Begegnung in China: Die Schrift als Zeichen der Welt
Tuchfühlung Plötzlich zeigt eine chinesische Briefmarke den Kopf unseres deutschen Autors: Philosoph Ole Döring erzählt von einer persönlichen Begegnung mit dem Maler Gui Guorong in China und ihren Folgen
Ole Döring schwimmt unter der Büste Maos vor der Mandarinen-Insel (links)
Foto: Ole Döring
Auf einer chinesischen Briefmarke abgebildet zu werden, Derartiges passiert wohl nicht vielen Ausländern in der Volksrepublik. Nun sehe ich meinen Kopf auf einer Marke, die soeben zum 130. Geburtstag von Mao Zedong in Chinas Sonderverwaltungszone Macau erschienen ist. Zum Nennwert von sechs Pacata – das sind umgerechnet knapp 70 Euro-Cent – kann man „mich“ ab sofort kaufen. Die Briefmarke ist zusammen mit 21 weiteren Motiven Teil eines Sets des aufstrebenden Kunstmalers Gui Guorong.
Die Geschichte begann damit, dass ich im April 2022 an der Hunan-Shifan-Universität in Changsha ankam, um dort meine Professur anzutreten. Da ich die beengenden Corona-Maßnahmen für eine Weile vergessen und den körperlichen Kontakt mit der neuen Heimat aufnehmen w
ufnehmen wollte, ging ich regelmäßig schwimmen. Ich tat dies sowohl in den westlichen Stauseen, die unter Mao Zedong angelegt worden sind, als auch im Xiang-Fluß, der die Zehn-Millionen-Stadt in Richtung Dongting-See durchfließt. Um es den Einheimischen gleichzutun, stürzte ich mich mit einem orangen Luftkissen in den Strom, der mal wild, mal träge unterhalb der berühmten Mandarinen-Insel mit dem jugendlich bewegten Felsbild des Staatsgründers dahinfließt. Dazu fand sich schon 2022 ein kleiner englischsprachiger Beitrag in der von Mao gegründeten Zeitschrift China Pictorial. Andere Flussschwimmer erzählten mir, dass der einstige Revolutionsführer selbst bis ins hohe Alter ein begeisterter Wassertreter geblieben war.Absenz von Farbe und StrichMeine Erkundigungen auf Pfaden der alten und neueren Kulturen Chinas führten mich auch in die Drachentiger-(Longhu-)Berge, eine Wiege des Daoismus mit pittoresker Landschaft und uralter Geschichte in der benachbarten Provinz Jiangxi. Nahe der Stadt Yingtan stieß ich auf den Tuschemaler und Kalligrafen Gui Guorong, der aus einem winzigen Dorf dieser Gegend stammt. Über die Metropolen Shenzhen und Shanghai hatte es ihn nach Norden verschlagen in ein Viertel (Hutong) von Peking. Nach den ersten Eindrücken erfasste mich als einen waschechten Laien – unvorbereitet und wie eine Erhebung – die Begeisterung für seine Kunst. Solche Werke kannte ich bis dahin fast nur aus Büchern oder Museen. In den drei Jahrzehnten meiner Arbeit in China hatte ich die Suche nach Originalen des Zusammenspiels aus Mensch, Natur und Wort, die mir in alten Bänden begegnet waren, schon aufgegeben. Sie hatten mich zu Beginn des Sinologie-Studiums ungemein fasziniert. Die oft schrille politische Malerei, experimentelle Ausdruckskunst oder abstrakten Meisterstücke, die sich mir in den Galerien Pekings oder Shanghais und in internationalen Dokumentationen zeigten, erinnerten allzu sehr an New York oder Paris.Wie sich Wasser und Pflanzen doch noch irgendwann durch Beton zum Licht emporarbeiten, wuchs in mir das Verstehen der elementaren Philosophie und uralten Ausdrucksweisheit, die in dieser Tuschemalerei die Schrift als Zeichen der Welt mit Motiven von Berg und Wasser verbindet. Mein Sinn für Perspektive, „Goldenen Schnitt“ und Proportion ließ sich mit einer neuen Wertschätzung des „Hintergrunds“ versöhnen, der nicht weniger wichtig ist als das Vordergründige. Mein Erstaunen über die Abwesenheit von Farbe, in Flächen und Zwischenräumen, konnte ich auffangen, indem ich mir die Bedeutung