Eine kalte Umarmung

Ortstermin In Brandenburg gibt sich Kanzlerkandidat Olaf Scholz „ehrlich berührt“ von aktuellen Umfragen
Ausgabe 32/2021
Der Vizekanzler zu Besuch in der Kulturscheune in Ferch, am Schwielowsee, bei Potsdam, in Brandenburg, unweit von Berlin
Der Vizekanzler zu Besuch in der Kulturscheune in Ferch, am Schwielowsee, bei Potsdam, in Brandenburg, unweit von Berlin

Foto: Photothek/IMAGO

Es wundert sich der Korrespondent einer französischen Tageszeitung: „Hier tritt gleich der Kanzlerkandidat auf?“ Ja, allerdings, tut er: in der Kulturscheune Ferch, am Schwielowsee, südlich von Potsdam. Etwa 40 Menschen warten in der Scheune, dazu noch einige mehr draußen auf Holzbänken. Es ist ein kleiner Bahnhof für einen Mann mit großen Ambitionen.

Dann kommt Olaf Scholz, steht zwischen zwei Plakaten, die natürlich ihn selbst zeigen. Es folgt ein heiterer Moment, als die Moderatorin vor lauter Nervosität nicht weiß, wie sie Scholz vorstellen soll. Jemand aus dem Publikum ruft: „Der kommende Kanzler!“ Applaus. Dann wird es ernst.

Scholz’ Bürgerdialog an diesem verregneten Sommerabend enthält alles, was den Sozialdemokraten auszeichnet. Wenn man über einen Tennisspieler sagt, er habe eine gute Technik, so mag dasselbe auch für den Politiker Scholz gelten. Sein schwarzer Anzug sitzt, dass Heiko Maas neidisch werden könnte. Er spricht akzentuiert, ohne je jemanden anzugreifen oder zu vergrätzen. Er sei stolz, sagt er, auf seine Rolle bei der kürzlich beschlossenen globalen Mindestbesteuerung von Unternehmen und darauf, dass ihn die Umfragen gerade zum am wenigsten unbeliebten Kandidaten fürs Kanzleramt ausweisen: „Ich will ehrlich sagen, dass ich davon berührt bin.“ So sagt er es, ganz ungerührt.

Scholz ist oft genug als „rote Merkel“ bezeichnet worden. In der Tat: Das verschmitzte Lächeln, die unaufgeregte Geradlinigkeit, die Fähigkeit, sich immer so zu drehen, dass aufkommender Wind vorbeipfeift, all das kann er. Aus internetfähigen Endgeräten, auf Englisch devices, werden bei Scholz „Deweißes“. Internet als Neuland, hier am Schwielowsee wirkt das nicht unsympathisch. Weil in der Kulturscheune aber keine politischen Gegner zugegen sind, niemand, der strategisch demobilisiert werden müsste, bleibt Scholz’ Annäherung ans Wahlvolk eine kalte Umarmung.

Seine schwächste Antwort ist die auf die Frage einer Schülerin nach der Notwendigkeit von Waffenexporten. Es gebe halt eine Bundeswehr, also müsse es auch eine Rüstungsindustrie geben, und seinen Freunden könne man ja nichts verwehren, also auch keine Waffen. So ähnlich schwurbelt Olaf Scholz sich das zurecht. Was bei der Schülerin sichtbar als Antwort ankommt: Alles ist so, weil es so ist, und deshalb wird es auch so bleiben. Ist halt so.

In Potsdam hat es Scholz oft nicht leicht. Erst der Ärger um seine Personenschützer, von denen sich seine Nachbarn gegängelt fühlen, dann die Pandemie, die seine über die Marktplätze der Region geplante Annäherung ans Wahlvolk verhindert hat. Aber er bleibt ruhig. An diesem Tag besucht er vor der Kulturscheune einen lokalen Sportverein, vertilgt dort unfallfrei eine Wurst, muss nur einmal einen Buhruf aushalten, wird von einem Kind schon als Kanzler betitelt. Dazu entlastet ihn im fernen Hamburg eine wichtige Zeugin in der Cum-Ex-Affäre, auch steigt sein Beliebtheitsvorsprung gegenüber der derangierten Konkurrenz. Das Momentum ist auf seiner Seite.

Einmal sagt Scholz in der Kulturscheune, dass die Union sich „mal in der Opposition erholen“ sollte. Zusätzlich erwähnt er mehrere Debatten, ob ums Klima oder um Steuern, bei denen er ja mehr gewollt hätte, aber von seinem Koalitionspartner ausgebremst worden sei. Er wirkt ein bisschen wie eine Ehefrau, die das verstockte Leben der vergangenen Jahrzehnte ausschließlich ihrem Gatten anlastet, zu dem sie aber in ebendiesen Jahrzehnten eisern gehalten hat. Je länger und unfallfreier Scholz spricht, desto dunkler wird die Wolke über seinem Kopf. Vielleicht sollte sich auch die Sozialdemokratie mal in der Opposition erholen.

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