EU-Korruption? Beim Geld hört der Spaß auf, auch für Satiriker Nico Semsrott
Interview Nico Semsrott, Abgeordneter in Straßburg und Brüssel, verzweifelt am real existierenden Europa – und will doch aufklären. Ein unlustiges Gespräch über legalisierte Bestechung, Interessenkonflikte und den Sieg von Privilegien über Vernunft
Der Noch-Abgeordnete Nico Semsrott macht bei der Debatte vor der Wahl der EU-Kommissionsspitze im Europäischen Parlament auf die Berater-Affinität Ursula von der Leyens aufmerksam.
Genevieve Engel / European Union
Nico Semsrott ist Abgeordneter im EU-Parlament. Er freut sich, wenn seine fünfjährige Amtszeit mit den Europawahlen im Juni endlich endet. Wie schrecklich er seinen Job als Politiker fand, hat er in seinem neuen Buch „Brüssel sehen und sterben – Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe“ festgehalten. Damit ist er nun auf Lesetour. Was alles schief läuft in der EU-Politik, erzählt er auch hier.
der Freitag: Vor fünf Jahren wurden Sie als Satiriker ins Europaparlament gewählt und wollten Bürger*innen mit lustigen Internetvideos die EU erklären. In Ihrem gerade erschienenen Buch beschreiben Sie das EU-Parlament als wirkungslos. Kandidieren wollen Sie auf keinen Fall wieder. Was lief so anders in Br
l wieder. Was lief so anders in Brüssel, als erwartet?Nico Semsrott: Das EU-Parlament wird zu Recht ignoriert. Weil es selbst keine Gesetze vorschlagen darf und da auf die EU-Kommission hoffen muss. Ich wusste das natürlich vorher. Aber es fühlt sich dann doch absurd an, wenn man fünf Jahre immer wieder die gleichen Erfahrungen macht. Beispielsweise über das Ende des Verbrennungsmotors im Parlament zu entscheiden, und dann stellt sich die FDP quer und deswegen blockiert Deutschland in der anderen Institution, im Rat, das Ganze. Und man denkt sich, „aber wofür haben wir denn dann überhaupt abgestimmt?“Sie kritisieren, dass Abgeordnete sich ihr ohnehin gutes Einkommen mit Nebentätigkeiten und unkontrollierten Dienstreise-Abrechnungen erhöhen können. Für Dienstreisen unter 800 Kilometern Entfernung müssen keine Belege eingereicht werden, die Erstattung bekommt man trotzdem. Ist Ihre Schlussfolgerung wirklich, dass sich die Abgeordneten möglichst viel die Taschen vollmachen?Es ist kompletter Unsinn, dass wir aus angeblich bürokratischen Gründen keine Belege zur Erstattung der Reisekosten einreichen müssen. Das ist gelogen. Die Abgeordneten wollen sich die Taschen vollmachen. Vor allem die Konservativen, die diese Regeln in diesem Parlament maßgeblich bestimmen.„Ich bin davon überzeugt, dass es hier viel Korruption gibt, weil es hier um sehr viel geht. Und es gibt einfach Unmengen an Möglichkeiten, mehr Geld zu verdienen“Warum bestimmen die Konservativen maßgeblich die Regeln?Die Konservativen stellen seit 1999 die größte Fraktion. Das bedeutet im EU-Parlament, dass sie bei allen Posten das erste Zugriffsrecht haben. Alle Spitzenposten werden nach Parteibüchern vergeben. Momentan bilden die Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen im Parlament oft Mehrheiten, sodass bei Ermessensspielräumen im Sinne dieser drei Parteien entschieden wird. Und fehlende Kontrollen bedeuten, wir wollen Missbrauch von Geldern ermöglichen.Das ist ein harter Vorwurf, dass Leute im EU-Parlament aktiv den Missbrauch von Geldern ermöglichen wollen.Ja klar. Möchte man Interessenkonflikte und Korruption bekämpfen, würde man einführen, dass Vermögen offengelegt und die Steuererklärung veröffentlicht werden muss.Nach dem Korruptionsskandal rund um den Ex-Europaparlamentarier Pier Antonio Panzeri, der Gelder aus Katar zur Beeinflussung der EU-Politik bekommen haben soll, hat das Europaparlament kleine Reformen verabschiedet. Ein unabhängiges Ethikgremium soll Abgeordnete auf Interessenkonflikte überprüfen können. Wird das etwas ändern?Das ist genau der gleiche Bullshit wie vorher. Weil das Gremium nur Empfehlungen geben wird und es nicht selbst sanktionieren darf. Und das wiederum kann es nicht, weil die Abgeordneten diese Macht nicht abgeben. Dieses freie Abgeordneten-Mandat steht einfach über allem. Außerdem gibt es schon Kontrollinstanzen wie die Antikorruptions-Behörde OLAF, den Europäischen Rechnungshof, die Bürgerbeauftragte der EU, den internen Beratenden Ausschuss für die Einhaltung des Verhaltenskodex und die Europäische Staatsanwaltschaft.Der Korruptionsskandal hat Sie wohl nicht überrascht?