Frau in Khartoum, der Hauptstadt der Republik Sudan
Foto: Ozan Kose/AFP/Getty Images
Plötzlich taucht auf dem Markt eine Frau auf, die alle Blicke auf sich zieht. Sie will zum Bus, in dem Tambu schon am Fenster sitzt. Aber beim Aufspringen verliert sie den Halt, stürzt auf die Straße. Und ihr hinterher eine Meute, die mit sexistischen Sprüchen und gierigen Händen brutal über die Frau herfällt. Mittendrin die „strahlende Antiheldin“, die schadenfroh mit der Menge lacht, weil das Opfer, mit dem sie unter einem Dach wohnt, den jüngeren und schöneren Körper hat.
Diese erschütternde Szene gehört zu den ersten Eindrücken, die man in Tsitsi Dangarembgas Roman Überleben bekommt. Es ist der dritte Teil einer Trilogie, in der die 1959 geborene Simbabwerin die Situation von Frauen und Mädchen in ein
Mädchen in einer Gesellschaft voller radikaler Brüche und Umwälzungen beschreibt. Ihre Hauptfigur Tambu wächst Anfang der 1970er in einem Dorf auf, erlebt zu Beginn der 1980er das nationale Erwachen, ist in den 1990ern als erwachsene Frau mit den Folgen der postkolonialen Selbstfindung konfrontiert.Der Preis des Aufstiegs ist hochFür dieses Werk erhält Dangarembga am 24. Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Weil sie in ihrem Schreiben soziale und moralische Konfliktlinien aufzeige, „die weit über den regionalen Bezug hinausgehen und Resonanzräume für globale Gerechtigkeitsfragen eröffnen“, heißt es in der Begründung.Im Mittelpunkt des ersten Bandes der Trilogie, bereits 1991 mitreißend von Ilija Trojanow übersetzt und 2019 bei Orlanda neu aufgelegt, stehen Tambu und ihre Cousine Nyasha. Gemeinsam besuchen sie eine Missionsschule. Die Mädchen nutzen ihre Chance auf Bildung, die eigenen Traditionen werden ihnen ausgetrieben. Doris Lessing bejubelte Dangarembgas Debüt aus dem Jahr 1988 als kommenden Klassiker der afrikanischen Literatur. Sie sollte Recht behalten, inzwischen steht Aufbrechen auf der BBC-Liste der „100 Bücher, die die Welt geprägt haben“.Der Fortsetzungsband The Book of Not erschien 2006. Darin taucht man noch einmal in Tambus Jugend ein und erfährt, was es heißt, als Schwarzes Mädchen in einem rassistisch geprägten Land aufzuwachsen. Während dieser Roman weitgehend unbeachtet und in Deutschland gar unveröffentlicht blieb, erhielt der Abschluss der Trilogie wieder viel Anerkennung, kam 2020 auf die Shortlist des renommierten Booker Prize. Dieser Erfolg erklärt, warum mit Überleben nun zunächst der meisterhafte Schlusspunkt der Reihe in der kraftvollen Übersetzung von Anette Grube erschienen ist und der mittlere Teil erst im Herbst 2022 erscheint. Ideal ist das nicht, denn aus der hoffnungsvollen Hauptfigur in Aufbrechen ist im Roman Überleben eine verbitterte Frau geworden, die in Simbabwes Hauptstadt mit existenziellen Nöten ringt. Nachdem sie ihren Job bei einer Werbeagentur gekündigt hat, wo sich die weißen Kolleg:innen mit ihren Ideen geschmückt haben, findet sie sich in einem schäbigen Zimmer am Stadtrand wieder. „Du machst dir Sorgen, dass du anfangen wirst, daran zu denken, allem ein Ende zu setzen, da du nichts hast, für das du lebst: kein Zuhause, keine Arbeit, keine stützenden Familienbande“, heißt es am Ende des ersten Teils.Es folgt ein Zustand in der Schwebe. Als Aushilfslehrerin fängt sie in einer Schule an. Dort kommt es zu einem Zwischenfall, der Tambu erst in die Psychiatrie und dann in den Haushalt ihrer Cousine Nyasha bringt. Nyasha ist die Lichtfigur in diesem Roman. In Workshops versucht sie, Frauen darin zu bestärken, ihren eigenen Weg zu gehen. Fortan geht es aufwärts, aber der Preis dieses Aufstiegs ist hoch. Und konfrontiert Tambu mit Fragen ihrer Identität.Überleben wird anders als seine Vorläufer nicht in der ersten Person, sondern in der Du-Form erzählt. So liest sich diese Selbstsuche wie eine permanente Konfrontation mit dem eigenen Versagen. Kaum auszuhalten, wenn diese Selbstkasteiung in Zynismus und Gewaltbereitschaft gegenüber anderen umschlägt. Tambu ist nicht nur Opfer der Verhältnisse, sie ist auch Täterin.Entlang dieser existenziellen Suche sind auch die Schauplätze (Dorf , Schule, Stadt), Themen (Armut, Rassismus, Frauen) und die Kampffelder (Klasse, Hautfarbe, Gender) angeordnet. Der Blick auf die Originaltitel offenbart noch mehr. Nervous Conditions, The Book of Not, This Mournable Body erzählen von den psychischen Deformationen (des Rassismus), auf die Sartre in seinem Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialem Klassiker Die Verdammten dieser Erde hinwies, bis hin zur Bedrohung des Körpers, über die Teju Cole in seinem Essay Unmournable Bodies schrieb. Dieses Phänomen beschreibt die studierte Psychologin und Frauenrechtlerin Dangarembga (Lesen Sie auch das Porträt auf Seite 2) am Beispiel ihrer weiblichen Figuren.Die Angst, „nicht ausreichend Fortschritte hin zu Sicherheit und einem anständigen Leben“ gemacht zu haben, treibt viele Frauen in diesem Roman um. Ihr Kampf um ein würdevolles Dasein ist einer gegen die physische Unversehrtheit. Denn Männer „wollen nur ein Stück Fleisch, mehr nicht“. Deren brutale Übergriffe in der Öffentlichkeit oder in den eigenen vier Wänden sind nur die offensichtlichsten Bedrohungen, denen Frauen ausgesetzt sind. Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Ausbeutung wirken subtiler, aber nicht weniger verheerend. Indem Dangarembga in allen Nuancen abbildet, wie gesellschaftliche Verteilungskämpfe auf dem Rücken von Frauen ausgetragen werden, wirft sie ein Schlaglicht auf deren Situation – in Simbabwe und andernorts.Es gebe zwei Gründe, an dieser Welt zu leiden, sagt Tambus Mutter in Aufbrechen: „einerseits das Elend, eine Schwarze zu sein, andererseits die Bürde, eine Frau zu sein“. Die diesjährige Friedenspreisträgerin erzählt eindrücklich davon.Placeholder infobox-1
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