Expedition Grundeinkommen: Sozialsysteme werden damit nicht gerechter

Umverteilung Per Volksbegehren will eine Initiative „Expedition Grundeinkommen“ erreichen, dass Berlin das bedingungslose Grundeinkommen testet. Leider vergisst sie dabei die Dimension der Sorgearbeit
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 33/2022

In Berlin hängen derzeit eine Menge rosa Plakate in den Straßen. „Mehr Gründer*innen“ steht darauf. Oder auch: „Mehr Glücksgefühle“, und: „Mehr Sex“. Worum geht’s? Ein neues Sextoy-Start-up im hippen Berlin? Nein, es handelt sich um eine Plakataktion der Initiative „Expedition Grundeinkommen“.

Per Volksentscheid möchte sie einen staatlich finanzierten und wissenschaftlich begleiteten Modellversuch zum Grundeinkommen durchsetzen. Die Plakate sollen dabei helfen, dass die nötigen 240.000 Unterschriften bis zum 5. September zusammenkommen. Wenn das Vorhaben glückt, könnten die Berliner*innen über den Gesetzentwurf der Initiative abstimmen. Der sieht vor, dass 3.500 Berliner*innen drei Jahre lang ein bedingungsloses Grundeinkommen vom Land Berlin erhalten.

Das Bürgergeld reicht nicht

Das klingt prima. Noch sind es etwas über 70.000 Unterschriften, aber vielleicht wird in Berlin bald erprobt, wie eine tatsächliche Alternative zur Hartz-IV-Armutsmaschinerie aussehen kann. Denn die bisherigen Reformpläne der Ampel-Koalition zur Abschaffung von Hartz IV sind enttäuschend. Das neue Bürgergeld sieht nur kleine Verbesserungen vor: In den ersten zwei Jahren des Bezugs soll unter anderem ein Umzug in eine kleinere Wohnung nicht mehr erzwungen werden. Weiterbildungen sollen Vorrang vor Aushilfsjobs haben.

Ansonsten bleibt vieles beim Alten: Mit Bürgergeld sollen Sanktionen wieder möglich sein, bis zu 30 Prozent könnten ab Juli 2023 wieder gekürzt werden. Mehr Geld wird es nicht geben. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) schlägt zwar vor, die Berechnungsgrundlage so zu verändern, dass sich der Regelsatz um 40 bis 50 Euro monatlich erhöht. Derartige Minibeträge werden aber voraussichtlich restlos von der Inflation geschluckt. Schon jetzt reicht das Geld bei vielen noch nicht einmal mehr für Grundnahrungsmittel. Jessica Tatti, Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, rechnete bereits im Juni vor, dass den Hartz-IV-Empfänger*innen durch die Inflation 33 Euro im Monat fehlten, täglich seien aber nur knapp fünf Euro für Nahrungsmittel veranschlagt: „Die Inflation bedeutet für Leute in Hartz IV rechnerisch: Sechs Tage kein Geld für Essen.“

Bei einem solchen sozialpolitischen Siechtum wirkt das bedingungslose Grundeinkommen wie ein rettendes Wunderelixier. Doch wie bei jeder Medizin sollte man den Beipackzettel gründlich studieren. Zwar verspricht die Initiative „Expedition Grundeinkommen“ auf einem ihrer Plakate „Weniger Existenzangst“ – begibt man sich jedoch ins Kleingedruckte der Kampagne, stolpert man über die Formulierung, dass „mindestens die Hälfte der getesteten Varianten“ so ausgestaltet sein muss, dass das Grundeinkommen „für erwachsene Teilnehmende mindestens 1.120 Euro und für minderjährige Teilnehmende mindestens 560 Euro beträgt“. Wer den Berliner Wohnungsmarkt kennt, weiß, dass locker die Hälfte eines bedingungslosen Grundeinkommens in dieser Höhe für die Miete draufgeht.