Überhaupt nicht. Ich bin davon überzeugt, dass es hier viel Korruption gibt, weil es hier um sehr viel geht. Und es gibt einfach Unmengen an Möglichkeiten, mehr Geld zu verdienen. Es gibt diese im Grunde legalisierte Form von Bestechung. Wenn man nebenher Unternehmensberater*in ist oder als Rechtsanwalt/Rechtsanwältin in einer Kanzlei als Zuarbeiter*in beteiligt, Of Counsel heißt das. Die Ko-Vorsitzende der CDU/CSU im EU-Parlament, Angelika Niebler, ist bei einer Kanzlei als Of Counsel beteiligt und Präsidentin des CSU-Wirtschaftsbeirats. Sie ist genau an der Schnittstelle von Leuten in der Wirtschaft mit CSU-Parteibuch und den Abgeordneten. Sie ist der gelebte Interessenkonflikt.Neben laxen Regeln bei Nebeneinkünften beschreiben Sie in Ihrem Buch, wie Sie scheitern, mit einer Late Night Show die Brüsseler Politik auf ansprechende Weise normalen Leuten zu erklären. Warum ist es so schwer, die EU unterhaltsam zu beschreiben?Das liegt an der Anonymität der Akteur*innen hier. Meine Besuchsgruppen fragte ich immer, wer Manfred Weber ist. Es gab nie auch nur zehn Prozent, die das beantworten konnten. Das heißt, den Vorsitzenden der größten Fraktion, der EVP, und einer der mächtigsten Menschen hier drin, kennen die Leute schon nicht. Das ist Symptom dafür, dass dieser ganze Gesetzgebungsprozess zu kompliziert ist. Und egal welche Pointe ich versuche, ich muss zehn Minuten vorher erklären, worum es geht. Witze funktionieren nur über dieses „Kennste“-Prinzip. Ich muss mich mit etwas identifizieren.Was Sie jetzt kennen, ist eine Welt von einflussreichen Menschen in der Politik. Sie haben neben ihnen im Plenarsaal gesessen oder sind ihnen auf Häppchen-Events begegnet. Wie hat sich das angefühlt für Sie als Quereinsteiger?Ich fühle mich eigentlich die ganze Zeit hier fremd. Aber ich weiß nicht genau, ob das mit Privilegien zu tun hat, oder eher mit der jeweiligen Kultur. Eine Funktionärskultur ist eine andere als der Kleinkunstbereich, aus dem ich als Satiriker komme.Was meinen Sie mit Funktionärskultur?Jemand, der hier nach 20 Jahren Parteikarriere ankommt, hat gelernt, zu Vielem ja zu sagen. Es ist zermürbend, Jahre in irgendwelche Gesetzesvorhaben zu investieren. Und ich habe bei Poetry Slams für sehr wenig Leistung sehr viel gutes Gefühl bekommen.„Ich versuche, auf etwas hinzuweisen und dann löst es irgendwas aus. Das ist das Gegenteil von dem, was ich hier im Apparat erlebt habe“Ihnen hat an dem Job am besten gefallen, Besucher*innengruppen das Parlament zu zeigen. Warum?Weil es da eine ehrliche politische Debatte gibt. Sie sind verwirrt, ich bin es auch, und das ist sehr nah an meiner Kunst. Ich versuche, auf etwas hinzuweisen und dann löst es irgendwas aus. Das ist das Gegenteil von dem, was ich hier in diesem Apparat erlebt habe. Ich mache irgendwas und dann gibt es vielleicht ein bisschen Berichterstattung, aber mehr nicht. Also ich sehe hier drin dann keine Veränderung, und das hasse ich.Sie sehen keine Veränderung, aber gleichzeitig waren Sie nicht sehr aktiv im Parlamentsbetrieb: Keine Dossiers, die Sie als Verhandlungsführer für das EU-Parlament begleitet haben, in fünf Jahren vier Reden gehalten, zwei schriftliche Anfragen an die EU-Kommission, zwei Treffen mit Vertreter*innen jeweils einer NGO und eines Verbands. Bei den Abstimmungen in Straßburg über neue Gesetze sind Sie aber regelmäßig dabei.Ja, so gut wie immer.Warum die Abstimmungen in Straßburg und der Rest nicht?Weil das mein Auftrag ist, die Wähler*innenstimmen direkt in Gesetze zu übersetzen. Bei allem anderen war für mich klar, dass ich das nicht mache. Sondern dass ich als PARTEI-Abgeordneter ins Parlament komme, um die Werkzeuge Satire, Öffentlichkeit, Reichweite zu benutzen und Transparenz