhrholdt ist der Initiator, nicht der Wortführer. Das demokratisiert den Protest. So kommen bei den wöchentlichen Demonstrationen nicht in erster Linie Verbandsvertreter, Gewerkschaftsfunktionäre oder Politiker zu Wort, sondern Frauen und Männer, die bis zur Wende in den zahlreichen Industriebetrieben Magdeburgs gearbeitet haben – die alte DDR-Arbeiteraristokratie: die Facharbeiterschaft. Die Skepsis der Teilnehmer gegenüber den Strukturen des westdeutschen Korporatismus sind auf den Demonstrationen mit Händen zu greifen. Zeitweise werden Vertreter von Gewerkschaften und Parteien für unerwünscht erklärt.Die westdeutsche Linke ist fasziniert von der Wucht des Protests, und zugleich davon irritiert, dass er so gar nicht in ihre politischen Raster passt. Gespräche zwischen den Demonstranten und angereisten westdeutschen linken Akteuren scheitern schon beim Sprachgebrauch. Man kann sich nicht verständigen. Neonazis und die maoistische MLPD wenden ihre erprobte Taktik politischer Okkupation sozialer Bewegungen an, die jedoch weitgehend ins Leere läuft. Die Leute wollen keine Ideologie-Cocktails voller Weltdeutungen, sondern konkrete Lösungen für konkrete Fragen: Kann ich meinen Schrebergarten behalten, wenn ich ALG 2 beziehe? Diese und andere Fragen kann nur die rot-grüne Regierung in Berlin beantworten.Wolfgang Clement zeigt seine kalte SchulterFür die geht es in jenem Protestsommer darum, wie scharf die Restriktionen für künftige ALG-2-Empfänger ausfallen werden. Wenn es nach Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, damals SPD, und erst recht nach der CDU-Opposition geht, sollen die Daumenschrauben angezogen werden. Dem vor allem in Ostdeutschland heftig ausfallenden Protest zeigt Clement die kalte Schulter. Er ist fest entschlossen, ihn auszusitzen. Mit Erfolg, in gewisser Hinsicht.Andreas Ehrholdt verfügt über eine DDR-Biografie, die widersprüchlicher nicht sein könnte: Der ehemalige Transportarbeiter war Mitglied der SED gewesen, verfolgte zeitweilig eine Karriere in der Nationalen Volksarmee (NVA), schmiss hin, stellte einen Ausreiseantrag, flog aus der SED. Im Sommer 1989 floh er wie viele andere DDR-Bürger über Budapest in die Bundesrepublik, kehrte jedoch wenige Wochen später zurück. Im vereinigten Deutschland orientiert er sich politisch neu, ist zeitweilig Mitglied der CDU, kandidiert für die bedeutungslose „Mittelstandspartei“ bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 1998. Durch seine Biografie der Transformationsjahre zieht sich eine Erfahrung, die viele Ostdeutsche damals teilen: Unsicherheit, Erwerbslosigkeit, mehrfache Anläufe, per Selbstständigkeit wieder auf die Beine zu kommen, ohne Erfolg. Durch die rot-grünen Hart-IV-Pläne sieht er sich in seiner Existenz bedroht.Andreas Ehrholdt und Die LinkeDie von ihm ins Leben gerufenen Hartz-IV-Proteste sind das politische Thema des Sommers 2004. Ehrholdt wird von Parteien und Medien heftig umworben. Doch die von ihm initiierte Protestbewegung verliert schon im Ende September an Dynamik und ebbt danach ab. Dass die Hartz-IV-Proteste zum Ausgangspunkt des Gründungsprozesses der Partei Die Linke werden, hat mit Andreas Ehrholdt nur noch wenig zu tun, auch wenn er später Mitglied dieser Partei wird.Der von Ehrholdt entscheidend geprägte Protest gegen Hartz IV war der letzte Versuch der DDR-Facharbeiterschaft, sich der ökonomischen und soziokulturellen Entwertung ihrer kollektiven Erfahrung politisch entgegenzustellen, indem die Menschen – quer zu den bundesdeutschen Institutionen und Ritualen des Protests – gesellschaftliche Partizipation einforderten. Was daraus geworden ist, ist eine andere Geschichte. Andreas Ehrholdt ist am 25. Mai 2023, weithin vergessen, in Gerwisch bei Magdeburg verstorben.