Christoph Hein wird 80: Ein Glückwunsch von seinem Freund Wenzel
Literatur Der ehemalige Herausgeber des Freitag Christoph Hein ist einer der bedeutendsten ostdeutschen Schriftsteller. Dieses Jahr feiert er ein Jubiläum: seinen 80. Geburtstag. Liedermacher Hans-Eckhardt Wenzel gratuliert seinem Freund
Auch in seinem 80. Lebensjahr schreibt Christoph Hein stoisch wie ein Beamter Tag für Tag
Foto: Sandra Buschow
Zwischen Bad Düben und Lutherstadt Wittenberg, am Rande der Dübener Heide, liegt ein Gasthof, früher Haltepunkt der Händler mit Pferdewagen, die zur Messe nach Leipzig fuhren und den Räuberbanden in den Wäldern der Heide entkommen waren; in den Nachkriegsjahren Futterstelle für Lkw-Fahrer – ein großes altes Gebäude mit roter Fassade. Dort traf ich mich in meiner Jugend das erste Mal mit Christoph Hein. Er, vom Pfarrhaus mit dem Fahrrad aufgebrochen und ich aus nördlicher Richtung, hatten wir uns zufällig an einem Tisch im Freien getroffen. Es gab Fassbrause für 21 Pfennige. Beide waren wir der Enge deutscher Kleinstädte entflohen, Städte, in die unsere Familien nur zufällig geraten waren. Wir sprachen übe
;ber das Wetter und unsere Lebenspläne. Zwei Flüchtlingskinder. Er, aus Oberschlesien, noch geboren auf der Flucht im letzten Kriegsjahr, dem Hungertod mit Mühe entkommen, ein kleines Kind von irgendwo nach nirgendwo; während ich schon am Endpunkt der Flucht von der anderen Seite des Riesengebirges, aus Böhmen, auf die Welt kam, als meine Eltern sich einzuleben versuchten in der Kleinstadt an der Elbe. Wir sprachen nicht darüber. Das waren keine Themen zu dieser Zeit. Ich wusste auch nicht, dass es Christoph Hein war, mit dem ich sprach. Ich weiß es erst heute. Damals war er ein unbekannter Junge, der so wie ich mit dem Fahrrad aufgebrochen war am Sonntagnachmittag, an dem die Kleinstädte besonders grausam sind. Ich erinnere mich genau.Denn es sind zwei sich ausschließende Dinge, gut zu schlafen und sich gut zu erinnern. Wie viel Wahrheit steckt in unserem Gedächtnis? War es so? War es ein Wunsch, der unsere Erinnerungen überlagert? Was wissen wir über die Geschichte? Christoph Hein versucht es sein Leben lang zu entziffern. Ohne Geschichte ist die Menschlichkeit gelöscht, sagt Horn in dem nach ihm benannten Roman. Und Kruschkatz antwortet: Es gibt keine Geschichte! Und schon entspinnt sich ein Gewirr von Ansichten: Geschichte ist kein historisches Produkt, sondern Werkzeug der Manipulation, weiß Dr. Spodeck zu erwidern. Und die Protagonistin Claudia aus Der fremde Freund ahnt: Die Vergangenheit ist nicht mehr auffindbar. Es geht um die viel beschworene Wahrheit, auf die sich alle Politiker, Priester und Demagogen beziehen. Hier ist Vorsicht geboten. Aber ich bin mir sicher, dass es Christoph Hein war, mit dem ich im Roten Ochsen am Tisch saß. Nicht sicher bin ich mir, ob das Lokal Rotes Ross oder Rotes Haus oder Roter Mond hieß, aber sicher bin ich, dass wir über das Theater sprachen. Wir wollten beide zum Theater. An diesen Wunsch erinnere ich mich sehr genau. Wie viele Jahre mag das her sein?Ein HochzeitsliedDann kannten wir uns viele Jahre und tranken manch Glas miteinander. Als Christoph Hein seine Hochzeit mit Maria Husmann ankündigte, wollte ich, als käme es einer Zauberformel gleich, die Dämonen, Götter und Umstände betören, ihnen für diese neue Phase ihres Lebens genügend Glück zu gönnen. Beide hatten ihren Ehepartner verloren. Der Tod hatte sie ihnen fortgenommen. Die Poesie ist genau für diese Belange zuständig: für Tod und Liebe, jene Phänomene, die wir mit unserem Geist nicht vollständig zu begreifen vermögen.Wenn man einen Menschen, mit dem man lange zusammengelebt hat, verliert, bleibt eine Wunde, die niemals heilen kann. Ich schrieb ihnen also ein Hochzeitslied. Es sollte den alten Schmerz lindern und Hoffnung auf eine neue, gute Zeit befördern. Man braucht für solche Wunder die Versicherung der Geister der Vergangenheit. Mit Liedern gelingt es uns vielleicht, sie in die Gegenwart zu locken, sie um Beistand zu bitten. Uns bleiben nur zwei Arten des Schreibens: Report oder Prophetie. Eine Melodie hatte ich sehr früh für dieses Lied gefunden. Sie erinnerte an einen Schreittanz. Ich spielte die Melodie immer wieder auf dem Flügel. Allein, mir fehlte der Text und ich grübelte lange, welcher Sinn sich unter diesen tänzelnden Tönen verstecken könnte. Das Verhältnis von Text und Musik, wusste schon der alte Hegel in seiner Ästhetik, muss eine Ausgewogenheit ermöglichen, eine Gleichberechtigung. Denn