1958: De Gaulle wartet ab

Zeitgeschichte Die IV. Französische Republik erlebt ein wirres Finale. Generäle wie Raoul Salan wollen die Kolonie Algerien keinesfalls preisgeben – und drohen dezent mit einem Putsch
Ausgabe 27/2021

Seit dem 1. November 1954 herrscht in Algerien Krieg. Gut zwei Jahre später ernennt Algerienminister Robert Lacoste den General Jacques Massu zum Chef der „Terrorbekämpfung“ in der französischen Kolonie, um den antikolonialen Aufruhr einzudämmen. Damit werden Polizeibefugnisse der Armee übertragen, von der sich die zivile Verwaltung abhängig macht, indem sie das politische Entscheidungsmonopol aufgibt. Massu begreift seine Chance und zeigt keinerlei Skrupel bei der Erledigung seines Auftrags. Er lässt Verdächtige, bei denen eine Mitgliedschaft in der Nationalen Befreiungsfront (FLN) angenommen wird, brutal foltern. Ohne Wissen der Pariser Regierung bombardieren französische Kampfjets im Februar 1958 ein tunesisches Dorf, in dem der Geheimdienst „Terroristen“ vermutet, doch sind es mehr als hundert unbeteiligte Zivilisten, die durch den Angriff ihr Leben verlieren.

Der Krieg in Algerien befeuert das turbulente Finale der IV. Französischen Republik, die in jener Zeit beständig der Gefahr eines Militärputschs ausgesetzt ist. In vielen der nach dem erzwungenen Abzug aus Indochina zurückgekehrten Offizieren gärt es, nicht zuletzt, weil der Gaullist Michel Debré wie der Troubadour seines Meisters im Blatt Le Courrier de la Colère täglich den Machtantritt de Gaulles herbeischreibt. Noch ist die katastrophale Niederlage des französischen Indochina-Korps, zu der es im Mai 1954 im vietnamesischen Đien Biên Phu durch den Sieg der Guerilla-Armee des genialen Strategen Vo Nguyen Giap gekommen ist, nicht verwunden.

Als sich vier Jahre später Verhandlungen der Regierung in Paris mit den algerischen Unabhängigkeitskämpfern abzeichnen, glaubt die Führung der Streitkräfte, sie werde ein weiteres Mal am Konferenztisch desavouiert. General Raoul Salan reagiert darauf im Namen aller höheren Kommandeure mit dem dezenten Hinweis, es gebe „Gewissensbisse in der Armee“. Damit liegt die Drohung eines Staatsstreichs in der Luft. Prompt werden zunächst keine „Terroristen“ zum Gespräch gebeten. Erst Ende Mai 1961 wird es in Evian soweit sein.

General de Gaulle lebt zu dieser Zeit in dem lothringischen Ort Colombey-les-Deux-Églises, wo er sich mit seinen Memoiren beschäftigt. Natürlich entgeht ihm die von Putsch-Gerüchten gesättigte Atmosphäre in der Pariser Elite keineswegs. Jede Woche reist er in die Hauptstadt, pflegt Kontakte und weiß stets genau Bescheid über die Stimmung bei Politikern in Paris wie Militärs in Algier. Bedingungslose Anhänger de Gaulles – darunter Roger Frey, Jacques Foccart, Michel Debré – empfehlen sich als Strippenzieher für die politischen Ambitionen des Generals. Jeder weiß: Diese werden nur am Rande der Legalität – etwa im Schatten eines Militärputschs – Erfolg haben, sprich: im Sinne de Gaulles von günstigen Umständen abhängen. Dass es dazu kommt, dafür will sich Jacques Chaban-Delmas verwenden, Verteidigungsminister in der Regierung von Félix Gaillard und agiler Bürgermeister von Bordeaux.

Für die heutige historische Forschung gibt es keine ernsthaften Zweifel, dass de Gaulle genau gewusst oder wenigstens mit einiger Sicherheit geahnt hat, was in den „algerischen Putschistenküchen“ – so der De-Gaulle-Biograf Johannes Willms – gedacht und geplant wurde. Mit einer diffusen Rhetorik der „Umstände“ umhüllen de Gaulle und seine Vertrauten, was sie vorhaben. „Alles hängt davon ab, wie sich die Dinge darstellen“, erklärt der General. Gemäß dieser Devise ist er in der Lage, Zweideutigkeiten, die situativ als Zustimmung oder Absage zu verstehen sind, zu formulieren und unerkannt im Hintergrund die Fäden zu ziehen. So lässt er „die Dinge“ in eine Richtung treiben, die ihm nützt.

