Charkiw Die Kriegsführung soll der Tatsache Rechnung tragen, dem „kollektiven Westen“ gegenüberzustehen, tönt es aus Russland. Wie viel Einfluss hat der Kreml noch auf die Debatte?
Seit russische Truppen fluchtartig ihre Stellungen in der Charkiw-Provinz räumen mussten, ist in Moskau und darüber hinaus eine leidenschaftliche Debatte um den weiteren Kriegsverlauf und die notwendige Strategie entbrannt. Ihr Tenor lässt sich etwa so auf den Punkt bringen: Die horrende Unterschätzung der ukrainischen Armee sollte endgültig aufgegeben werden. Russland müsse sich eingestehen, dass es längst nicht mehr gegen die Ukraine oder die Selenskyj-Regierung allein kämpfe, sondern de facto gegen den „kollektiven Westen.“ Mitte der Woche nun hat Wladimir Putin per Dekret eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Sie betrifft vorrangig Reservisten, die als militärische Spezialkräfte gelten und die in de
der Ukraine stehenden Verbänden verstärken sollen. Tagelang hatte es Mutmaßungen gegeben, ob und wie die Armee aufgestockt wird.Mitte Mai bereits hatte Sergei Kirijenko, stellvertretender Chef der Präsidialadministration, erklärt: „Gegen uns kämpft der vereinigte Westen auf dem Territorium der Ukraine und mit den Händen der Ukrainer“, im Juli stimmte dem Oberst a. D. Alexander Abramenkov in der auflagenstarken MK-Zeitung ausdrücklich zu. Lange wurde über die Seriosität solcher Aussagen gestritten, spätestens seit Charkiw werden sie lauter, weil die Gegenoffensive auch ausreichend visuelles Material dafür geliefert hat. Die westliche Komponente bei diesen Operationen war allgegenwärtig und medial nicht auszublenden. Amerikanische Schützen- und polnische Kampfpanzer rollten über das Schlachtfeld. Deutsche Panzerhaubitzen und französische CAESAR-Systeme nahmen russische Stellungen unter Beschuss. Türkische Bayraktar-Drohnen schlugen ein, HARM-Raketen aus den USA zerstörten russische Flugabwehr. Überdies nahmen westliche Kombattanten – meist als „Ex-Militärs“ bezeichnet – in großer Zahl am ukrainischen Vorstoß teil, wovon zahlreiche Videos zeugen. Nicht zu vergessen: US- und britische Geheimdienste gaben Informationen direkt an ukrainische Stäbe – „zur Identifizierung russischer Schlüsselziele“.Kann Russland trotzdem gewinnen?Westliche Arsenale und Aufklärung haben der Ukraine maßgeblich zum Charkiw-Durchbruch verholfen, eben das wurde in Russland genau registriert. Spätestens jetzt ist der Westen keine „Wirtschaftskriegspartei“ mehr, wie es der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck Ende März formulierte, sondern „unmittelbare Kriegspartei“. Das scheint zum neuen gesellschaftlichen Konsens in Russland geworden zu sein. Daraus resultieren in der Kriegsdebatte zwei entscheidende Fragen: Können wir trotzdem gewinnen? Und wenn ja, muss sich dafür etwas an der Strategie ändern? Auf beide Fragen antworten die Russen mit „Ja“.Gerade weil der Westen nun als der eigentliche Kriegsgegner betrachtet wird, sind Aufgeben und Rückzug kein Thema. Eine mögliche Niederlage gegen den „kollektiven Westen“ wird in Russland – schon aus geschichtlichen Gründen – mit einem vollständigen Untergang gleichgesetzt. Umso kompromissloser stellt sich die russische Gesellschaft auf ein Weiterführen der Kampfhandlungen ein. Die Niederlage in Charkiw sei schmerzhaft, sie habe jedoch unmissverständlich gezeigt, wer als der eigentliche Feind zu betrachten sei, tönen Kriegsreporter unisono. Zwei Dutzend westliche Staaten lieferten schwere Waffen, Tendenz steigend. Washington verabschiede ein Lend-Lease-Programm, das