Betroffenheit in Echtzeit

Frankreich Die Notre-Dame-Katastrophe in Paris bot wieder eine vorzügliche Gelegenheit für den „Live-Journalismus“, sich nach Herzenslust zu blamieren
Der Berichterstattung vom Brand der Kirche Notre-Dame war an pietätlosen Nichtigkeiten schwer zu überbieten
Der Berichterstattung vom Brand der Kirche Notre-Dame war an pietätlosen Nichtigkeiten schwer zu überbieten

Foto: Francois Guillot/AFP/Getty Images

Das Brandinferno an der Seine wirft wieder einmal die Frage auf, ob „wir“ – wer immer das auch sei – aus Katastrophen, Anschlägen und Unfällen etwas lernen. Sie ist so alt wie jene, was denn die Geschichte lehre. Die Maxime, dass die „Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens“ („historia magistra vitae“) sei, wie Cicero und vor diesem der griechische Geschichtsschreiber Polybios meinten, taugt nur noch für den Lateinunterricht.

Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert gilt Geschichte als gemachte, die keinem wie auch immer bestimmten Plan folgt und keine Muster oder Modelle liefert für das Handeln in der Gegenwart oder in der Zukunft. Geschichte ist ein „planloses Aggregat“ (Kant) von menschlichen Handlungen. Die neuzeitlich bewegte Geschichte – so der Historiker Reinhart Koselleck – zersetzt den „überkommenen Erfahrungsraum, der bislang von der Vergangenheit her determiniert schien“ und installiert an dessen Stelle die Machbarkeit und Planbarkeit der Zukunft.

Informationsfreier Brei

Die Berichterstattung über Katastrophen, Anschläge und Unfälle in den Medien quasi in Echtzeit bleibt meilenweit hinter solchen Einsichten zurück. In den Berichten über den Brand in der Kathedrale von Notre-Dame in Paris war das gestern Abend wieder exemplarisch zu besichtigen. Die Live-Gespräche von Moderatoren mit Berichterstattern vor Ort bei der ARD und bei Phoenix bis hinunter zu RTL und ntv waren eine Mischung aus Nichtigkeiten und Projektionen von früheren Ereignissen auf das aktuelle Geschehen in Paris. Es gab völlig bodenlose Spekulationen über die Brandursachen und ein erbärmliches Reporter-Gestotter über das, was jeder Zuschauer im Bild genauer erkennen konnte.

Der fast informationsfreie Brei wurde garniert mit Statements von Politikern, die auch nichts wussten, aber notorisch „betroffen“ waren. Der mit Trauerreden-Pathos verkündete Verlust von unschätzbaren Kunstwerken, einschließlich der Dornenkrone Christi, stellte sich weniger als zwölf Stunden später als Chimäre heraus. Nichts von dem war verloren, was schon als verloren galt.

Es fehlte nur noch der Hinweis, der „Islamische Staat“ hätte sich bereits zur Brandstiftung in der Osterwoche bekannt. Den Vogel schoss der österreichische Sender ORF ab, der es fertigbrachte, den Wiener Kardinal vor dem Stephansdom zum Brand dieses Doms am 12. April 1945 zu interviewen. Als Verursacher gelten – je nach Perspektive – die Waffen-SS, eine Gruppe von Plünderern oder die sowjetische Artillerie.

Was „wir“ daraus lernen? Mit Sicherheit nur eines: Jede Katastrophe, jeder Terroranschlag, jeder große Unglücksfall ist vor allem eine Gelegenheit für den „Echtzeit-Journalismus“, sich erneut zu blamieren.

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