Angesichts steigender Lebensmittelpreise und Energiekosten ist es mehr als fraglich, ob man mit 1.120 Euro am Ende tatsächlich weniger Existenzangst verspürt als mit dem ebenfalls viel zu knappen Hartz-IV-Satz. Immerhin bleiben einem mit einem Grundeinkommen die Demütigungen und Schikanen beim Jobcenter erspart. Wer mit dem Grundeinkommen an der Armutsschwelle entlangschlittert, muss dafür aber möglicherweise Gängelungen in einem der Jobs ertragen, die der inzwischen gut ausgebaute deutsche Niedriglohnsektor bereithält. Oder man versucht doch noch Wohngeld zu beantragen oder anderweitige Mehrbedarfe geltend zu machen – allerdings geht dann der ganze Papierkrieg wieder los. Und damit will das Grundeinkommen doch eigentlich Schluss machen. Laut einem Plakat mit einer niedlichen Schnecke, die wohl die langsame Bürokratie darstellen soll.

Ein anderes Plakat verheißt: „Mehr Zeit für Oma“, darunter eine Kaffeetasse. Es ist das einzige Plakat, das auf die Sorgearbeit anspielt. Dabei zielt gerade die Sorgearbeit ins Zentrum des zerfallenden Sozialstaats, der mithilfe des bedingungslosen Grundeinkommens gerettet oder gar neu aufgebaut werden soll. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, erhofft sich von solch einem Modellversuch, zu erfahren, „wie die Umgestaltung der Sozialsysteme in Deutschland in Zukunft gelingen kann“.

Kaffeekränzchen für Kreative

Doch wer die Sozialsysteme umgestalten will, muss eine Debatte darüber führen, woran sie derzeit kranken. Um beim Beispiel der Oma zu bleiben: In Deutschland werden 70 Prozent der Pflegebedürftigen im eigenen Zuhause gepflegt. Angehörige, ambulante Dienste oder osteuropäische Migrantinnen, die dauerhaft bei den Pflegebedürftigen wohnen, kümmern sich um diese Menschen. Doch egal, wo und wie: Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal, die finanzielle Situation der Pflegenden und Gepflegten meist ebenso. In einer Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aus dem Jahr 2018 gaben 78 Prozent der pflegenden Angehörigen an, sich psychisch stark oder sehr stark belastet zu fühlen. Mehr als die Hälfte sagte, sie sei körperlich am Limit. Neben der Pflegearbeit als solcher zermürbt der bürokratische Stress die Angehörigen: Pflegeleistungen werden nur schleppend bewilligt, oft reicht das Geld nicht. Im Bereich der professionellen Pflege sieht es nicht viel besser aus.

Um mit der Oma einen Nachmittag zu verbringen, sich also um ihre sozialen und emotionalen Bedürfnisse zu kümmern, braucht es aber Zeit. Weil die Pflege – politisch gewollt – dem profitorientierten Markt überlassen wurde, wird jetzt an dem gespart, was die Rendite gefährdet, vor allem am Personal. So hetzen Altenpflegerinnen durch die Heime und können oft trotzdem nicht verhindern, dass die Alten stundenlang in ihrem Kot liegen.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen knapp über der Armutsgrenze kann gegen all das wenig ausrichten. Eher bräuchte es ein einkommensunabhängiges Pflegegeld, das alle Bedarfe deckt, und eine Bürokratie, die Angehörige nicht sabotiert, sondern unterstützt. Gleiches gilt für Heime und ambulante Dienste: Was gebraucht wird, muss finanziert werden – auch wenn es keinen Profit abwirft und sich betriebswirtschaftlich nicht „lohnt“. Das kostet natürlich Geld. Insofern geht es bei der Frage nach einer sinnvollen „Umgestaltung der Sozialsysteme“ auch darum, wie der gesellschaftliche Reichtum gerechter verteilt werden kann. Ein erster Schritt wäre eine höhere Steuer auf die Profite renditestarker Sektoren wie Versicherungen und Banken. Denn ohne sich bislang an den Kosten beteiligen zu müssen, profitieren diese Sektoren indirekt davon, dass Pfleger*innen, Angehörige und Migrantinnen kaum oder schlecht bezahlt den Laden am Laufen halten. Stimmen aus dem Umfeld der feministischen Ökonomie fordern seit Längerem, nicht nur über die Ökosteuer nachzudenken, sondern auch Care-Abgaben einzuführen.

Diese Umverteilungsfragen müssten im Zentrum stehen, wenn die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen einen Betrag zur Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft leisten möchte. Eine Kampagne, die dem Berliner Kreativmilieu das Grundeinkommen mit Glücksgefühlen und gelegentlichem Kaffeekränzchen mit der Oma schmackhaft machen möchte, verfehlt die eigentlichen Zukunftsfragen.

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