reinzubringen. Man kann das kritisieren. Aber die 900.000 Wähler*innen, die Martin Sonneborn und mich hierher geschickt haben, können sich, was das angeht, nicht beschweren. Viele sagen eher, scheiße, dass du aus der PARTEI ausgetreten bist.Im Januar 2021 haben Sie die PARTEI verlassen, weil Sie den Umgang von Parteichef und Parlamentskollege Martin Sonneborn mit Rassismusvorwürfen falsch fanden. Wie ist Ihr Verhältnis jetzt?Wir grüßen uns freundlich. Unsere Büros sind auch noch in Kontakt. Ansonsten sehe ich das so, dass dieses Spannungsfeld grundsätzlich eben schwer ist zwischen Satire, also der Kritikerrolle, und Akteur sein. Und als Abgeordnete sind wir Akteure. Aus meiner Sicht gehört zum Abgeordneten-Dasein eben Macht dazu, und deswegen müssen wir uns verantworten.Haben Sie darüber noch einmal diskutiert nach Ihrem Austritt?Nein. Für mich ist das Thema eigentlich gar nicht so groß.„Das Mindeste ist, Leuten im Parlament, die etwas bewegen wollen, so viel Unterstützung wie möglich zu schicken“So demotiviert wie Sie von der EU sind, soll man am 9. Juni bei den Europawahlen wählen gehen? Ja, auf jeden Fall.Obwohl in der EU-Politik in Ihren Augen so viel schief läuft.Gerade deshalb. Die Situation sieht mega beschissen aus aus einer linken, progressiven Sicht. Das Mindeste ist, Leuten im Parlament, die etwas bewegen wollen, so viel Unterstützung wie möglich zu schicken. Damit sie einen noch schlimmeren Rechtsruck verhindern. Ich gehöre hier nicht hin, das habe ich gelernt. Andere gehören hier aber hin und können das auch. Und gerade die brauchen Unterstützung.Sie sagen, Sie gehören nicht ins EU-Parlament. Wie wird es also für Sie weiter gehen?Ich mache erst einmal Pause. Ich lege mich erst einmal schlafen. Ich muss mal gucken, wie sich das alles am Ende dann so anfühlt. Aber meine ganz große Sehnsucht ist erst einmal, nichts zu tun zu haben. Und extra in eine Art Loch zu fallen.Diesmal wollen Sie in ein Loch fallen? In Ihrem Buch berichten Sie von depressiven Phasen, während denen es Ihnen schlecht geht und Sie nicht aus dem Bett kommen …Vielleicht habe ich das mit dem Loch zu fahrlässig gesagt. Ich meine, keine konkrete Aufgabe zu haben. Und zu schauen, was da eigentlich bei mir übrig ist, wenn ich nicht das Amt habe und nicht die Promi-Comedian-Rolle. Was ist eigentlich da, wenn ich keinen Druck habe? Da bin ich nach 15 oder 20 Jahren echt gespannt drauf. Das würde ich gerne ausprobieren. Und ich bin gerade in dieser extrem privilegierten Lage, dass ich mir das für ein Jahr auch ganz gut mal leisten kann.Das klingt nach starker Selbstfindungs-Phase. Und als ob Sie erst einmal nicht mehr als Comedian arbeiten wollen.Ich will es nicht ausschließen. Aber momentan habe ich nicht den Plan, aus dieser Aufmerksamkeit, die ich jetzt gerade nochmal mit dem Buch und meiner Lesetour bekomme, mehr zu machen. Sondern ich will bei den Europawahlen die CDU/CSU so viele Stimmen kosten wie möglich. Weil die hier das Sagen haben. Minus ein Prozent sind mein Ziel. Das ist ehrgeizig, aber irgendwie auch realistisch.Und wie?Indem ich möglichst viele Interviews gebe und die Menschen informiere, wie die das hier alles konstruieren. Ich habe hier fünf Jahre zugeschaut, ich habe noch ein paar Sachen, die auf einem sehr nachvollziehbaren Niveau die Leute berühren können.Was Sie auf der Bühne machen, soll ja bestenfalls witzig sein. Wie lustig kann man noch sein nach fünf Jahren im politischen Brüssel?Ich bin total unlustig geworden. Ich glaube auch, dass ich nur noch das Ziel haben kann, dass es einigermaßen interessant ist. Bei Ihren Videos versuchen Sie trotzdem noch, dass es witzig ist. Oder denken Sie schon gar nicht mehr, das wird jemand lustig finden?Mein Kriterium ist nur noch, ob ich das selbst interessant finde. Und gar nicht mehr, dass das Lacher erzeugt. So geht es mir auch bei der Bühnenshow, mit der ich gerade unterwegs bin.Ihnen geht es nur um Aufklärung?Ja, und darum, eine gute, nachvollziehbare und möglichst korrekte Geschichte zu erzählen.
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