„Schnauze voll“: Industriearbeiter sind keine dressierten Gorillas
Arbeitsfreude Obwohl es Millionen Arbeiter gibt, sind ihre Alltagsprobleme in Vergessenheit geraten – und sie fühlen sich abgewertet. Dabei könnte in der Aufwertung der Industriearbeit ein Schlüssel für die Transformation liegen
11,3 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im produzierenden und im Baugewerbe, in Land-, Forstwirtschaft sowie Fischerei
Foto: Paul Langrock/laif
Was meinen Sie: Wie viele Arbeiter gibt es? Auf diese Frage hin herrscht langes Schweigen. Dann wagt sich eine mutige Studentin vor: 200.000. Mehrere Studenten protestieren. „Nach einigem Hin und Her einigt man sich auf 1,5 Millionen“, so erzählen die französischen Soziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux aus ihrer Vorlesung. Eine treffende Anekdote über die Arbeitsvergessenheit an den Universitäten. Dabei stehen Industriearbeiter im Zentrum radikaler Veränderungen: Was Dekarbonisierung der Arbeit bedeutet, erleben sie jeden Tag hautnah. Mit ihren Erfahrungen kommen sie in der Öffentlichkeit jedoch kaum vor. Das nährt ein Abwertungsempfinden: „Ich bin mein Leben lang Arbeiter. Ich kenne es nicht anders. Aber es sind halt Begriff
ifflichkeiten, wo man sich ganz schnell auch degradiert fühlen kann“, so berichtet ein VW-Beschäftigter. Dabei könnte in der Anerkennung der Probleme in der Industriearbeit ein wichtiger Schlüssel zu der Frage liegen, wie Arbeiter für die Gestaltung der Zukunft zu gewinnen sind.Schauen wir auf das VW-Werk Kassel in Baunatal. In diesem Komponentenwerk des Konzerns mit seinen mehr als 16.000 Beschäftigten findet sich eine facettenreiche Arbeitsrealität, verrichtet von Beschäftigten mit mehr als 40 verschiedenen Migrationshintergründen. Dabei ist es für viele in der Gegend bereits ein Glücksfall, beim „besten Arbeitgeber der Region“ unterzukommen: In der regionalen Dienstleistungsökonomie ist Arbeit häufig prekär und schlecht bezahlt. Ein guter Schulabschluss ist Minimalbedingung dafür, bei VW unterzukommen. Nahezu die Hälfte der Auszubildenden hat Abitur.Die Arbeit ist körperlich teils hochanstrengend: Metallfahrer transportieren flüssiges Aluminium in großen Tassen. Diese „Ritter der Gießerei“ seien am Ende des Arbeitstags erschöpft. „Da bleibt nicht mehr viel übrig für Privates“, berichtet ein IG-Metall-Vertrauensmann. In der Getriebemontage hingegen sind viele Beschäftigte von moderner, digitalisierter Technik umstellt. Produziert werden Teile für Antriebe aller Marken des Konzerns, und das weltweit. Im Wettbewerb mit externen Anbietern zählt die täglich produzierte Stückzahl. Gearbeitet wird in Teams mit Sprechern, die von den bis zu 30 Teammitgliedern gewählt werden.Charlie Chaplin, aber mit KopfDas Wahlprinzip ist ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen die Humanisierung von Industriearbeit in greifbarer Nähe zu sein schien. Vom „Ende der Arbeitsteilung“, wie sie die Arbeitssoziologen Horst Kern und Michael Schumann in den 1980er Jahren zu erkennen glaubten, ist jedoch nicht viel geblieben. Gearbeitet wird an verketteten Stationen mit stark reduzierten Inhalten. Ausführende Tätigkeiten sind in kleinste Operationen zerlegt und werden in rigide Zeitvorgaben gezwängt. „Jede Station ist getaktet. Wir haben einmal eine automatische Station, die wirklich alles komplett alleine macht. Die liegen aktuell bei 27 Sekunden. Und Handarbeitsplätze, aktueller Stand: 30 Sekunden. Das ist eigentlich in allen Schichten, in allen Bereichen dasselbe“, berichtet ein Maschinenführer bei VW.Als „dressierten Gorilla“ hatte der italienische Marxist Antonio Gramsci den Typus des Massenarbeiters in der Fließfertigung einst bezeichnet. Dabei schwang die Hoffnung mit, die Arbeit am Fließband werde den dort Tätigen den Kopf für revolutionäre Gedanken frei machen. Das war zu optimistisch. Zwar berichten auch Baunataler Arbeiter, dass sie nach längerer Eingewöhnungszeit „automatisch“ arbeiten und auch mal an anderes denken, doch der aufwendige Maschinenpark und die rigide Kontrolle zwingen immer wieder dazu, den Kopf einzuschalten. Charlie Chaplin in den Modernen Zeiten gibt es so nicht mehr.Der komplexe Maschinenpark ist störanfällig. Kleine Probleme werden von den Arbeitenden selbst gelöst. Sind die Störungen gravierender, müssen Spezialisten ran. Alle Tätigkeiten ausüben zu