praktisch unbegrenzt Rüstungstransfer ermögliche. Wenn hinter der Ukraine ein geballter externer Rüstungskomplex stehe, könne man auf Dauer in einer solchen Materialschlacht nicht bestehen. Egal, wie viel Militärtechnik vernichtet sei – der Westen werde nachliefern.Wie den Westen in der Ukraine ausschalten?Ausgehend von diesem Fazit verabschiedet sich der Diskurs von der Frage, wie die ukrainische Armee aufzureiben ist, und geht zu der daraus folgenden über: Wie kann der Westen ausgeschaltet werden, genauer gesagt, der Strom an Waffen und „Ex-Militärs“. Direkte Militärschläge gegen westliche Versorgungskolonnen sind ein Tabu. Um den Rüstungstransfer zum Erliegen zu bringen, verlangen Militäranalysten deshalb mehr systematische Angriffe auf die „strategische Infrastruktur“, allen voran auf Brücken über den Dnjepr wie das ukrainische Eisenbahn- und Stromsystem. Dadurch könnte Militärausrüstung kaum mehr von West nach Ost verlegt werden. Eine Zerstörung des Schienennetzes würde außerdem jegliche ukrainische Militärlogistik lähmen.Erste Anzeichen dafür, dass nach dieser Strategie verfahren wird, gibt es bereits. Bis Mitte September kam es zu einer Reihe von Luftangriffen auf Umspann- und Kraftwerke, was zu einem teilweisen Blackout quer durch das ganze Land führte. Die ukrainische Eisenbahn meldete umgehend, dass zahlreiche Züge liegen blieben. Am 14., 15. und 16. September trafen Raketen den Karatschun-Staudamm bei Krywyj Rih, was zu weiteren Stromausfällen und einem massiven Pegel-Anstieg im Inhulez-Fluss führte. Die Wassermassen rissen mehrere Versorgungsbrücken für ukrainische Truppen in der Cherson-Region regelrecht weg. Die Angriffe zwischen dem 11. und 16. September könnten ein Vorgeschmack darauf gewesen sein, wie Russlands Raketenstreitkräfte gegen Nachschublinien in der Ukraine vorzugehen gedenken.Zugleich war nach der Charkiw-Niederlage zu beobachten, dass sich der Kreml in der aufbrandenden Kriegsdebatte zurückhielt, was bis zu Putins Entschluss zur Teilmobilmachung so blieb. Allein die Parteien hielten es mit patriotischen Appellen. Die öffentliche Auseinandersetzung hingegen beherrschten Kriegsreporter, Konfliktbeobachter und medienbekannte Militärs, die hohes Ansehen genießen. Tatarsky, Podolyak, Kots, Poddubny – das sind die Personen, deren Urteil größeres Vertrauen entgegengebracht wird als den Pressemitteilungen der Ministerien. Sie sind es, die für eine härtere Kriegsführung plädieren, nicht etwa Verteidigungsminister Sergei Schoigu oder Generalstabschef Waleri Gerassimow.„Eiserner Dmitri“Der einzige hochrangige Politiker, der im Augenblick medienwirksam eingreift und sich nicht scheut, rabiat zu klingen, ist Ex-Präsident Dmitri Medwedew. Mal schwadroniert er auf seinem Telegram-Kanal über „Angriffe auf Entscheidungszentren außerhalb der Ukraine“, mal droht er mit Ultimaten gegen Kiew. Zuletzt erklärte er, falls sich die Staaten des Westens nicht vor „einem hybriden Krieg der NATO gegen Russland“ hüten, dann „wird ihnen die Erde unter den Füßen brennen und der Beton schmelzen“.Für seine Brachial-Semantik erhielt Medwedew mittlerweile den Beinamen „Zhelezny Dimon“, was sich mit „Eiserner Dmitri“ übersetzen lässt – eine Bezeichnung, die an Britanniens „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher erinnert. Möglicherweise will Medwedew derartige Assoziationen bewusst herbeiführen. Man vermutet, dass er sich damit für 2024 in Stellung bringt – das Jahr, in dem es die nächste Präsidentenwahl geben soll.
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