des Wu als Eigentliches, Unbestimmtes, Authentisches vergegenwärtigte, das in den philosophischen Lehren vom „Nicht-Eingreifen“ und dem „Leeren Herzen“ ausgeführt ist.Diese Abwesenheit von Farbe und Strich meint nichts Unerledigtes, sondern Offenheit. Der weiße Hintergrund deutet die Vollständigkeit des Möglichen an, wie im weißen Licht alle Farben des Spektrums entfallen sind. So erheben sich die Gestalten und Strukturen aus dem Raum des Noch-nicht in die Geschichte hinein, bleiben jedoch dabei mit diesem verbunden. In dieser Bescheidenheit des Autors, sich selbst als Zwischenglied einzuordnen und zurückzunehmen, indem er dem alt-erprobten Werk seine subjektive Note einhaucht, liegt die Meisterschaft des Malers Gui Guorong.Im Frühjahr 2023 reiste ich nach Peking, um ihn zu besuchen. Seine Interpretation klassischer Stile und Motive hatte mich beeindruckt. Als Kulturphilosoph interessiert mich die besondere Andersartigkeit des Chinesischen und darin die Abweichung von der eigenen Norm. Fische, Reiher und Tiger gewinnen eine menschlich anmutende Mimik durch die minimale Andeutung von Mund- oder Augenausdruck. Pflanzen und Steine transformieren Tiergestalten oder Gesichter. Sparsame Farbtupfer bringen ein Feuer im Busch zum Lodern. Alles geschieht ahnungsweise, unaufgeregt, einladend, gewiss auch einschmeichelnd. Es ist ein Vergnügen, mit offenem Auge und Geist durch diese Tür zu gehen.Und was hat es mit dem Lernen durch das Nachempfinden des rechten Plans und Strichs auf sich? Herr Gui zählt in seiner Kurzvita die Meister und Stile auf, die er studiert hat, indem er sie nachahmt. Mancher chinesische und deutsche Kollege rümpfte die Nase, als grenze dieses Verfahren an geistigen Diebstahl oder sei der Inbegriff des Nicht-Kreativen. Dabei wäre auch die europäische Malerei ohne Kopisten, imitierende und mit-schaffende Meisterschüler ganz undenkbar. Der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) hat das Genie als angeborene Gemütsanlage definiert, „durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“ (s. Kants Schrift Kritik der Urteilskraft von 1790). Der Künstler ist demnach immer Mittler und Werkzeug. In der besonderen Verbindung von Kunst und Natur liegt das Einzigartige des subjektiven Schaffens.Das historische Wissen um das Werden der Kunst als kreatives Miteinander des Einzelnen – Schüler oder Meister – im Gesamtverbund der Kultur, ist eine Erfahrung, die uns miteinander verbindet. Der Stoff und die Konventionen sind allerdings sehr verschieden. Sie mischen und befruchten sich erst seit dem 19. Jahrhundert, auf beiden Seiten: Chinesen malen mit Öl, Deutsche erheben die Tusche, mit Feder oder Pinsel, aus dem Stand einer Skizzentechnik zur hohen Kunst. Es sind besonders chinesische Maler, die aus der Hybridisierung beider Kulturen Honig saugen und der Menschheit Zeugnisse ihres Weltbürgertums schenken.Meister Gui Guorong dagegen bleibt auf der Seite der chinesischen Tradition. Die Sonderausgabe der Zeitschrift Große Maler von 2023 zum Gedenken an den 130. Geburtstag Mao Zedongs würdigt ihn als einen der 18 renommiertesten zeitgenössischen Künstler Chinas. Ich konnte Herrn Gui Ende November 2023 für eine Reise nach Changsha gewinnen. Dort präsentierten und diskutierten wir seine Kunst in einem Universitätsseminar und bei einem internationalen Wirtschaftsforum. Deutsche und chinesische Ansichten begegneten sich, der Hamburger Kunsthistoriker Marc Cremer-Thursby ordnete die ästhetischen Hintergründe und Kontraste ein. So ergiebig und leicht wie heute war es historisch noch nie, über die Vielfalt der Ausdruckswelten ins Gespräch zu kommen.Besonders