können, ist ein hoher Anspruch, der sich nur schwer verwirklichen lässt: „Ich habe selber Stationen, da schaffe ich die Taktzeit nicht. Das funktioniert einfach nicht, weil man gefühlt zu dumm ist“, berichtet ein Arbeiter aus der Getriebefertigung.Zum Aufstören von Routinen trägt ein Dreischichtsystem bei, das Arbeitern ein Höchstmaß an Flexibilität abverlangt. Regulär wird fünf Tage die Woche in drei verschiedenen Schichten gearbeitet: „Spät, früh, Nacht. Jetzt sind die Bedarfe aber so hoch, dass Pflichtschichten angesetzt werden. Das heißt: zwölf Tage am Stück arbeiten“, schildert ein Teamsprecher. Selbst wenn man samstags nur Frühschicht arbeite, seien die wenigsten vor 15 Uhr zu Hause. Der ständige Schichtwechsel belastet. Im Grunde, so der Tenor vieler Befragter, sei die Arbeitszeit verlorene Lebenszeit: „Zwölf Tage am Stück zu arbeiten, in drei Schichten zu arbeiten, auch Feiertage zu arbeiten. Das wirkt sich negativ auf das Privatleben, auf die Familie aus.“ Der vergleichsweise gute Verdienst sei „ein bisschen Schmerzensgeld“: „Ich habe von einigen Kollegen mitbekommen, dass halt auch langjährige Ehen kaputtgegangen sind. Eben aufgrund der Anforderungen von Schichtarbeit, ständig wechselnd.“Leiharbeit bei E-Autos, Kurzarbeit bei VerbrennernDie Transformation der Arbeitsprozesse radikalisiert solche Erfahrungen. Während die Herstellung von Getrieben für Verbrenner personell abgeschmolzen wird, fahren die neuen Bereiche für E-Fahrzeuge Überstunden und Sonderschichten. Geht der eine Bereich in Kurzarbeit, wird der Personalbedarf des anderen teils durch Leiharbeitskräfte gedeckt. In dezentralen Betriebsversammlungen müssen Betriebsmitglieder und IG-Metall-Vertrauensleute den Betroffenen diese komplexe Arbeitswirklichkeit erklären. Arbeitsroutine kann sich kaum einstellen. Formal betrachtet reicht die Freizeit aus, doch faktisch schwinden frei verfügbare Zeitbudgets und die Planbarkeit des Alltagslebens.Kann man angesichts derart rigider Arbeitsbedingungen glücklich sein? Man muss, antwortet ein ehemaliges Betriebsratsmitglied. Niemand könne auf Dauer mit seiner Arbeit total unzufrieden sein. Bandarbeit sei anstrengend, aber auszuhalten. Was sich entwickelt, ist eine Art destruktiver Arbeitszufriedenheit: „Das ist ja der absolute Widerspruch. Alle Dreischichtler saufen, rauchen, alle fühlen sich als die stärksten Helden der Welt. Aber wenn du dann mal in die Krankenakten guckst, ist das natürlich eine Katastrophe! Wenn du fragst, wie es dem Körper geht, und wie ist es mit deiner Verdauung, wie ist es mit Schlafen, und was macht der Kreislauf? Dann sagen alle: Hör mir bloß auf. Ich hab die Schnauze voll bis zum Anschlag“, berichtet ein Interessenvertreter.Angesichts des Glücks, überhaupt bei VW arbeiten zu dürfen, reagieren Bandarbeiter gereizt auf Aktionen der Klimabewegungen. Kaum ein Beschäftigter zweifelt daran, dass etwas gegen den Klimawandel getan werden muss – die Klimabewegung selbst tun viele Befragte jedoch als „Modeerscheinung“ ab. Als Klimaaktivisten in Wolfsburg mit einem gefälschten IG-Metall-Logo zu einer Versammlung eingeladen haben, bei der die Vergesellschaftung des VW-Werks und die Umstellung auf die Produktion von Straßenbahnen diskutiert werden sollte, empfanden dies viele Arbeiter als zusätzliche Abwertung, ausgeübt von Personen, die von der Komplexität und den Anforderungen industrieller Produktionsarbeit kaum etwas verstehen. Die Empörung der Industriearbeiter verweist auf ein grundlegendes Problem: Routinisierte Bandarbeit fördert, was der Philosoph Günther Anders als Trennung von Produktion und Gewissen bezeichnet hat. Gleich, was der Arbeitende produziert, ob Giftgas oder Teile für einen SUV, ein Gewissen braucht er dafür nicht: Konformismus kann sich in zerlegter, monotoner Teilarbeit besonders gut verfestigen.Forderungen nach einem radikalen Umbau der Autoindustrie werden in den Belegschaften nur dann Gehör finden, wenn die vergessenen Debatten um eine Humanisierung der Industriearbeit wiederbelebt werden. „Demokratiezeit“ fordert Christiane Benner, Kandidatin für den IG-Metall-Vorsitz: jede Woche eine Stunde für die Diskussion relevanter Themen während der Arbeitszeit. Die selbstzerstörerische Zufriedenheit in konstruktive Arbeitsunzufriedenheit zu verwandeln, das wäre eine Voraussetzung für die nachhaltige Industrie der Zukunft.