ist der Text zu schwach … mag der Komponist noch so würzen und spicken, aus einer gebratenen Katze wird doch keine Hasenpastete. Aber wie findet man das Zauberwort, von dem Eichendorff wusste, mit dem wir das Lied, das in allen Dingen schläft, befreien können? Welche Worte liegen in einer Melodie versteckt? Den Ton des Hochzeitsliedes hatte ich, den Text noch nicht. Mir fiel die Wortfamilie lindern, linden, Linden, finden ein. Ein schöner Klang. Das harte „I“ wird weich. Ich erinnerte mich an die Vertonung von Franz Schubert, jenen schönen Text von Uhland: Die linden Lüfte sind erwacht … Ich habe es oft gesungen. Die Sechszehntelmelodie auf li-hin-de-hen und schließlich die Achtel: Lüfte. Und die linden Lüfte könnten auch die Lindenlüfte sein. Ich erinnerte mich an den Text von Walther von der Vogelweide: „Under der linden /An der heide/ Dâ unser zweier bette was / Dâ mugent ir vinden / Schône beide / Gebrochen bluomen unde gras / Vor dem walde in einem tal / Tandaradei / Schône sanc diu nahtegal /“ Die Melodie gab ihre ersten Geheimnisse preis. „Wenn sich zweie finden/Ob nun untern Linden / Oder in der Stadt oder auf dem Meer, / Zielen ihre Schritte / Auf der Welten Mitte, / Findet alles sein Wohin und sein Woher. //…“ Dann kam der Tag der Hochzeit und das Lied war bereit, ein Geschenk zu werden.Christoph Hein sitzt mit mir am Tisch. Viele Jahre später. Nicht zwischen Bad Düben und Wittenberg, nun zwischen Havel und Elbe. Immer noch in der gleichen Region, aber in einem anderen Staat nun, ohne dass wir ausgereist wären. Die Absurditäten sind uns treu geblieben ein Leben lang. Christoph wurde auf einer Reise in die USA gefragt, ob es stimme, dass in der DDR gebrauchte Autos teurer waren als neue, worauf er mit hintersinnigem Lächeln dieses Paradoxon bestätigte.Paradox eben, dass er in der DDR nicht sein Abitur machen durfte, weil er ein Pfarrersohn war; paradox, dass ihm das Abitur, das er illegal in Westberlin ablegen wollte, durch den Mauerbau versperrt wurde; paradox, dass er trotz aller Hemmnisse ein erfolgreicher Schriftsteller geworden ist; paradox, dass, als er Intendant des Deutschen Theaters werden sollte, sich die große westdeutsche Kulturmafia organisiert hatte, ihm diesen ostdeutschen Hochmut auszutreiben. Die Absurditäten haben uns die Treue gehalten. Wir sitzen am Tisch, am Rande der Welt, und reden über die Romane, die der Verlag noch nicht kennt. Immer hat Christoph ein Manuskript schon fast fertig. Der Kulturbetrieb mag solch Produktivität nicht.Goethe, Bach und der ZeitgeistEs müssen erst die anderen Bücher verkauft werden. Dass das Leben eine Frist ist, in dem wir mühsam unsere Spuren hinterlassen, wen kümmert es? Christoph schenkte mir eine CD-Box mit Bachs Gesamtwerk. 142 CDs. Jedes Plattenlabel, jeder Verlag wäre wahnsinnig geworden mit solch einem Genie. Christoph schreibt fleißig weiter. Die Moden, der Zeitgeist oder wie auch immer eine abstruse Norm genannt wird – das hat ihn nie interessiert. Ich mag diese kleine Sentenz aus seinem Interview von 1982: „…bereits wenige Jahrzehnte nach Goethes Tod dämmerte im deutschen Theater die Ahnung, daß möglicherweise doch nicht Kotzebue der wichtigste Dramatiker der Goethezeit war. Schon siebzig Jahre nach Büchners Tod werden seine Stücke uraufgeführt. Und Brecht war noch nicht einmal fünf Jahre tot, als er bereits als Talent von den Bühnen entdeckt wurde.“Auch in seinem 80. Lebensjahr schreibt Christoph stoisch wie ein Beamter Tag für Tag. Seit unserem Treffen im Roten Ross sind über 30 Romane, Erzählungen, Novellen, Essays, über 20 Theaterstücke und ungefähr 20 Hörspiele entstanden. Wenn wir uns treffen, gibt es immer einen Grund, meist ein neues Manuskript, stets ein schönes Essen. Wir blicken auf das weite Land, auf die Havel, auf die fernen Lichter. Christoph hat gekocht. Nur wer den Hunger kennt, kocht gut. Krieg und Nachkriegszeit waren gute Lehrmeister. Wenn in Bad Düben an einem Sonntag der Bischof zu Besuch kam ins Pfarrhaus und es einen guten Braten gab, wurden die Kinder, sieben an der Zahl, dazu aufgefordert, dem Gast stets den letzten Bissen zu überlassen. Als das Mahl zu Ende ging und nur noch ein Stück Fleisch auf dem Teller lag, bot der Vater es dem Gast an. Und als der Bischof fragte, ob nicht eines der Kinder daran Interesse habe und alle brav verneinten, griff der Bischof mit den Worten zu: Na, wenn sich keiner findet, dann nehme ich es eben.Placeholder authorbio-1
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