In China sorgt der Spielfilm „YOLO“ für Furore und eine Abstimmung mit den Füßen
Paradigma Der Film „YOLO – You only live once“ verschafft einer Generation Geltung, die mit der Opferbereitschaft ihrer Eltern und Großeltern nicht mehr viel anfangen kann. Womöglich hat China mit diesem Plot seinen eigenen „American Dream“ gefunden
In der Millionenstadt Nanning posiert ein Mann zu Beginn des neuen Mondjahres des Drachens vor dem Filmplakat mit Regisseurin und Hauptdarstellerin Jia Ling.
Foto: Getty Images
Zwölf Jahre nachdem Präsident Xi Jinping anlässlich einer Ausstellung des Nationalmuseums den „chinesischen Traum“ als Weg der gesellschaftlichen Verjüngung erklärt hat, nimmt diese Maxime populäre Gestalt an. Gegenwärtig erzielt in China ein Spielfilm mit dem Titel YOLO an den Kinokassen regelmäßig Tagesumsätze von bis zu 430 Millionen Yuan (knapp 60 Millionen Euro), weil er diesen Traum im Leben verankert. Der international mit dem Akronym YOLO – You only live once (Du lebst nur einmal) – übersetzte Titel drückt das Lebensgefühl junger und mittlerer Generationen aus, die mit der Opferbereitschaft ihrer Eltern und Großeltern nur noch wenig anfangen können.
Es greift allerdings zu kurz, hier e
t allerdings zu kurz, hier eine Variante der abgedroschenen „Selbstverwirklichung“ zu erwarten. Im chinesischen Original wird deutlich, dass es nicht nur um eine Komödie geht, sondern gleichzeitig um ein Drama. Trotz einiger Momente gefühligen und gefälligen Kitschs handelt es sich zugleich um eine harte, bittere, realistische Charakterstudie.Das Original – Re la gun tang – bedeutet auf Chinesisch etwa „heiß und scharf aufkochen“ und sinngemäß „selbst seines Glückes Schmied sein“. Womit auch das „Schmieden“ des Charakters gemeint und wörtlich zu nehmen ist. Dieser Weg zu einem hilfreichen Selbstverständnis ist schmerzhaft und aufreibend.Erzählt wird ein Jahr aus dem Leben von Leying. Wir lernen sie als fett, faul und trampelig kennen. Leying ist 32 Jahre alt, in diesem Alter setzt traditionell die eheplanerische Torschlusspanik ein. Sie verliert ihren Freund an die beste Freundin, wird öffentlich gedemütigt, bis sie sich – nach einem Streit mit der hübsch fleißigen Vorzeigeschwester – in ihr Schicksal fügt. Auf eigene Faust verlässt Leying die elterliche Wohnung und nimmt einen Kellnerjob an. In der Hauptrolle gibt Comedy-Star Jia Ling der Figur ein Charisma, das hin und her reißt, zwischen Melancholie, Selbsthass, Wut und Trotz pendelt.Begeisterung in Chinas sozialen MedienAls Leying in einer surrealen Szene einen Preisboxer kennenlernt, den sie beim „Gassenpinkeln“ versehentlich mit dem Autoscheinwerfer anblinkt, findet sie ihren Steigbügel. Der rückgratlose Boxer Hao Kun, dem der Schauspieler Lei Jiayin ein ironisch gemeintes Heldenpotenzial verleiht, spiegelt zunächst Leyings innere Verlorenheit. Mackerhaft zupackend, erhebt er sich kurz aus seiner Lethargie, um die frisch Verliebte dann so sehr zu enttäuschen, dass sie sich in Selbstmordgedanken flüchtet. In einer symbolisch starken Reminiszenz an Wind of Change fliegt Leying ein Ausweg aus ihrer vermurksten Existenz entgegen, als ihr das Werbeplakat für einen Boxclub ins Gesicht flattert. Sie unterwirft sich dem Regime eines Boxtrainings.Es folgt eine Kette bizarrer und ebenso rührender Szenen, in denen die zugleich Regie führende Jia Ling die alltäglichen Absurditäten mit tiefer Sympathie, Humor und Leichtigkeit erfasst und dabei Verlierern, Karrieristen oder Verwirrten ihre Menschlichkeit lässt. Was dann passiert, ist eine Verflechtung von inszeniertem Spiel und biografischer Dokumentation. 50 Kilogramm Körpergewicht trainiert sich Leying beziehungsweise Jia Ling ab. Über das Jahr wird aus dem Trauerkloß, der wie ein Wonneproppen wirken kann, eine entschlossene, kantig gestählte Selfmadefrau. Sie stellt sich einem aussichtslosen Kampf und zeigt, was sie gelernt hat. Und wer nach fairen Regeln kämpft, der erstreitet sich die eigene Würde sogar im Untergang. Weil sie über dieses Fundament verfügt, wachsen Leying Unabhängigkeit und Integrität zu.Chinas soziale Medien reagierten begeistert. Die populäre Kritik-Website Douban bewertete den Streifen nach den ersten vier Tagen, die er in den Kinos lief, mit acht von zehn Punkten bei mehr als 140.000 Beiträgen, die geteilt wurden. Womöglich hat China seinen eigenen „American Dream“ gefunden: Er handelt nicht vom Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär, sondern von fatalistischer Schwäche und depressiver Selbstzerstörung, woraus schließlich eine Haltung energischer Souveränität entsteht. Einen typischen Kommentar zitiert die South