Am 13. Mai 1958 kommt es nach einer Demonstration in Algier zur offenen Rebellion gegen Paris. General Massu verkündet die Bildung eines Wohlfahrtsausschusses und verlangt von Staatspräsident Coty eine Wohlfahrtsregierung in Paris. Nur dann sei es möglich, Algerien dem Mutterland zu erhalten. Der frisch gewählte Premier Pierre Pflimlin überträgt am gleichen Tag die gesamte zivile und militärische Gewalt an General Salan. De Gaulle spricht von „den Sorgen des kämpfenden Heeres“, distanziert sich aber nicht von den putschartigen Vorgängen in Algier. Stattdessen bringt er sich als „ersten Widerstandskämpfer des 18. Juni 1940“ in Erinnerung, als sein Weg nach der Kapitulation Frankreichs ins Londoner Exil führte.

Zum Musterbeispiel für die sphinxhafte Rhetorik de Gaulles wird seine Rede vom 4. Juni 1958 in Algier, als er vor einer riesigen Menschenmenge spricht. Sie besteht aus Algerienfranzosen („pieds noirs“), die unbedingt wollen, dass Algerien als Kolonie gehalten wird, und ebenso vielen gebürtigen Algeriern muslimischen Glaubens, die ihr Land aus der Umklammerung Frankreichs befreien wollen. De Gaulle spricht über die Front zwischen seinen Zuhörern hinweg und sagt: „Ich weiß, was hier vorgegangen ist. Ich sehe, was ihr tun wolltet. Ich anerkenne den Weg, den ihr eingeschlagen habt, als den der Erneuerung und der Brüderlichkeit.“

Brüderlichkeit? Wenn Krieg herrscht in Algier? Täglich explodieren Sprengsätze, Menschen sterben, werden entführt und gefoltert, skrupellose Militärs regieren und bereiten einen Staatsstreich vor. Gewiss – de Gaulle selbst ist kein Putschist, obwohl er Tage zuvor Salans Emissäre in Colombey empfangen hat. Und, wie gesagt, er weiß genau, was in den „Putschistenküchen“ angerührt wird. De Gaulle verdankt dem Zusammenspiel mit der Armee und den Putschisten vom 13. Mai seinen Aufstieg – nur wird er sie nicht belohnen, sondern fallenlassen. Bei seiner Rede in Algier wählt de Gaulle die Worte so, dass er für jeden Satz sowohl von den Algerienfranzosen als auch den Unabhängigkeitsanhängern Applaus erntet. Zum Schluss breitet er die Arme weit aus, als wolle er Franzosen und Algerier gleichermaßen ans Herz drücken, und deklamiert den legendären Satz: „Je vous ai compris!“ (Ich habe euch verstanden!). Womit Gegensätzliches gemeint ist: für die einen Fortsetzung von Krieg, Folter und Terror, für die anderen Frieden und Unabhängigkeit.

Was sich um die gleiche Zeit in Paris abspielt, spielt de Gaulle in die Karten. Nach dem Rücktritt der Regierung Pflimlin hat Staatspräsident René Coty am 29. Mai „den Erlauchtesten der Franzosen“ gebeten, eine Regierung zu bilden und dem Parlament mit Rücktritt gedroht, falls es dem Wunsch nicht folgt. De Gaulles kalkulierter Umgang mit den Putschisten geht auf. Er erwirkt Sondervollmachten für den Krieg in Algerien, die Ausschaltung des Parlaments für mehrere Monate und den Auftrag, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Sozialisten und Kommunisten protestierten vergeblich. De Gaulles Regierung erhält fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit und kann sechs Monate lang ganz ohne Verfassung und Legislative per Dekret straff durchregieren.

Ein zweiter Putsch der Generäle in der Nacht vom 21. auf den 22. April 1961, mit dem ein souveränes Algerien in letzter Minute verhindert und der „Endkampf gegen den Kommunismus, den inneren Feind“ angefacht werden soll, kommt zu spät. Getragen von der Untergrundarmee Organisation de l’Armée Secrète (OAS), ist die Meuterei derart dilettantisch vorbereitet und inszeniert, dass sie nach wenigen Tagen zusammenbricht. Denn die Soldaten bleiben überwiegend loyal – im Unterschied zu den vier „pensionierten Generälen“ Raoul Salan, Maurice Challe, Marie-André Zeller (um den sich Oberste wie Massus Stabschef Antoine Argoud und andere Ultras sammeln) und Édmond Jouhaud.

Bezeichnend ist der juristische Umgang mit den Putschisten: Challe und Zeller erhalten Strafen von 15 Jahren, werden jedoch 1968 von de Gaulle ebenso amnestiert wie der zunächst zum Tode verurteilte Salan. Auch die Höchststrafe gegen Jouhaud wandelt de Gaulle in eine Gefängnisstrafe um. Der sozialistische Präsident François Mitterrand wird ihn 1982 rehabilitieren.

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