überraschend für mich war, wie unterschiedlich wir die Bilder „lesen“. Das monumentale Thema des „Ersten Ur-Teils der Welt“, bei dem ich, in Erinnerung an Friedrich Hölderlins Sprachphilosophie und angesichts eines im Hintergrund sonnenbadenden Buddhas, unter dem ein Graben die Welt zerteilt, an große Philosophie, existenzielle Tragik, Yin und Yang denke – entpuppt sich aus der Sicht des Chinesen als Inszenierung eines populären klassischen Shaolin-Stoffes. Bei dem geht es um die Entscheidung eines Novizen zwischen geistlicher Disziplin und natürlicher Vereinigung, der ohne Weiteres mit dem entsprechenden Filmsong – gemeint ist das Lied der Schäferin – in Verbindung tritt. Dies gelingt ohne die drohende Esoterik oder den befürchteten Kitsch orientalistischer Gefälligkeit. Die leichte Hand des Pinsels hebt jedes Pathos auf, die Personen werden auf der einen Seite im pastoralen Idyll vorgeträumt, auf der anderen bis an die Grenze des Skurrilen dramatisiert.Doch zurück zur Briefmarkenserie. Sie widmet sich hauptsächlich dem immer aktuellen Thema „Frieden“. So zeigt das Motiv „Die Friedenstauben“ zunächst eine üppige chinesische Taube. Sie findet sich in einem strotzenden Magnolienbusch, dem Landessymbol für die Reinheit, Dauerhaftigkeit und Kraft der Sonne. Der Titel weist der Interpretation ihre Richtung. Die Tugenden der Friedfertigen dienen der andauernden Arbeit des Ausgleichs der Interessen, die – wie die Kraft des Wassers – unausgesetzte Aufmerksamkeit und Feinsteuerung verlangen. Befriedigte Ruhe wäre ihnen fremd. Dagegen ist die den Busch von oben aus der Leere anschwebende weiße Taube kaum körperlich präsent. Ihr roter Schnabel hält die Andeutung eines Ölzweigs, der nach biblischer Erzählung Noah das Ablaufen der Sintflut verkündet.Wieder begegnen wir einem Wassersymbol: Auf dieses kann der Mensch freilich nur dankbar und erleichtert reagieren. Die durchscheinende Engelsgestalt der weißen Taube aus Westasien erscheint in diesem genialen Arrangement wie eine Denkblase ihrer chinesischen Schwester. Aus dem Miteinander der geistig-abstrakten und lebensvoll-realistischen Gestalten dieser Konzepte könnte die Frucht einer die Kulturen übergreifenden starken Friedenskraft wachsen.Das Briefmarken-Motiv, bei dem ich unter der Monumentalbüste Mao Zedongs vor der Mandarinen-Insel schwimme, entstand gleich nach meinem ersten Besuch bei Meister Gui in Peking. Einige Wochen später, bei meinem nächsten Aufenthalt, konnte ich es entgegennehmen. Seitdem hängt es gerahmt an meinem Arbeitsplatz. Dass es im Herbst in die Kollektion der Sondermarken aufgenommen wurde, erfuhr ich nebenbei durch eine WeChat-Nachricht. Ich hielt es zunächst für einen Scherz. Gui Guorong selbst beschrieb diese Fügung vor Seminarteilnehmern so: „Als Professor Döring an jenem Tag im Juni 2023 nach Peking kam und mir erzählte, dass er im Xiang-Fluss schwimmen geht, war ich inspiriert. So beschloss ich, ihn beim Schwimmen vor der Mao-Statue abzubilden. Wie es der Zufall dann wollte, passte das Thema dieses Bildes, als ich eingeladen wurde, zum Gedenken an den 130. Geburtstag von Mao Zedong ein Motiv für eine Briefmarke vorzuschlagen, sodass ich dieses Bild wählte.“Für mich ist es eine Ehre und Herausforderung, derart dargestellt und gesehen zu werden. Dass mein Name nicht genannt wird, unterstreicht die kulturelle Bedeutung, in der es um eine allgemeine Verbundenheit geht. Gleichwohl erinnert das Thema des Schwimmens daran, wie vergänglich, unwägbar und zufällig jede Prominenz ist. Der Wert dieser Würde ist jedoch höher als ihr Preis.Placeholder authorbio-1
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