China Morning Post: Jia Lings neue Figur, heißt es da, sei nicht „baiyoushou“, was so viel bedeutet wie einem industriellen Schönheitsideal entsprechend „blass, infantil und dürr“, stattdessen strotze sie vor Kraft. Das inspiriert gewiss auch deshalb, weil die Regisseurin nicht versucht, einer traditionellen Ästhetik zu folgen.Das Ende ist offen. Von Illusionen befreit, mit Stolz und Hoffnung läuft die Heldin in den Abend hinein, allein, aber voller Kraft und Sehnsucht, nicht der Einsamkeit mit sich selbst überlassen. Diese vielschichtige Erzählung ist nicht nur Stand-up-Comedy oder die Geschichte eines inneren Aufstands, die ohne Pathos eine Miniatur menschlicher Widersprüche zeichnet. Indem das Happy End ohne Hochzeitsglocken auskommt, weckt dieser Film unsere kulturelle Neugier. Natürlich kann man auch Klischees der Sorte bemühen, dass der Weg das Ziel sei, da braucht es keine Moral. Oder man erkennt die Botschaft eines individualistischen Boxer-Aufstands gegen die Überforderungen der Moderne. Man kann den beschriebenen Charakter außerdem als Chinas Antwort auf europäische Projektionen lesen – sie als feminin, harmonisch und kollektivistisch interpretieren. All dies schwingt sicher irgendwo mit. Aber die Kunst erschöpft sich nicht in technischer Funktion, politischer Message, ästhetischem Ideal oder pädagogischem Appell. Sie wächst über all dies hinaus und berührt dadurch die elementaren Instinkte des geistigen Menschen. Sie tut es über kulturelle Grenzen hinweg.Zum Beginn des neuen Mondjahres des DrachensDer Zeitpunkt, zu dem dieser cineastische Erfolg stattfand, war der Beginn des neuen Mondjahres des Drachens, das diesmal im Zeichen des Holzes steht. Mit dem Drachen erweitert sich der chinesische Tierkreis ins Mythologische, als transzendente Quelle von Macht und Weisheit. In der Wandlungsphase „Holz“ verbindet er sich mit der Triebkraft des Lebens, aus der alles sprießt und grünt. Hunderte Millionen Chinesen sammelten sich zu diesem Anlass in ihren existenziellen Bezugsräumen, den alten Familienstätten. Das öffentliche und das Wirtschaftsleben waren auf Winterschlaf gestellt. Über zwei Wochen hinweg fand nur das Nötigste an Normalität statt. Aus dieser Einkehr und Sammlung heraus stellte man sich neu auf, reinigte Herz und Heim, um vorbereitet zu sein, mit ganzer Kraft in den Frühling zu starten.Ein Augenblick des Wachseins für das Große und Ganze. Hier kam Jia Lings Parabel von der Chance, aus Schaden klug zu werden und dem antiken Weg der Selbstkultivierung ein modernes Gesicht zu geben, gerade recht. Motive der klassischen Philosophie nehmen persönliche Gestalt an und verweisen auf analoge Muster im Schicksal der Nation. Sie besagen: Fitness ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck eines Charakters und Voraussetzung dafür, in einer unübersichtlichen Welt selbstbestimmt zurechtzukommen. Sich im Kampf mit der Wirklichkeit zu stärken, das ist der einzige Weg gegen die Versuchungen der Herde und des Verharrens in Untätigkeit – ob in der grellen, klebrigen Großstadt oder in einer von Lüge und Gier vergifteten Welt: Sein Glück schmiedet, wer weder Feuer noch Fehler scheut.Jia Ling: Kommerziell erfolgreichste Regisseurin des LandesJia Ling wurde vor drei Jahren zur kommerziell erfolgreichsten Regisseurin des Landes. Ihr erster Spielfilm war Hi, Mom – eine realistische Komödie über die 1980er Jahre der Neuorientierung Chinas im Zeichen der 1979 beschlossenen Reformen Deng Xiaopings – und spielte 5,41 Milliarden Yuan (0,7 Milliarden Euro) ein. Die Regisseurin weiß, was sie tut, verfügt dabei über die künstlerischen und materiellen Ressourcen für gewaltige Ambitionen, die Chinas großer Seele Ausdruck verleihen, da sie das Elementare im Großen und Ganzen nicht vergisst. Im Weg der Leying verbindet sich leichte Unterhaltung mit existenzieller Selbstvergewisserung und Orientierung in glaubwürdiger Weise.Die Zukunft dieses chinesischen Charakters, ob er einsam seinen Weg in der Welt geht oder reifen und fruchtbar werden kann – das ist Schicksal, liegt aber auch in der eigenen Hand. Der Film endet mit der Botschaft: Wenn du nur einmal gewinnst, war es die Mühe wert! So kommt man offenen Herzens ins neue Jahr, das womöglich genug Bitteres bereithält. Ein China, das sich selbst so träumt, sollte man besser nicht unterschätzen, sich ihm weder andienen noch versuchen, es auf Distanz zu halten. Dieses China wartet auf Partner, die geistig, seelisch und materiell reif genug sind, um eine segensreiche Beziehung einzugehen.Placeholder authorbio-1Eingebetteter Medieninhalt
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.