„Eine Frage der Würde – Blaga's Lesson“: Im Treibsand der neuen Zeit
Bulgarien Das Ergebnis ökonomischer und gesellschaftlicher Missstände: In Stephan Komandarevs neuestem Film verliert eine Rentnerin durch einen Betrug all ihr Erspartes – und wird selbst kriminell
Das Alte ist am Ende, das Neue aber auch nur individualisierter: Blaga (Eli Skortschewa) erklimmt das Denkmal „1.300 Jahre Bulgarien“
Foto: Svetolav Stoyanov
Zentral gelegen, Südlage, im Sommer kühl, im Winter ruhig. Was im filmischen Voiceover nach einem Glücksfall für ein Wohngrundstück klingt, entpuppt sich nach der Aufblende als verwitterte Grabstätte. Die 70-jährige Blaga (Eli Skortschewa) hat gerade ihren Mann verloren. Mit dem Friedhofsverwalter will sie Details der Beerdigung besprechen und erhält dabei einen unfreiwilligen Grundkurs über die Folgen marktwirtschaftlicher Exzesse in Bulgarien. Wie ein schmieriger Makler bewirbt der Angestellte die letzte Ruhestätte als exklusives Angebot, natürlich unter der Hand. Buchstaben aus Metall will er nicht empfehlen, sie würden ohnehin geklaut. Ein roter Stern auf dem Grabstein ist vom Gesetz her verboten. Ihr Mann, als ehemaliger Poli
olizist und treuer Kommunist, hätte es wohl so gewollt. Für einen kleinen Aufpreis kann es zumindest ein schwarzer werden. Blaga dagegen bleibt beim traditionellen Kreuz. Für sie ist wichtig, dass die Urne, gemäß christlich-orthodoxer Konvention, innerhalb von 40 Tagen bestattet wird, was natürlich extra kostet.Durch subtile Wortwechsel verdichtet sich in nur wenigen Minuten die Lebensrealität eines ganzen Landes. Blaga, eine gepflegt wirkende Dame mit strenger Hochsteckfrisur, hat einst bulgarische Literatur studiert und war bis zu ihrer Pensionierung Lehrerin. Heute gibt sie einer jungen Geflüchteten (Rozalia Abgarian) Sprachunterricht, um ihre Rente aufzubessern. Penibel korrigiert sie auch im Alltag ständig die Aussprachefehler ihres jeweiligen Gegenübers.Als sie zu Hause einen Anruf bekommt und sich jemand als ein Kommissar der Polizei meldet, folgt sie reflexartig der vermeintlichen Autorität. Der Block sei umstellt, behauptet er, um Telefonbetrüger auf frischer Tat zu ertappen. Eingeschüchtert folgt Blaga der absurden Aufforderung, ihr ganzes Bargeld, samt Ehering, in einer Plastiktüte vom Balkon zu werfen. Erst als sie kurze Zeit später auf dem Präsidium erscheint, um ihre Wertgegenstände zurückzubekommen, realisiert sie, dass sie Opfer eines Betrugsszenarios geworden ist.Die Ersparnisse eines ganzen Lebens, die sie, wie viele andere Betroffene auch, aus Misstrauen nicht zur Bank gebracht hat, sind verloren. Kulanz kann sie nicht einmal vom Friedhof erwarten. Man droht ihr, den Platz der Grabstätte anderweitig zu vergeben, wenn sie keine Anzahlung leistet.Wozu noch Regeln folgen?Der 57-jährige Stephan Komandarev gehört zu den interessantesten Stimmen des zeitgenössischen bulgarischen Kinos. Bekannt wurde er hierzulande 1996 mit Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, einer Adaption des Romandebüts von Ilija Trojanow. Eine Frage der Würde bildet den letzten Teil einer losen Trilogie Komandarevs, die sich eindringlich mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Missständen seines Heimatlandes auseinandersetzt. Obgleich die Inszenierung ästhetisch dem Sozialen Realismus verpflichtet bleibt, entfaltet sie, durch das charismatische Spiel der Protagonistin, durchweg eine beklemmende Spannung.Blaga versucht auf ehrlichem Wege an Geld zu kommen, um das Grab rechtzeitig bezahlen zu können. Aber potenzielle Arbeitgeber legen auf, wenn sie am Telefon ihr Alter erwähnt, selbst wenn es um einen Putzjob geht. Von der Bank wird sie als kreditunwürdig eingestuft. Nicht einmal die Eigentumswohnung im Plattenbau gilt als Sicherheit, angesichts des Wohnungsleerstands in der bulgarischen Provinz. Blagas Sohn hat das Land verlassen und schuftet jetzt als Fahrer irgendwo in den USA auf Niedriglohnniveau. Dass seine Mutter nicht einfach eine billige Urnennische für das Begräbnis akzeptiert, kann er nicht nachvollziehen. Doch Blagas traditionelle Mentalität erlaubt es nicht, ihrem Mann die letzte Ehre zu verweigern. Wäre er noch da gewesen, so sagt sie einmal, wäre all das nicht passiert. Sie habe immer die Regeln befolgt, fährt sie fort, zahle ihre Telefonrechnungen pünktlich, tue, was von ihr erwartet werde. Aber wozu? Diese offene Frage hallt durch den Film lange nach.Regisseur Stephan Komandarev fängt Gefühl der sozialen Kälte einDie Einführung der Marktwirtschaft, und der Beitritt zur EU vor bald 20 Jahren haben ihre Versprechen nicht eingelöst. Korruption und Kleinkriminalität dominieren in vielen Lebensbereichen den Alltag. Dass Blaga selbst in ihren Treibsand gerät und schließlich selbst kriminell wird, hat eine brutale Unausweichlichkeit.Eindrücklich lässt Eli Skortschewa mit den Nuancen ihrer Mimik Verhärtungen der Figur aufbrechen, um sie im Laufe des Films durch neue zu ersetzen. Die bürgerliche Fassade der strengen Lehrerin, die abends zum Bach-Konzert geht, fällt mit dem Raub und der sozialen Beschämung durch eine sensationsgierige Klatschpresse in sich zusammen. Doch die sich daraus ergebende Verletzlichkeit wird von keiner Solidarität mehr aufgefangen. Eine traditionalistische Kultur mit all ihren Defiziten ist am Ende. Aber die neue Zeit ist nicht weniger gewaltvoll, nur entgrenzter und individualisierter.Da Unterstützung durch die Institutionen kaum mehr erwartet wird, bricht sich eine soziale Kälte Bahn, in der jeder sich selbst der Nächste ist, um zu überleben. Komandarev findet für dieses Gefühl immer wieder Szenen, welche die meist dialogisch geprägte Handlung punktieren. Dann sieht man Blaga aus der Vogelperspektive im Schnee allein einen leeren Platz überqueren, dessen überdimensionierte sozialistische Architektur die zierliche Frau fast verschluckt. Noch deutlicher wird dieses Bild bei ihrem eisernen Erklimmen einer endlos wirkenden Betontreppe, die Blaga gegen Ende des Films auf das Denkmal „1.300 Jahre Bulgarien“ führen wird. 1981 noch während des Kommunismus zum Jubiläum an die Staatsgründung erbaut, überragt es die Stadt Schumen als größtes Monument auf dem ganzen Balkan. Komandarev lässt Blagas moralischen Abstieg und das Ankommen auf der steinernen Manifestation der bulgarischen Nation zeitlich zusammenfallen. Zugleich zeigt sich, dass es dabei nicht um individuelle Schuld, sondern ein kollektives Versagen geht.Eingebetteter Medieninhalt
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